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Light up the dark - Liam Casey - 05.01.2020

Light up the dark
So good to see you
When you light up the dark
I could sit here forever
But I know that you can't

Nacht des 02. Mai 1822
Skadi Nordskov & Liam Casey


Wie so oft in den letzten Tagen hockte Skadi an der Reling und starrte auf die endlose Dunkelheit. In nur wenigen Tagen, wenn nicht sogar Stunden, würden sie ihr neues Ziel erreichen. Und während sich unter die Freude, endlich an Land zurück zu kehren, sukzessive dieses drückende, unangenehme Gefühl einer Vorahnung schlich, wurden ihre Träume wüster und dunkler und ihr Schlaf verschwindend. Nicht einmal das späte Lesen bei Kerzenschein änderte etwas daran. Und das monotone Schnarchen der Besatzung wirkte zum ersten Mal seit langem wieder wie eine schellende Alarmglocke auf ihre Müdigkeit. Somit verbrachte die Nordskov erneut eine Nacht damit aufs Meer zu starren und die Silhouette am Steuer zu ignorieren. In der Hoffnung, dass sie irgendwann einfach vor Erschöpfung einschlief und sich ihr Körper eigenmächtig holte, was er brauchte. Mit seinem Seufzen sank der Kopf auf die auf das Holz gebetteten Unterarme, während die Beine in einem üblichen Schneidersitz auf der Kiste ruhten, die sie kurz zuvor an die Reling geschoben und sich darauf niedergelassen hatte.
Er konnte es tatsächlich kaum abwarten. Je näher sie ihrem vermeintlichen Ziel kamen, desto größer wurde die Vorfreude auf das, was sie erwarten würde. Darauf, die Insel zu erkunden, die Läden zu durchstöbern und vor allem: Die Ruhe, die man auf einem Schiff mit so vielen Personen unmöglich finden konnte. Er freute sich darauf, mit sich allein zu sein. Nicht reden zu müssen, nicht denken und einfach dorthin zu gehen, wo es ihn hinzog. Der erste Tag würde ihm gehören. In all der Aufregung würde ihn sowieso niemand vermissen. Er hatte den heutigen Abend ein bisschen mit Zeichnen verbracht, hatte ein Buch als feste Unterlage auf seine Knie gebettet und still in seiner Hängematte gelegen. Jetzt allerdings ließ er es leise zu Boden gleiten und richtete sich auf. Mit der Kerze in der Hand, die eben noch auf seiner Kiste gestanden hatte, trat er hinüber in die Kombüse, füllte sich einen Becher mit Wasser und stieg schließlich die Treppen zum Deck empor, um etwas frische Luft zu schnappen. Oben angekommen fiel sein Blick zuerst auf die Gestalt am Steuer, dann erst auf die Person, die einsam an der Reling saß. Nicht, dass er sie gesucht hätte, aber er hatte gewusst, dass er sie hier finden würde, kaum dass ihm unbewusst aufgefallen war, dass ihre Hängematte diese Nacht wohl ein weiteres Mal leer blieb. „Wusste ich doch, dass du hier bist.“, kündigte er sich leise an, bevor er sich neben ihr über die Reling beugte und aufs Meer hinaus sah. „Immer noch keine Ruhe gefunden? Oder ist es was anderes, was dich nachts wach hält?“ Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, doch sein Blick blieb vorerst aufs Meer gerichtet.
