05.01.2020, 17:38
Das Lächeln auf seinen Zügen war ehrlich. Vermutlich, weil er damals ähnliche Gedanken gehabt hatte, als er die Geschichte das erste Mal erzählt bekommen hatte. Sonderbar. Bis ihm bewusst gemacht wurde, dass es der Realität entsprach – mehr, als ihm lieb war. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, während er Skadi einen Augenblick dabei beobachtete, wie sie an die Decke blickte. Er ließ der Realität nicht allzu viel Zeit, sich wieder um sie herum auszubreiten, kam stattdessen auf ihre Frage zurück und malte das Bild seiner Geschichte weiter mit Worten. Eine direkte Antwort blieb er ihr schuldig. Über die Sonderheit der übrigen Figuren durfte sie selbst urteilen.
„Auf dem vierten Planeten lebte ein Geschäftsmann, viel zu beschäftigt, als dass er aufsehen konnte, als der kleine Junge an ihn herantrat und ihn darauf aufmerksam machte, dass seine Zigarette längst ausgegangen war. ‚Keine Zeit, sie wieder anzuzünden.‘, presste er zwischen wirren Zahlen und Berechnungen heraus. ‚Das macht dann Fünfhunderteine Millionen sechshunderzweiundzwanzig Tausend siebenhunderteinunddreißig. Uff.‘ – ‚Fünfhundert Millionen was?‘, fragte der Junge. Der Geschäftsmann schien überrascht, dass er überhaupt noch da war. ‚… Fünfhundert Millionen… Ich habe es vergessen. So viel Arbeit! Ich habe keine Zeit für Kindereien!‘, und er begann erneut zu zählen und zu rechnen. ‚Fünfhundert Millionen was?‘, wiederholte der Junge, der nie in seinem Leben eine Frage vergessen hatte, die er bereits gestellt hatte. Der Geschäftsmann hob den Kopf. ‚Seit vierundfünfzig Jahren lebe ich auf diesem Planeten und bin erst drei Mal gestört worden. Einmal vor zweiundzwanzig Jahren von einem Käfer. Er machte einen fürchterlichen Lärm und ich irrte mich bei meiner Berechnung! Beim zweiten Mal vor elf Jahren hatte ich einen Rheimaanfall. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich hatte keine Zeit zum Herumbummeln! Ich bin ein ernsthafter Mensch. Und das dritte Mal ist jetzt! Ich sagte fünfhunderteine Millionen…-‘ – ‚Millionen von was?‘ Allmählich begriff er Mann, dass er keine Hoffnugn auf Ruhe hatte. ‚Millionen von den Dingern, die wir manchmal am Himmel sehen. Die goldenen Dinger, die die Faulen tagträumend machen. Aber ich bin ein ernsthafter Mensch! Ich habe keine Zeit zum Träumen.‘ – ‚Ah, Sterne!‘, verstand nun der kleine Junge. ‚Und was willst du mit diesen fünfhundert Millionen Sternen?‘ – ‚ dann Fünfhunderteine Millionen sechshunderzweiundzwanzig Tausend siebenhunderteinunddreißig. Ich bin ein ernsthafter Mensch, ich bin äußerst genau.‘ – ‚Und was willst du mit diesen Sternen tun?‘ – ‚Was ich damit tun kann? … Nichts, ich besitze sie.‘ Der kleine Junge wirkte überrascht. ‚Du besitzt die Sterne? Aber ich kenne einen König, der…‘, doch er wurde unterbrochen. ‚Könige besitzen nichts, sie herrschen über etwas. Das ist was ganz anderes.‘ – ‚… Was nützt es dir, diese Sterne zu besitzen?‘ – ‚Sie machen mich reich!‘ Der kleine Junge verstand nicht, was ihm dieser Reichtum brachte. ‚Ich kann andere Sterne kaufen, wenn sie gefunden werden.‘ Ein bisschen war er wie der Säufer, stellte er fest. Aber er hatte noch ein paar Fragen an ihn. ‚Wie kann man Sterne besitzen?‘ Der Geschäftsmann schaute derweil ein bisschen mürrisch. ‚Wem gehören sie?‘, entgegnete er. Der kleine Junge wusste es nicht. ‚Dann gehören sie mir, denn ich dachte als erster daran.‘ – ‚Und das reicht?