06.04.2020, 14:42
Das Ende
Der tote Scortias in Skadis Armen war ein Schock. Elian nahm ihr das Kind ab, während Gregory sich um die Verletzten kümmerte, suchte verzweifelt nach Lebenszeichen oder einer Art, wie er ihm noch helfen könnte, aber da war nichts mehr zu machen. Seine Augen brannten. Elian blinzelte die Tränen weg. Er hatte bereits tote Kinder gesehen. Sie hatten mehr als nur dieses Problem. Trauer würde später kommen. Später kommen müssen. Er war nützlicher für die Lebenden, wenn er sich zusammenriss.
Hast an Deck. Befehle wurden gebrüllt, Taue gelöst. Elian hatte sich inmitten des Chaos den Weg zu Lucien gebahnt und redete auf ihn ein, nicht sicher, ob der Kapitän ihn überhaupt hörte.
„Nein, wir können nicht einfach ablegen! Taranis und Aspen feh--“
Ein Ruf aus dem Krähennest unterbrach seinen Protest. Alle an Bord fuhren herum, starrten an den Kai. Elian rannte an die Reling, kaum dass er die zwei Gestalten erblickte. Ihre Gesichter lösten sich aus dem Rauch und sein Herz blieb für einen Moment stehen und schlug dann umso schneller, voll Dankbarkeit. Sein Bruder. Sein Geliebter.
„TANIS! ASP---“
Der Ruf, mit dem er sie anfeuern wollte, ging in einer Salve Schüsse unter. Das Schiff setzte sich in Bewegung, schleppend zunächst, während Elian mit dem Oberkörper über der Brüstung hing, das Netz bereits in Händen, um die beiden Nachzügler zu bergen.
Er erwartete halb, den Schmerz am eigenen Körper zu spüren, als die zweite Salve in die Fliehenden einschlug. Aber da war nichts, kein Schmerz, nur aufwallende Übelkeit. Er versuchte, sich über die Reling zu werfen, an Land zu schwimmen, zu den beiden, zu seiner Familie, seiner Zukunft, aber irgendwer hielt ihn fest, zog ihn nach unten, nahm ihm den Blick auf das, was am Ufer geschah. Elian schlug um sich, kämpfte gegen rettende Hände an, unsinnig, getrieben von der Kraft der Verzweiflung, weit über den Punkt hinaus, an dem alles in einem roten Nebel ertrunken war.
Dann war es vorbei. Der Wind fasste das Segel, trug sie fort von dem Lärm, den Schreien. Die Lichter der Insel verschwanden hinter ihnen in der Nacht. Elians Hals schmerzte, seine Stimme heiser, sein Körper ausgelaugt wie nach einem harten Arbeitstag. Hatte er geschrien? Geweint? Jemanden verletzt? Seine Augen waren trocken und seine Finger frei von Blut, als er gegen die Reling sackte, ähnlich wie die beiden Gestalten am Ufer, die er wieder und wieder vor seinem inneren Auge sah.
Der Nebel
Er verlor das Gefühl für Zeit danach. Er verlor so Einiges. Hatte so einiges verloren.
Die Welt zog weiter, und er bewegte sich mit ihr mit wie ein Schlafwandler. Manchmal drangen Stimmen zu ihm durch, undeutlich. Er tat was sie sagten, befolgte Befehle. Er aß, wenn jemand ihm Essen hinstellte. Er trank, wenn jemand ihm einen Becher Wasser gab. Er verbrachte die Momente, in denen er nicht zur Schicht eingeteilt war, in einem Zustand aus Dämmern und Wachen. Er funktionierte. Irgendwie. Sein Körper machte weiter. Seine Muskeln spannten sich an, erschlafften, wurden müde und hatten am Morgen neue Kraft, unklar woher. Es fühlte sich nicht an wie Leben. Manchmal erschreckte er sich selbst mit einem Atemzug oder einem Herzklopfen, nur um dann wieder im Nebel zu versinken.