Sie reagierte kaum, als der Ältere an Deck trat und mit leisen Worten in ihrem Rücken auftauchte. Womöglich weil die Anwesenheit der Crew in den letzten Wochen so sehr zu Normalität für sie geworden war, dass es keinen Grund mehr gab, mit aufgestellten Nackenhärchen prüfend nach dem Störenfried in ihrem toten Winkel zu schauen. Hätte es jemals einer von ihnen auf sie abgesehen, war er unheimlich dumm, die unendlichen Chancen dafür nicht bereits an Land genutzt zu haben. Somit huschten die dunklen Augen nur für einige Herzschläge zur Seite, um die schwach erkennbare Silhouette zu mustern und sich dann abermals der Ferne des dunklen Horizonts zu widmen. Ungewollt entwich der Nordskov abermals ein Seufzen. Fast als wollte ihr Unterbewusstsein die kaum merkliche Sorge in den Worten des Lockenkopfes mit trotzigem Selbstbewusstsein zerschlagen. “Kennst du dieses drückende Gefühl in der Brust, das dich selbst dann nicht verlässt, wenn du versuchst an etwas anderes zu denken? Je näher wir dem Festland kommen, desto schlimmer schnürt sich alles in mir zusammen… und das, obwohl ich mich so sehr auf den Sand zwischen meinen Zehen freue. Keine Ahnung ob ich diesem Bauchgefühl vertrauen soll. Allerdings hat es mich bisher selten im Stich gelassen.“ Ungewohnt ernst ruhte die Dunkelhaarige auf ihrer Kiste und verengte für einen kurzen Augenblick die geschwungenen Augenbrauen, dessen Weg deutliche Sorgenfalten auf ihre Stirn zeichnete. Hatte sie zu Marinezeiten öfter derart ruhig und in sich gekehrt an Deck gesessen und aufs Meer gestarrt, fühlte sie sich nun, umringt von diesem verrückten und irgendwie liebenswerten Haufen, als säße sie auf einem gefährlichen Präsentierteller und wusste nicht, wessen gierige Blicke auf sie gerichtet waren. Und es wurmte sie. Mit jedem Tag, der verstrich noch mehr. “Und ich glaube, dass wir noch lange nicht bereit für eine große Auseinandersetzung sind…“
Er war unvoreingenommen. Was auch immer sie beschäftigte, er würde nicht danach bohren, wenn sie nicht darüber reden wollte. Er wusste längst, dass es vieles gab, was in ihr vor ging. Genug für etliche schlaflose Nächte. Eigentlich also hätte er sich darüber wundern müssen, sie nicht viel öfter als die letzten Tage derart irgendwo sitzen zu sehen. Aber das war Liam ebenso nicht bewusst, wie es vermutlich auch Skadi nicht bewusst war. „Ja, kenne ich.“, war das erste, was er auf ihre Worte antwortete. Besser vermutlich, als er es selbst gerne wahrhaben wollte, doch er dachte nicht weiter als zu dem, was seine Lippen verließ. Hier ging es zum Glück nicht um ihn und das, was ihm schlaflose Nächte bescherte. „Hmm.“ Er hatte ein paar Herzschläge lang geschwiegen, ehe der nachdenkliche Laut leise das Geräusch der Wellen untermalte. Ehrlich gemeint und ernsthaft um eine Lösung bemüht, die sich leider nicht ganz so einfach in der Dunkelheit am Horizont abzeichnete, wie es ihnen beiden lieb gewesen wäre. „Und jetzt malst du dir alle möglichen Szenarien aus, die auf uns zu kommen können.“ Eine reine Mutmaßung auf ihre Sorge hin. Vielleicht, weil er es so getan hätte, hätte ihn der Gedanke nicht in Ruhe gelassen. „Ich meine… Uns scheint niemand zu folgen. Das sind doch eigentlich schon mal gute Aussichten. Für Aspen hat sich seit Anfang an niemand interessiert, obwohl er öffentlich neben seinen Fahndungspostern posiert und ansonsten gehe ich davon aus, dass Lucien und Talin schlau genug sind, die Marine nicht unnötig herauszufordern.“, überlegte er optimistisch, aber trotz des Witzes noch immer ernst. Er hatte keinen Grund, ihrem Gefühl zu misstrauen. Und Skadi offensichtlich noch weniger. „Aber wir sollten vorsichtig sein, das stimmt.“ Man wusste nie, was einen erwartete und gerade nach den Geschehnissen auf Milui hatte sich gezeigt, dass es nie verkehrt war, etwas vorsichtiger zu sein. „Hast du das öfter, wenn es auf das Festland zu geht?“ Seine Stimme war noch immer leise, angepasst an die Uhrzeit und die Ruhe, die auf der Sphinx eingekehrt war. Langsam drehte er den Kopf und besah sich das besorgte, erschöpfte Profil der Frau neben sich.
