31.03.2020, 22:14
"Danke", sage Rúnar und nahm sich zwei der kleinen Rollen. Er setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand -- die Liegen sollten die nehmen, die sie dringender brauchten. Er verband sich zunächst die Handflächen, nahm eine Ecke des überschüssigen Stoffs zwischen die Zähne und riss ihn ab, begann dann, ihn um seinen Unterarm zu wickeln.
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Bevor er überhaupt richtig mitbekommen hatte, was passiert war, hatte das Schiff mit den Drachenflügeln die Segel gesetzt und die Insel hinter sich gelassen. So schnell konnte es gehen. Das war seine ersehnte Überfahrt. Aber was--
--was war nur passiert? Sein Kopf war zu benebelt gewesen um sich in dem Moment darüber Gedanken zu machen. Nachdem Trevor sich von ihm losgerissen und daraufhin mit Gewalt ferngehalten worden war; und die Piratin, die dafür gesorgt hatte, dass er noch lebte sich um den Jungen in ihren Armen gekümmert hatte, war Rúnar einfach dem Rest der verletzten Besatzung gefolgt.
Er hatte herausgefunden, dass Gregory der Schiffsarzt war, der kein wirklicher Arzt war, aber trotzdem wusste, was er tun musste, um den anderen zu helfen. Rúnar hatte nach etwas zur Betäubung und zum Desinfizieren gefragt -- der Alkohol in den Wunden hatte ihm erneut die Tränen in die Augen getrieben und er hätte am liebsten einfach weiter geweint, denn irgendwie musste das Chaos in seinem Kopf ja raus, aber er hatte sich zusammengerissen. Er hatte sich schließlich konzentrieren müssen -- die Handflächen waren nur leicht eingeschnitten und hatten aufgehört zu bluten, und seine Finger waren noch immer so beweglich wie zuvor; aber der Schnitt an seinem Arm hatte genäht werden müssen.
Er hatte das alles gelernt. Er hatte stundenlang Bücher dafür gewälzt und Texte und Abbildungen auswendig gelernt, aber was brachten ihm all die hypothetischen Szenarien jetzt? Keiner hatte ihm beigebracht, was man tun musste, falls einem die Hände zitterten, was half wenn einem schwarz vor Augen wurde, wie man sich die Körperstelle am besten hindrehen musste um in einem angenehmen Winkel nähen zu können. Aber konzentriert und präzise zu arbeiten, selbst wenn man nicht mehr wusste, wo einem der Kopf stand, das konnte er wenigstens. (Wenn ihm nicht gerade ein Haufen Mörder auf den Fersen waren.) Und das Ergebnis konnte sich schon sehen lassen.
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Er blickte sich in dem provisorischen Lazarett um. Nach alldem, was er über Piraten immer gehört hatte, hatte er eine komplett falsche Vorstellung von ihnen gehabt. Man hatte ihm von blutrünstigen Männern erzählt, die andere aus Spaß quälten, vergewaltigten, töteten -- womöglich all das hintereinander. Falls man in einen Überfall geriet, waren der einzige Ausweg unhinterfragte Übereinstimmung, sehr, sehr viel Geld, oder der Tod. Er hatte das immer für übertrieben gehalten, aber unterschätzt hatte er die Geschichten und Mahnungen nicht. Sie waren trotzdem Kriminelle, die sich wissentlich gegen das Gesetz stellten und Leute ausbeuteten. Aber das was er nun beobachtete waren angeschlagene, erschöpfte Leute, die um ihre Verstorbenen trauerten und sich liebevoll umeinander kümmerten. Das passte nicht mit dem Bild in seinem Kopf zusammen -- er konnte ein amüsiertes Schnauben nicht zurückhalten.