‘ – ‚Natürlich. Wenn du einen Diamanten findest, der niemandem gehört, gehört er dir. Wenn du eine Insel entdeckst, die niemandem gehört, gehört sie dir. Ich besitze die Sterne, denn niemand vor mir hatte jemals daran gedacht, sie zu besitzen.‘ – ‚Das ist wahr.‘, entgegnete der Junge. ‚Und was stellst du damit an?‘ – ‚Ich verwalte sie, zähle und zähle sie immer wieder. Das ist schwierig! Aber ich bin ein ernsthafter Mann.‘ Der kleine Junge war aber noch immer nicht zufrieden. ‚Wenn ich einen Seidenschal besitze, kann ich ihn mir um den Hals binden und mit mir nehmen. Wenn ich eine Blume sehe und sie pflücke, dann kann ich sie mitnehmen. Aber Sterne kann man nicht pflücken!‘ – ‚Aber ich kann sie auf eine Bank legen. Ihre Anzahl auf ein Stück Papier schreiben und es in einer Schublade mit Schlüssel verschließen.‘ – ‚Das ist alles?‘ Dem Geschäftsmann war das genug. Fast schon poetisch, fand der kleine Junge. Aber ernst war es für ihn nicht. Er hatte von ernsthaften Dingen ganz andere Vorstellungen als die Ideen der großen Leute. ‚Ich besitze eine Blume.‘, begann er schließlich. ‚Ich gieße sie jeden Tag. Und drei Vulkane, die ich jede Woche kehre. Ich kehre sogar den erloschenen Vulkan. Man weiß ja nie. Es ist gut für meine Vulkane und gut für mich. Und auch gut für meine Blume, dass ich sie besitze. Aber du nützt den Sternen gar nichts…‘ Der Geschäftsmann riss den Mund auf, blieb aber stumm, da er keine Antwort fand. Die großen Leute sind tatsächlich sehr sonderbar, dachte er bei sich und reiste weiter.
Auf dem fünften Planet lebte ein Laternenanzünder. Der Planet war klein, er hatte gerade genug Platz für den Mann und die Laterne. Der kleine Junge konnte sich gar nicht erklären, wozu man auf einem Planeten ohne Haus und Bevölkerung eine Laterne benötigte. Doch selbst, wenn dieser Mann verrückt war, war er weniger verrückt als der König, der Eitle, der Geschäftsmann oder der Säufer. Er hatte eine sinnvolle Aufgabe. Wenn er die Laterne anzündete, war es wie ein neuer Stern oder eine Blume. Wenn er sie löschte, wiegte er den Stern oder die Blume in den Schlaf. Das war ein schöner Beruf. Einer, der nützlich war, weil er schön war. Er grüßte den Laternenanzünder respektvoll. ‚Warum hast du gerade deine Lampe ausgelöscht?‘, fragte er. ‚Das ist eine Anordnung! Guten Morgen.‘ – ‚… Was bedeutet das?‘ – ‚Das bedeutet, meine Lampe auszulöschen. Guten Abend.‘ Er zündete sie wieder an. ‚Und warum hast du sie jetzt wieder angezündet?‘ – ‚Das ist eine Anordnung.‘, wiederholte der Laternenanzünder. ‚Das verstehe ich nicht.‘ – ‚Das ist einfach erklärt. Eine Anordnung ist eine Anordnung. Guten Morgen.‘ Und schon löschte er seine Lampe wieder und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. ‚Ich habe eine schreckliche Arbeit! Früher war sie vernünftig. Ich zündete am Morgen die Lampe an und löschte sie am Abend. Den Rest des Tages hatte ich frei und den Rest der Nacht konnte ich schlafen.‘ – ‚Und was hat sich an der Anordnung geändert?‘ – ‚Nichts! Das ist ja das schlimme! Von Jahr zu Jahr dreht sich der Planet schneller und schneller. Die Anordnung ist so geblieben. Und jetzt macht er jede Minute eine Umdrehung. Ich bekomme keine Sekunde Ruhe! Ich drehe und wende mich einmal in jeder Minute!‘ – „Das ist lustig. Ein Tag dauert bei dir eine Minute.‘ - ‚Das ist nicht lustig! Seit wir miteinander reden ist ein Monat vergangen!‘ - ‚Ein Monat?‘, wiederholte der Junge überrascht. ‚Ja. Dreißig Minuten. Dreißig Tage! Guten Abend.