Genau genommen malte sie sich keine Szenen aus. Versuchte viel mehr das Gefühl zu unterdrücken, dass wie ein zu großer Stein in ihrem Mahlwerk festsaß. Doch ganz konnte sie dem Lockenkopf wohl kaum widersprechen. Denn das was sie tat, hatte durchaus etwas Bildhaftes an sich. Über kurz oder lang musste sie sich mit den Konsequenzen auseinander setzen, die gewisse Ausgänge ihrer Streifzüge haben würden. Besser sie befasste sich jetzt, als irgendwann damit, wenn die Situation ihr nur noch den pragmatischen Verstand an den Kopf warf und sie etwas sagte oder tat, dass womöglich jemanden verletzen konnte. Jemanden, der ihr wichtig war – ganz gleich mit welcher Inbrunst sie sich nach wie vor dagegen sträubte. Skadi schwieg, während Liam sprach. Sog den Tonus seiner Stimme in sich auf und spürte, wie ihre Beine taub wurden. Sie musste wohl bereits länger auf dieser Kiste sitzen, als ihr bewusst war. “Hast du dir jemals Gedanken darum gemacht, dass wir eigentlich überhaupt nicht wissen, mit wem wir hier unterwegs sind?“ Im selben Moment, in dem die Worte über ihre Lippen huschten, wandte sich der dunkle Haarschopf bereits herum und fixierte die so vertraute Silhouette aus dunklen Augen. “Mag sein, dass das nicht von Bedeutung ist und jeder eine Chance auf ein neues Leben verdient hat… aber…“ Für einen Augenblick spannte sich der schmale Brustkorb an und hielt die Luft in sich gefangen, die die Nordskov zum Reden brauchte.
Dann jedoch seufzte sie und ließ den Haarschopf hinab senken. Wandte ihn wie zuvor in Richtung Meer und löste ihre kribbelnden Beine aus dem Schneidersitz. “Irgendwann wird man Enrique suchen, Liam. Irgendjemand wird wissen, dass er überlebt hat. Und es würde mich nicht wundern, wenn das zu Problemen sondergleichen führen wird. Du weißt selbst, wie er ist. Vielleicht kannst du dir ja ungefähr vorstellen, wie viele Freunde er bei der Marine hatte. Ein pflichtbewusster Kerl, der Widerworte gibt. Ich befürchte, dass sie ihm eine Mittäterschaft unterstellen könnten, sollte heraus kommen, dass er noch lebt. Und sind wir mal ehrlich… er hat leider kein Talent dafür sich äußerlich zu verkleiden. Nicht so wie ich.“ Ein mattes Lächeln huschte in ihren Mundwinkel. Verflog jedoch, kaum dass sich ihr Kinn auf die Reling bettete und die Lider hinab sanken. “Ich kann nur hoffen, dass sich mein Bauchgefühl täuscht… denn ich weiß nicht, wie ich die anderen einschätzen soll. Wenn es hart auf hart kommt… wem kann ich außer dir vertrauen?“ Nur langsam ließ sich der hoch gewachsene Körper zurück gleiten. Rückte ein paar Zentimeter zur Seite, um Liam schweigend Platz auf ihrer Kiste zu machen und mit einem knappen Seitenblick zu ihm hinauf zu sehen. Seine Frage hinterließ ein sanftes Schmunzeln auf ihren Zügen. Entlockte ihr sogar ein halbherziges Schnauben, während die langen Beine über der Kante baumelten und mit leichten schwingenden Bewegungen das Kribbeln darin abzuschütteln versuchten. “Du kennst mich… ich bin ein Waldkind. War ich schon immer. Was für dich das Fernweh ist, ist für mich das… Naturweh?“ Unweigerlich musste sie selbst über ihre eigene Wortkreation auflachen.