Tage später hielten sie in einem neuen Hafen. Neue Schüsse fielen. Irgendwelche Leute kamen panisch wieder. Elian hob den Kopf, aber die beiden, auf die er insgeheim hoffte, waren nicht darunter.
Er machte weiter. Atmen. Arbeiten. Essen. Trinken. Keine Worte. Es war zu lange her, dass in seinem Kopf Stille geherrscht hatte.
Er versagte weiterhin beim Schlafen, aber das machte nichts. Nichts machte irgendwas. Die Welt zog immer weiter an ihm vorbei, und er stand mitten darin wie ein Gebäude, in dem alle Lichter ausgegangen waren. Er existierte. Das allein war schon zu viel.
Der Anfang
Elian bekam den Landgang und den Wechsel in der Szenerie nur am Rande mit. Aus einem Schiff wurde ein Bordell. Jemand führte ihn zu einem Bottich, also wusch er sich. Aß irgendetwas. Lag auf einem Bett, das jemand gerichtet hatte, und starrte eine Wand an, hinter der das Schlaflied der Wellen fehlte. Er drehte der ungefälligen Wand den Rücken zu. Von unten erklang fröhliche Musik, Gelächter, sogar Jauchzen. Sein Geigenkoffer grinste ihn an, als würde er ihn verspotten. Elian ignorierte ihn, setzte sich abrupt auf, schlüpfte in Kleidung und Stiefel, nahm sich seine Arzttasche und ging nach unten. Ihm war nicht nach Frohsinn oder Gesellschaft. Aber das hier war, was Taranis von ihm erwartet hätte. Also.
Unten war das Abendgeschäft im vollen Gange. Elian wich einigen interessiert aussehenden, leicht bekleideten Damen aus und suchte sich die Dame des Hauses. Ihren Namen hatte er schon wieder vergessen, aber als er sie um ein Gespräch unter vier Augen bat, war sie gern dazu bereit.
„Sind Sie auf der Suche nach etwas Bestimmten, junger Herr?“
Elian schüttelte den Kopf. „Nichts für ungut, Madame, aber ich habe kein Interesse an irgendwas, das Sie hier feilbieten.“
„Womit kann ich dann helfen?“ Da war eine Ungeduld in ihrer Stimme, wie in so vielen Stimmen dieser Tage. Vermutlich kam nicht nur die Welt ihm zu langsam vor, sondern auch er der Welt.
„Ich bin Arzt. Ich hatte eine Abmachung mit dem Inhaber der Roten Laterne, auf Esmacil.“ Elian öffnete seine Tasche, zeigte ihr den Inhalt. „Er hat mir den Gefallen getan, meine Kameraden davon zu überzeugen, dass ich regulärer Kunde bin. Im Gegenzug habe ich seine Angestellten behandelt. Schwangerschaften, Geburten, Krankheiten, was auch immer. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen dasselbe Geschäft anbieten.“
Sie öffnete den Mund, plötzlich begreifend. „Sie meinen… damit Ihre Kameraden nicht merken dass… Wissen Sie, wir haben für etwas mehr Geld auch männl---“
Er winkte ab. Der bloße Gedanke daran war… nein. „Es ist mir inzwischen ehrlich gesagt reichlich egal, was meine Kameraden denken oder merken. Aber ich kann nicht schlafen. Geben Sie mir bitte einfach nur zu tun.“
Sie nickte. „Sophie ist gerade frei. Sie klagt seit einer Woche über Juckreiz. Und Schmerzen.“
„Sophie…“
„Blonde Haare, blaues Kleid, große Brüste.“
Er nickte, nahm seine Tasche und ging an die Arbeit.