‘ Und wieder zündete er die Laterne an. Der Junge sah ihm bei der Arbeit zu. Er mochte den Laternenanzünder, der so brav seine Anordnungen ausführte. Er erinnerte sich an die Sonnenuntergange, die er selbst immer beobachtet hatte, indem er seinen Stuhl nachgezogen hatte. ‚Weißt du, ich kenne einen Weg, wie du dich ausruhen kannst.‘, eröffnete er schließlich. Denn man konnte sowohl treu als auch faul zugleich sein. ‚Dein Planet ist so klein, mit drei Schritten bist du herum. Du musst nur langsam genug gehen, um immer in der Sonne zu bleiben. Wenn du dich ausruhen willst, dann gehst du einfach und der Tag dauert so lange, wie du möchtest.‘ – ‚Das ist nicht besonders schlau, denn ich liebe den Schlaf.‘ – ‚Dann ist es zwecklos.‘, stimmte ihm der Junge zu. ‚Es ist zwecklos. Guten Morgen.‘ Und er löschte seine Lampe wieder aus. Voller Bedauern setzte er seine Reise fort. Der Laternenanzünder würde wohl von allen anderen verachtet werden. Vom König, vom Eitlen, vom Säufer und vom Geschäftsmann. Aber er war der einzige, der ihm nicht lächerlich erschien. Vielleicht, weil er an andere Dinge dachte als an sich selbst. Er war jemand, den er gern zu seinem Freund gemacht hätte. Aber sein Planet war so klein. Zu klein für zwei. Der Junge gestand es sich nicht ein, dass er diesem einen Planeten nachweinte. Vor allem wegen der tausendvierhundertundvierzig Sonnenuntergänge in vierundzwanzig Stunden.
Der sechste Planet war zehnmal größer. Ein alter Mann wohnte dort, der gewaltige Bücher schrieb. ‚Da kommt ein Entdecker!‘, rief er, als er den Jungen erblickte. Der Junge setzte sich auf den Tisch und ruhte sich etwas aus. Er war immerhin schon so viel gereist. ‚Wo kommst du her?‘, wollte der Alte wissen. ‚Was ist das für ein dickes Buch? Was machen Sie hier?‘ – ‚Ich bin Geograph. Ich bin Gelehrter, der alle Meere, Flüsse, Städte, Berge und Wüsten kennt.‘ – ‚Das ist ja interessant. Das ist endlich ein echter Beruf! Ihr Planet ist sehr schön. Gibt es auch Ozeane?‘, wollte er wissen. ‚Das weiß ich nicht.‘ Der kleine Junge wirkte enttäuscht. ‚Und Berge?‘ – ‚Auch das weiß ich nicht.‘ – ‚Und Städte und Flüsse und Wüsten?‘ – ‚Kann ich auch nicht sagen.‘ – ‚Aber Sie sind doch Geograph!‘ – ‚Das stimmt. Aber kein Entdecker. Der Geograph ist zu wichtig, um durch die Welt zu streifen. Er verlässt sein Büro nie. Er empfängt Entdecker, befragt sie und notiert ihre Erinnerungen. Und erscheinen ihm die Erinnerungen bedeutungsvoll, stellt er Untersuchungen über den Charakter des Entdeckers an. Ein Entdecker, der lügt, wäre eine Katastrophe für die Bücher! Oder einer, der zu viel trinkt. Denn Säufer sehen doppelt. Der Geograph würde zwei Berge vermerken, wo nur einer ist. Wenn der Charakter eines Entdeckers sich als gut herausstellt, dann macht man Untersuchungen über seine Entdeckung. Man erwartet, dass er Beweise liefert.‘ Da riss der Geograph plötzlich die Augen auf. ‚Du kommst von weit her! Beschreibe mir deinen Planeten!‘ Er holte eifrig einen Bleistift hervor, um die Geschichten zu notieren. Man notierte immer zuerst mit Bleistift und schrieb die Geschichten mit Tinte nieder, wenn der Entdecker Beweise erbracht hatte. ‚Oh, bei mir zuhause ist es nicht sonderlich spannend. Es ist klein. Ich habe drei Vulkane. Zwei aktive und einen erloschenen. Aber man kann ja nie wissen.‘ – ‚Man kann ja nie wissen‘, sagte der Geograph. ‚Ich habe auch eine Blume.‘ – ‚Wir notieren Blumen nicht.