RE: Light up the dark - Skadi Nordskov - 05.01.2020

Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie seine Antwort eigentlich bereits kannte. Seine Stirn legte sich kurz in Falten, während er ihr lauschte, doch er schwieg, bis sie das, was er dachte, schon selbst ausgesprochen hatte. Aber das lag nicht an der Tatsache, dass sie sich auf einem Piratenschiff befanden – das lag daran, dass Liam die Dinge seit jeher so handhabte. Es war ihm egal, wer ihm gegenüberstand. Jeder hatte eine Vergangenheit. Worauf es allerdings wirklich ankam, war die Gegenwart und das, was man mit seiner Zukunft anfangen wollte. Unweigerlich kam ihm der Gedanke an das, was Shanaya widerfahren war. Solche Dinge waren es, die Skadi meinte. Feindschaften, die sie eingingen, ohne von ihnen zu wissen. Er ließ sich genug Zeit mit einer Antwort, sodass die Jüngere von allein fortfuhr. Und Liam wurde das Gefühl nicht los, dass das, was sie danach ansprach, ihre eigentliche Sorge war. Nicht die anderen – sondern Enrique. Wie so oft war er es, der sie wachhielt und Liam war nicht einmal wirklich überrascht darüber. Trotzdem, sie war berechtigt. Und selbst, wenn der Überfall auf die Morgenwind nicht wirklich so geplant gewesen war, konnte sich Enrique der Mittäterschaft nicht einmal wirklich freisprechen. Wenn man es genau nahm, traf sie die Tatsachen damit also genau auf den Punkt. Ihr Glück war es, dass man nach Kaladar suchen würde, denn eine Frau namens Skadi Nordskov hatte bei der Marine niemals existiert. Enrique hatte dieses Glück nicht und so, wie Liam ihn einschätzte, würde er sich auch ziemlich schlecht darin anstellen, einen unschuldigen Eindruck zu erwecken. Die Anspielung auf ihr eigenes Maskenspiel entlockte ihm ein kurzes, anerkennendes Zucken mit den Mundwinkeln. Für ein herzliches Lächeln war die Angelegenheit allerdings zu ernst.„Du weißt, dass Enrique und ich nicht sonderlich viel miteinander zu tun haben.“, begann er leise, den Blick wieder auf die dunkle See gerichtet.
„Aber was auch immer ihn dazu bewogen hat, uns bei der Flucht zu helfen… Ich schätze ihn so ein, dass er sich der Konsequenzen durchaus bewusst war.“ Liam wusste im Grunde nichts über ihn außer das, was Skadi ihn wissen ließ. Aber Enrique wirkte kontrolliert und gefährlich berechnend. Was die Nordskov dann sagte, ließ ihn abermals lächeln. Verständnisvoll, selbst wenn er ihrem vermeintlichen Vertrauensgeständnis nicht blind Glauben schenkte. Im Augenblick verwirrte es ihn mehr als dass es ihm schmeichelte. Und sich darum zu bemühen, dass die anderen unversehrt blieben, zählte für ihn eigentlich schon zu einer Selbstverständlichkeit. Bislang hatte er es vermieden, sie zu unterbrechen. Als sie kaum merklich zur Seite rückte, wurde ihm bewusst, dass aus seinem eigentlichen Plan, nur kurz nach ihr zu sehen, vermutlich nichts wurde. Da war mehr, was sie beschäftigte. Oder zumindest mehr, über das sie reden wollte, wenn sie schon die Gelegenheit dazu hatte. Und auch, wenn er wusste, dass es kein einfacher Abend werden würde, war er um die Planänderung alles andere als traurig. Langsam folgte er also ihrer Einladung, setzte sich neben sie und stützte sich mit den Füßen am Boden ab. „Im Zweifel vertraust du dir ganz einfach selbst.“, lautete seine simple Antwort auf ihre Frage. „Damit macht man eigentlich nie etwas verkehrt.“ Ein zuversichtliches Lächeln galt ihr, welches noch ein Stück weiter heranwuchs, als sie über ihre Suche nach dem richtigen Begriff lachen musste. Waldkind. Ob sie ahnte, dass das unter anderem etwas war, was er wirklich an ihr schätzte? „Die Crew ist jung. Die meisten kennen sich nicht länger als ein, zwei Monate. Und mal abgesehen vom wagemutigen Überfall auf einen Gefangenentransporter gab es noch nicht wirklich etwas, woran sie hätte zusammenwachsen können. Keiner von diesen Leuten ist auf die Extremsituation getrimmt.“