In den frühen Morgenstunden kam das Bordell zur Ruhe, und niemand brauchte seine Dienste mehr. Elian fand sich wieder auf seinem Bett. Er vermisste Aspen. Er vermisste Tanis so sehr, dass ihm die Luft wegblieb. Auf dem Meer hatte es sich weniger real angefühlt als hier. Hier gab es nicht länger das Geräusch von Wasser, um ihn abzulenken. Für einen Moment sehnte er sich nach dem Brausen der Flut, nach Wellen die durch das Holz brechen und ihn mit sich fort reißen würden. Ein richtiges Ende. Und dann Frieden.
Er musste für wenige Stunden eingeschlafen sein, denn als er aufwachte, tanzten Sonnenstrahlen über sein Bett. Vor dem Fenster schlug ein Singvogel. Vielleicht eine Amsel. Sein zusammengezogener Körper sagte ihm: Wach. Wieder wach. Schon wieder.
Elian brachte nicht die Energie auf, deswegen enttäuscht zu sein.
Er stand auf. Ging an das Fenster. Hörte dem Vogel zu. Ein schönes Lied, einfach, wie Vogelstimmen es nun mal waren. Nichts, was er auf der Violine nachspielen könnte, selbst wenn er gewollt hätte.
Er ging weiter durch seinen routinierten Ablauf. Anziehen. Stiefel. Gürtel. Vermutlich sollte er frühstücken, aber ihm war nicht nach Essen.
Er trat auf den Gang hinaus, massierte sich die Nasenwurzel. Bei den ganzen Behandlungen gestern hatte er jemanden vergessen… jemand Wichtiges. Richtig. Shanaya. Angeschossene, fiebrige Shanaya.
Aspen wäre schwer enttäuscht von ihm, wenn er sie sterben ließe. Tanis auch. Beide waren keine besonderen Freunde von ihr gewesen, nahm Elian an – es war schwer, sich inmitten des Nebels an solche Sachen zu erinnern – aber sie hätten mehr von Elian erwartet, als sie Gregorys ungeübten Versuchen komplett zu überlassen.
Er sollte nach ihr sehen, richtig? Nur kurz, während sie noch schlief. Nur um sicherzugehen, dass Gregory sie nicht aus Versehen umbrachte. Es hatte genug Tote gegeben auf der Sphinx.
Also holte er seine Arzttasche, ging zu Shanayas Zimmer und öffnete leise die Tür, um sie ja nicht aufzuwecken.
Shanaya stand ihm gegenüber, auf einen Stock gestützt.
Elian hatte in seinem Leben schon so manchen unvernünftigen Patienten erlebt. Shanaya schaffte es nicht ganz an die Spitze der Liste, aber doch weit genug, dass der ehemalige Marinearzt die Stirn runzelte. Allein das Hinsehen tat weh, bedachte man, wie lange es erst her war, dass ihre Beinwunde genäht worden war. Er blickte Shanaya ins Gesicht, darauf bedacht, nicht auf die Stellen zu starren, wo sich unter ihrer Bluse ihre Figur, befreit von ihrem Mieder, nur zu deutlich abzeichnete, und dann hinüber zu Liam, der wohl gerade dabei war, auf Shanayas Bett sitzend zu frühstücken. Hab ich etwas verpasst… oh. Richtig. Genau genommen ist es mir egal. Er kam in den Raum, schloss die Tür hinter sich und behielt seine Augen sorgsam oberhalb der Schulterlinie von gewissen Leuten.
„Ich sehe, dir geht es besser.“ Er drehte den Kopf in Liams Richtung. „Und niemand hier hat ausreichend Respekt oder Dankbarkeit für Gregorys harte Arbeit, um darauf auch nur ansatzweise Rücksicht zu nehmen.“
Seine Stimme hatte keinen richtigen Vorwurfs-Ton, aber auch keine Spur Humor. Es war eine Feststellung, nicht mehr und nicht weniger.
„Ich würde trotzdem anraten, auf irgendwelche Ausflüge zu verzichten. Es sei denn, ihr geht zum Schreiner, um ein Holzbein zu bestellen. In diesem Fall, nur zu.“
[Shanaya und Liam | Shanayas Zimmer im Bordell]