‘ – ‚Aber wieso nicht? Sie sind das Schönste!‘ – ‚Weil Blumen vergänglich sind.‘ – ‚Was bedeutet vergänglich?‘ – ‚Geographiebücher sind die wertvollsten Bücher. Sie veralten niemals. Es ist sehr selten, dass ein Berg seine Lage ändert. Oder ein Ozean sein Wasser entleert. Wir notieren uns die ewigen Dinge.‘ Der kleine Junge unterbrach ihn. ‚Aber erloschene Vulkane können aufwachen. Was bedeutet vergänglich?‘ – ‚Ob Vulkane erloschen sind oder nicht, ist für uns einerlei. Worauf es ankommt, ist der Berg. Er ändert sich nicht.‘ Abermals wiederholte er seine Frage. Er hatte noch nie auf eine Frage verzichtet, die er bereits gefragt hatte. ‚Es bedeutet „von baldigem Verschwinden bedroht“.‘ – ‚… Ist meine Blume von baldigem Verwunden bedroht?‘ Der Geograph nickte wie selbstverständlich. Meine Blume ist vergänglich, dachte der Junge. Und sie hatte nur vier Dornen, um sich gegen die Welt zu wehren. Er hatte sie alleine zurückgelassen. Aber er fasste Mut. ‚Was raten Sie mir, was soll ich besuchen?‘ – ‚Den Planeten Erde. Sie hat einen guten Ruf.‘ Und der Junge ging fort und dachte an seine Blume.
Der siebte Planet war also die Erde. Und sie war kein gewöhnlicher Planet. Es gab hunderte Könige, siebentausend Geographen, neunhunderttaused Geschäftsleute, siebeneinhalb Millionen Säufer, dreihundertelf Millionen Eitle und alles in allem rund zwei Milliarden Erwachsene. Und eine regelrechte Armee von vierhundertzweiundsechstigtausendfünfhundertundelf Laternenanzündern. Doch als der kleine Junge die Erde erreichte, war er überrascht, dass er niemanden zu Gesicht bekam. Doch schließlich schlängelte sich etwas in der Farbe des Mondes über den Sand. Der Junge grüßte höflich. Die Schlange grüßte zurück. ‚Auf welchem Planeten bin ich gefallen?‘, fragte er. ‚Auf die Erde.‘, bekam er die Antwort. ‚Gibt es hier denn keine Menschen auf der Erde?‘, wollte er wissen. ‚Hier ist die Wüste. Es gibt keine Menschen in der Wüste. Die Erde ist groß.‘ Der Junge ließ sich auf einem Felsen nieder und spähte zum Himmel hinauf. ‚Ich frage mich, ob die Sterne leuchten, damit jeder seinen eigenen irgendwann wiederfindet. Sieh, mein Planet ist direkt über uns, aber er ist so weit weg.‘ Auch die Schlange spähte nun hinauf. ‚Er ist schön. Was machst du hier?‘ Die Antwort des Jungen fiel recht simpel aus. ‚Ich habe Schwierigkeiten mit einer Blume.‘ Die Schlange nickte verstehend und sie schwiegen. ‚Wo sind die Menschen? Es ist so einsam hier in der Wüste‘, fragte der Junge schließlich. ‚Oh, es ist auch bei den Menschen einsam.‘, erklärte die Schlange. Der Junge betrachtete sie eine Zeit lang. ‚Du bist ein lustiges Tier. So dick wie ein Finger…‘ Die Schlange wirkte unbeeindruckt. ‚Aber ich bin mächtiger als der Finger eines Königs. Der Junge lächelte. ‚Du bist nicht besonders mächtig… Du hast nicht einmal Beine… Du kannst nicht einmal reisen.‘ – ‚Ich kann dich weiter bringen als ein Schiff.‘, sagte die Schlange und wickelte sich wie ein goldener Armreif um den Knöchel des Jungen. ‚Wen auch immer ich berühre, schicke ich zu der Erde zurück, aus der er kam. Aber du bist rein, du kommst von einem Stern. Du tust mir leid auf dieser Erde aus Granit, weil du so schwach bist. Eines Tages helfe ich dir, wenn du dich nach deinem Planeten zurücksehnst. Ich kann -‘ Der Junge unterbrach sie. ‚Oh, ich habe verstanden. Aber warum sprichst du immer in Rätseln?‘ – ‚Ich löse sie alle‘, sagte die Schlange und sie schwiegen.