Anders also als bei der Marine, wo die Rekruten dazu getrieben wurden, zu funktionieren statt zu denken. „Und wie wir beide wissen, wirkt sich Stress ganz unterschiedlich auf Menschen aus. Das ist nichts, worauf man sich vorbereiten kann. Ich fürchte also, uns bleibt nichts anderes, als der Dinge zu harren, die auf uns warten und dann das Beste daraus zu machen. Nur so kann die Crew wirklich zusammenwachsen.“ Liam verzog die Lippen, denn er ahnte, dass das absolut nicht das war, was Skadi hören wollte. Aber es gab keine Lösung, kein Wundermittel. Sie würden es schlicht und ergreifend versuchen müssen. „Aber wenn es hart auf hart kommt, würde glaube ich jeder von ihnen zuerst seine eigene Haut retten. Ich will es auch keinem von ihnen verübeln. Es sind und bleiben nun mal… Piraten.“
Enrique war sich vielen Dingen in seinem Leben bewusst. Doch außer ihr wusste wohl auf diesem Schiff niemand, dass er nur zu bereitwillig vor seiner wahren Natur davon rannte. Denn die war gleichsam temperamentvoll und kurzsichtig, wie der kontrollierte Teil berechnend und unterkühlt. Der ehemalige Offizier war in gewissen Belangen also wie ein Feuerwerkskörper mit kurzer Lunte und machte sich bei jeder Explosion in einem farbenprächtigen Funkenflug bemerkbar. Manche Konsequenzen wurden dann einfach ignoriert, in Kauf genommen oder gegen andere abgewogen. Und ganz gleich, wie oft man glaubte, auf alles gefasst zu sein, was da auch immer komme – das Leben hatte doch stets immer seine eigenen Pläne. Fest pressten sich die vollen Lippen aufeinander, während Liam fortfuhr und Skadi einen Moment in ihre Gedankenwelt abdriftete, die er mit seiner Ehrlichkeit schuf. Immer wieder, so musste sie sich eingestehen, vergaß sie, wie jung diese Bindungen an Board des Schiffes waren. Es stand somit außer Frage, wieso das Vertrauen dermaßen instabil und brüchig war. Liam widersprach ihr dabei nicht einmal, wenn sie es richtig deutete. Und wirkte seltsam misstrauisch wie realistisch in seiner Wortwahl. Ob er sich darüber jemals den Kopf zerbrochen hatte? Womöglich nicht. Wissen konnte sie es allerdings genauso wenig.
“Sich selbst vertrauen…“, flüsterte sie leise unter dem kurzen Schweigen, dass der Musiker wenig später brach. Irgendwie hatte es etwas Verbittertes an sich, das sie glatt Shanaya zugeschrieben hätte. Nur auf sich selbst zu vertrauen – das zog meist alte Wunden mit sich, die überhaupt dazu geführt hatten. Wunden, die so tief vernarbt waren, dass es Skadi kaum wunderte, das man mit dem Gefühl einer eingeschworenen Gemeinschaft nichts anfangen konnte. “Es sind und bleiben Menschen, Liam.“, korrigierte sie ihn, ohne auch nur eine Sekunde verstreichen zu lassen. Menschen waren in den tiefsten Ecken ihrer Selbst nichts anderes als Tiere. Tiere, die einen starken Überlebenswillen besaßen. Die einen sogar mehr, als die anderen. Es machte also keinen Unterschied, ob Pirat, Bäcker oder Soldat. “Aber Recht hast du wohl. Dann werde ich mich scheinbar einfach mit dieser Schlaflosigkeit anfreunden müssen, bis wir angekommen sind.“ Beinahe wirkte es so, als senkte sich ihre Stimme erschöpft hinab. Versank jedoch schlagartig in einem müden Lächeln, ehe der dunkle Haarschopf auf die Schulter neben sich glitt. Abermals mit geschlossenen Lidern und einem tiefen Atemzug. “Was war eigentlich die komplizierteste Situation, in die du damals mit Alex gestolpert bist? “ Gestolpert. Anders konnte es wohl kaum gewesen sein. Skadi glaubte kaum, dass Liam sich bereitwillig nach Ärger umsah. Wie sie ihn bisher kennengelernt hatte, mochte er sein entspanntes Leben auf Reisen ohne gewalttätige Auseinandersetzungen.
Ob er mit seiner Einschätzung bezüglich Enrique nun richtig lag oder nicht, ließ Skadi ihn nicht wissen. Aber auch, wenn sich Liam dessen nicht wirklich bewusst war, atmete er innerlich auf, als sie das Thema ruhen ließ. Es behagte ihm nicht, über Menschen zu reden, die er nicht wirklich kannte. Das schrie nämlich nur förmlich danach, sich in die Nesseln zu setzen. Als sie leise wiederholte, was er gesagt hatte, ahnte er nicht, dass sie es schwerer nahm, als er es meinte. Liam war kein Mensch, der Vertrauen mit Schwäche gleichsetzte. Er war kein glorreicher Einzelkämpfer, der sich von allem lossagte – ganz im Gegenteil. Aber er war lange genug unterwegs gewesen, um zu wissen, dass man vorsichtig sein musste und sich nicht blind auf alles verlassen sollte, was man sich wünschte. Es gab die Hand voll Menschen, denen er blind vertrauen konnte, ohne Zweifel an ihrem Rückhalt zu haben. Aber all das hatte Zeit benötigt. Und bei jedem von ihnen hatte es Liam anfangs nicht anders gehandhabt als so, wie er es der Jüngeren vorschlug. Als sie ihn unterbrach und korrigierte, huschte sein Blick augenblicklich in ihre Richtung. Natürlich hatte sie Recht, aber auch Menschen waren unterschiedlich. Und jeder einzelne dieser Crew hatte sich vermutlich von seinen Liebsten losgesagt, um besagter Einzelkämpfer zu sein. Ob nun freiwillig oder nicht. Und er hoffte für Skadi, dass sie ihr Vertrauen von keinem von ihnen enttäuschen ließ, weil es zu früh war. Auf ihre müde Aufgabe hin galt ihr ein freundschaftlicher Rempler mit der Schulter und ein zuversichtliches Lächeln. So einfach sollte sie nicht aufgeben. Irgendwas würde ihnen schon einfallen. Jedenfalls war Liam schwer bemüht, darüber nachzudenken, als Skadis Kopf auf seine Schulter glitt. Wie von selbst kippte auch seiner zur Seite. Wenn er schon nichts Hilfreiches zu sagen hatte, konnte er wenigstens physische Anwesenheit zeigen.
Ihre Frage überraschte ihn. Nachdenklich legte sich seine Stirn in Falten, kramte in seinen Erinnerungen, ehe ihm der Gedanke kam, sie darüber aufzuklären, dass das nicht zu vergleichen war. Alex und er waren mit der Zeit so sehr zusammengewachsen, als wären sie Brüder gewesen, die sich ein Leben lang gekannt hatten. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass es nicht das war, worum es der Nordskov wirklich ging. Ein sachtes Lächeln erschien der Erinnerung wegen auf seinen Lippen, ehe er tief einatmete. „Die Aktion mit Sineca damals hätte durchaus schief gehen können. Irgendein Betrunkener in einer Taverne hatte uns erzählt, dass sich Pelztierschmuggler auf der Insel versteckt hielten und auf ihre Händler warteten, um die Pelze in die Zweite Welt zu verschiffen. Dieser Kerl hatte erstaunlich gute Anhaltspunkte dafür, wo ihr Lager zu finden war und.. naja… In der nächsten Nacht haben wir uns in die Nähe geschlichen. Zum Glück war uns damals nicht so wirklich bewusst, dass sie keine Sekunde gezögert hätten, uns umzubringen, hätten wir sie vorher nicht ausgeschaltet. “ Sie hatten definitiv mehr Glück als Verstand gehabt. Liam lachte kurz. „Ich glaube, sie denken immer noch, dass sie von Kindern überwältigt wurden. Hast du schon mal mit einer Schleuder hantiert?“ So unwahrscheinlich war es eigentlich gar nicht, oder? Eine einfache Schleuder war schnell herzustellen und äußerst wirkungsvoll, wenn man damit grob zu zielen wusste.