Auf seinem Weg durch die Wüste begegnete er nur einer Blume. Einer recht kargen Blume. Er grüßte sie, sie grüßte zurück. ‚Wo sind die Menschen?‘, fragte er höflich. Die Blume hatte einst eine Karawane gesehen. ‚Die Menschen? Es gibt glaube ich sechs oder sieben. Vor einigen Jahren sah ich sie. Aber man weiß nie, wo sie sind. Der Wind verweht sie. Sie haben keine Wurzeln. Das ist sehr schlecht für sie.‘ Und sie verabschiedeten sich wieder voneinander. Schließlich trieb ihn sein Weg auf einen hohen Berg. Viel höher als die drei Vulkane, die er von zuhause kannte und ihm nur bis zu den Knien reichten. Von einem Berg wie diesem musste er doch die gesamte Menschheit überschauen können. Aber er sah weit und breit nicht mehr als die Nadeln spitzer Felsen. ‚Guten Tag.‘, sagte er. ‚Guten Tag… Guten Tag… Guten Tag…‘ rief das Echo zurück. ‚Wer bist du?‘ – ‚Wer bist du… Wer bist du… Wer bist du…‘, antwortete das Echo. ‚Seid meine Freunde, ich bin allein.‘ – ‚Ich bin allein… Ich bin allein… Ich bin allein…‘, antwortete das Echo. Was für ein eigenartiger Planet, dachte er sich. Alles trocken, voller Bergspitzen und salzig. Und die Menschen wiederholten, was man ihnen sagte. Aber zuhause hatte er seine Blume gehabt.“
Liam war dazu übergegangen, einfach weiterzuerzählen und wagte erst jetzt einen Seitenblick zu Skadi hinüber in der Hoffnung, dass sie bei all ihrer Müdigkeit bereits jetzt ihren wohlverdienten Schlaf gefunden hatte. In diesem Fall hätte er sich die weitere Geschichte für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben, doch die Dunkelhaarige spähte noch immer lauschend an die Decke empor. Der Musiker lächelte in Anbetracht des Funkelns in ihren Augen, das ihn ein bisschen an ihn selbst erinnerte. Damals, als er sich geweigert hatte, einzuschlafen, um mehr zu hören. Zufrieden mit dem Augenblick verschränkte er einen seiner Arme hinter dem Kopf, während seine andere Hand fast automatisch nach der Hand der Jüngeren tastete. Sein Blick wanderte wieder zum Holz über ihnen, als er weiter zu erzählen begann und irgendwann schließlich zum Ende kam. Eine bedächtige Stille trat ein, wie er es immer empfand, wenn eine Geschichte ihr Ende fand. Eine eigenartige Waage zwischen Vollkommenheit und Leere. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis er sich regte und langsam den Kopf herumwandte, um zu sehen, ob Skadi das Ende überhaupt noch mitbekommen hatte.