„Viel absurder war aber eigentlich das Treffen mit Lubaya. Ein alter Fischer hatte uns gnädiger Weise angeboten, uns bis zur nächsten Insel mitzunehmen. Mit einem kleinen Zwischenstopp an einer kleinen, unbewohnten Inselgruppe, bei der er seine Reusen verteilt hatte. Alex und ich hatten die Gelegenheit genutzt, uns etwas umzusehen, während er seine Fallen kontrollierte. Als wir zum Anlegeplatz zurückkamen, war er weg. Anfangs dachten wir, wir wären einfach zu lange unterwegs gewesen und hatten vor, einfach zu warten, bis er wieder auftauchte. Was wir nicht wussten, war, dass ein Piratenschiff auf der anderen Seite der Insel angelegt hatte. Du kannst dir vermutlich vorstellen, wie überrascht wir waren, als plötzlich jemand über den Strand auf unser Lagerfeuer zu spazierte. Lubaya war ganz glücklich darüber, mal andere Menschen zu sehen. Will, ihr Bruder, allerdings weniger. Die Crew jagte uns gefühlt über die komplette Insel, weil man uns unterstellte, sie gekidnappt zu haben.“ Abermals lachte er. Auch da hatten sie eigentlich nur das Glück gehabt, dass sich Will irgendwann darauf eingelassen hatte, ihnen zuzuhören. Aber immerhin hatten sie sie danach bis zum nächsten Hafen mitgenommen, an dem sich auch Lubaya von der Crew getrennt hatte, um eine Zeit lang bei ihnen zu bleiben und dem Konflikt mit ihrem Bruder aus dem Weg zu gehen. „Aber eigentlich waren das eher weniger die Abenteuer, nach denen wir gesucht haben. Hast du das Meer beispielsweise schon mal leuchten sehen?“ Liam hob den Kopf und bedachte Skadi mit einem abwartenden Blick.
Wollte sie etwas mit ihrer Frage bezwecken? Offen und ehrlich hätte die Nordskov keine eindeutige Antwort darauf gewusst. Möglich war es, denn letzten Endes eröffnete jede noch so kleine Reaktion einen ersten Einblick auf das Wesen eines Menschen, mit sie sich umgab. Die Dunkelhaarige gab selten viel Wert auf das, was jemand sagte. Viele Menschen neigten dazu sich selbst und die Dinge ihres Lebens zu glorifizieren. Ernst nahm sie Versprechungen und hohle Phrasen also in den seltensten Fällen. Was Liam betraft, interessierte es sie viel mehr, in wie weit die Definition „jung und unerfahren“ auf ihn zutraf. Und nebenher wie er mit brenzligen Situationen in der Vergangenheit umgegangen war. Worauf sie sich im Fall eines Falles gefasst machen konnte, ohne mit einer bösen Überraschung im Regen stehen zu bleiben. Nur kurz schob sich der dunkle Haarschopf in den Nacken und hielt das müde Augenpaar auf die feinen Züge ihres Begleiters gerichtet. Eine Schleuder. Das erschien ihr ein ungewöhnliches Mittel zur Verteidigung. Doch offensichtlich hatte sie heute wie damals bei ihren Brüdern unterschätzt. Und Liams Miene nach zu urteilen, war es ausreichend gewesen, um mit einem übermäßigen Erfolg von dannen zu ziehen. Dass sie die seltsame Offenheit des Fremden aus seiner Geschichte für weniger schicksalhaft hielt, ließ sie jedoch unerwähnt. Schwieg mit einem amüsierten Zucken ihres Mundwinkelns und einem kurzen Schütteln ihres Kopfes, ehe sie die Wange allmählich zurückgleiten ließ und die Augen schloss.
Lubaya. Sie musste tief in ihren Erinnerungen kramen, ob sie diesen Namen schon einmal gehört hatte. Selbst wenn nicht, war die Verbindung des Dreiergespanns mehr als eindeutig. Und fast huschte Skadi ein Glucksen über ihre Lippen. “Ihr wart wohl ein ziemlich verrückter, bunter Haufen. Das klingt als wärt ihr einem Märchenbuch entsprungen.“ Langsam kippte der schmale Körper wieder zurück und fixierte seinen neuen Platz mit beiden Händen am Rand der Kiste. Kreiste den kurz geschnittenen Kopf mehrmals im Nacken, ehe sich die dunkelbraunen Augen auf den jungen Mann fixierten. “Ein Meer das leuchtet? Soetwas gibt es?“ Für einen kurzen Moment schoben sich die dichten Brauen zusammen und verliehen der feinen Miene der Nordskov einen skeptischen Hauch.