Je länger Liam von der Welt der sonderbaren Erwachsenen erzählte, desto warmer wuchs das Lächeln auf ihren Lippen. Wer auch immer ihm diese Geschichte immer und immer wieder erzählt hatte, war sich wohl sicher gewesen, dass der kleine träumerische Lockenkopf die Wahrheit in all diesen Erzählungen verstehen würde. So er denn selbst angesichts seiner Jahre zu diesen „Erwachsenen“ gehörte. Skadi konnte sich jedoch ausmalen wie wenig er davon im Inneren war. Fast schon erschrocken lugten die dunklen Augen von der Decke an ihre Seite hinab, als Liams warme Finger die ihren umschlossen. Sie war so sehr in seine Erzählung vertieft, dass sie ihn trotz seiner angenehmen Stimme vollkommen ausgeblendet hatte. Beinahe entschuldigend schenkte sie ihm ein nahezu liebevolles Lächeln und festigte den Griff ihrer Finger. Rückte daraufhin ein paar Zentimeter zur Seite, um den Kopf entspannt gegen seine Schulter zu lehnen und wieder den Blick an die dunkle Decke zu richten. Immer weiter rückten die Bilder in die Ferne. Die Geräusche verstummten vollkommen um sie herum. Für einen Moment fühlte sich Skadi federleicht, gar schwerelos. Ohne zu bemerken, dass sie irgendwann, inmitten der schillernden Beschreibung von hellem Dünensand bei Nacht eingeschlafen war.
Er hätte sich tatsächlich daran gewöhnen können. Daran, seine einfachen Geschichten an diejenigen weiterzutragen, die daran Freude fanden. Ruhe, Zufriedenheit und einfach mal die Zeit, sich um nichts Gedanken zu machen. Das besorgte Gesicht der Nordskov hatte sich mit der Zeit ein wenig gewandelt. Die Schatten waren blasser geworden, bedeutungsloser, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, doch er fragte nicht nach. Stattdessen erzählte er weiter und ließ die Nähe zwischen ihnen einfach geschehen, als wäre es etwas, was sie schon seit Ewigkeiten so handhabten. Als würden sie sich nicht gerade mal seit einigen Wochen kennen. Mit ihren Fingern zwischen seinen und dem warmen Gefühl ihres Kopfes an seiner Seite, hatte er die Ruhe, sich keine Gedanken zu machen und sich ganz und gar auf das einzulassen, was er zu sagen hatte, bis die Geschichte schließlich endete. Gemeinsam mit Skadis Schlaflosigkeit wie es schien, denn die Dunkelhaarige schlummerte friedlich an seine Schulter gelehnt und schien nicht mitbekommen zu haben, dass er mittlerweile in Schweigen verfallen war. Ein unscheinbares Lächeln schlich sich auf seine Lippen, welches er selbst nicht einmal bewusst wahrnahm, während er ihre schlafende Gestalt einen Augenblick beobachtete, dann wandte er den Blick wieder zurück an die dunkle Decke über ihnen. Eine gefühlte Ewigkeit lang, wagte er es kaum, sich zu bewegen, um die Jüngere ja nicht zu wecken, hatte aber auch kein großes Bedürfnis danach, die Situation aufzulösen. Ihre Nähe hinterließ eine wohlige Zufriedenheit in seinem Inneren, bis sie schließlich von einer Unruhe abgelöst wurde, die Liam nicht recht zu deuten wusste. Kurz noch blieb er liegen und versuchte, sie einfach zu ignorieren, bis er doch begann, sich vorsichtig von ihrer Seite zu lösen, ohne sie aufzuwecken. Mit leisen Schritten schlich er nach oben zu seiner Hängematte, um kurz darauf mit seiner Decke zurückzukehren und sie sachte über der schlafenden Skadi auszubreiten. Diese Nacht würde er auch ohne Decke auskommen, wenn es bedeutete, dass sie damit ein bisschen Auszeit von ihren Sorgen bekam. Abermals galt ihr ein kurzes, warmes Lächeln, während er die Hand kurz auf ihren zugedeckten Oberschenkel legte und ihr eine ‚Gute Nacht.‘ zuflüsterte, ehe er selbst nach oben verschwand.