„Die Schamanin, der Berserker und… der Barde. Stimmt, ja. Klingt gar nicht mal so schlecht.“, gab er mit einem ehrlichen, amüsierten Lächeln zurück und senkte den Blick für einen flüchtigen Moment auf die Reling vor ihnen. Die Rollenverteilung war auch als Außenstehender nicht sonderlich schwer zuzuordnen, dazu reichte es vollkommen, einen von ihnen dreien zu kennen. Doch Liam hielt sich bewusst nicht sonderlich lange an diesen Erinnerungen auf, hob den Kopf ganz automatisch, als Skadi sich von seiner Schulter löste und spähte in den Himmel hinauf, kaum dass er sich an die andere Art von ‚Abenteuer‘ zu sprechen kam. Die Art von Abenteuer, die einem nicht die Abgründe der Menschheit sondern die Magie und Schönheit der Natur näherbrachten. Mit einem träumerischen Funkeln in den Augen nickte er der Jüngeren zu. Die Skepsis auf ihren Zügen konnte er nur zu gut nachvollziehen. Aber ausnahmsweise war es wirklich kein bloßer Versuch, ihr einfach schöne Träume zu malen. „Ich habe es auch erst einmal gesehen. Abends an einem Strand.“, gestand er, während er den Kopf zu Skadi herumwandte, ein Bruchteil der Faszination von damals auf seinen Zügen. „Es war… als wären die Wellen mit reinem Licht gemischt. Überall am Strand waren etliche, winzige blaue Lichter verstreut. Es war wirklich unglaublich. Vielleicht kann ich’s dir ja irgendwann mal zeigen.“ Er war aufgestanden, ohne dass er es direkt bemerkt hatte, hatte die Hände auf die Reling gestützt und sich ein wenig nach vorne gebeugt. „Ich habe schon Seemänner gehört, die das Ganze auf offener See beobachtet haben wollen. Stell dir das mal vor. Das muss sein, als würde man über die Wolken segeln. Vorausgesetzt natürlich, sie waren nicht betrunken und haben sich das Ganze nur eingebildet.“
Einen Augenblick hatte er die Wellen beobachtet, die die Sphinx auf der Wasseroberfläche schlug, ehe er sich mit gerunzelter Stirn zurückgleiten ließ und Skadis Miene mit vorsichtiger Skepsis bedachte. „Wir waren es übrigens nicht.“, versicherte er ihr sicherheitshalber mit einem Schmunzeln und lachte, während er sich wieder rückwärts gegen die Reling lehnte. Der träumerische Ausdruck verblasste bei Skadis erschöpften Anblick. Sein Kopf kippte zur Seite, während er nachdenklich die Lippen verzog und sie schließlich sanft mit dem Fuß anstupste. „Ich hab vielleicht eine Idee, um dich auf andere Gedanken zu bringen.“ Das gutgemeinte, verschmitzte Lächeln reichte bis zu seinen Augen hinauf, tatsächlich hatte er aber absolut nichts Unanständiges im Sinn.
Wann immer Liam derart zu lächeln begann, verkrampfte sich Skadis Magen unfreiwillig für einen Augenaufschlag. Nicht etwa, weil sie das Gefühl verabscheute, das sich auf seinen Zügen breit machte, sondern weil es in ihr selbst bittersüße Erinnerungen wach rief. Erinnerungen, die sie nie wieder neu aufleben lassen konnte. Dennoch hob sich ihr Mundwinkel sanft in die Höhe. In stiller Anerkennung seiner Worte und dessen, was sie immer wieder von neuem von seiner kleinen Welt kennenlernte.
Aufmerksam fixierten die Seelenspiegel aus dunklem Braun die feinen Züge des Älteren, ehe sie sich schluckend abwenden musste, um das warme Gefühl in ihrem Magen hinab zu kämpfen. Fast schon zeitgleich drang ein knappes Glucksen über ihre Lippen und zupfte unerbitterlich an ihren Mundwinkeln, die nur einen Herzschlag später mit einem amüsierten Lächeln für den Lockenkopf aufwarteten. “Du bist unfassbar süß, wenn du so redest.“ Auf eine Art und Weise, die sie unweigerlich an ihre jüngeren Geschwister erinnerte, wenn sie voller Faszination von ihren Erlebnissen berichteten. Und auch hier schien es der Nordskov, als durchlebte der Musiker das Bild in seinem Kopf erneut. Spürte just in diesem Moment jegliche Glücksgefühle von damals, die wie seinem Körper wie Alkohol berauschten.
“Aber ich glaube dir... auch wenn ich jetzt darauf bestehe, dass du mir irgendwann diese Lichter zeigst.“ Mit diesen Worten wandte sich der dunkle Haarschopf wieder gänzlich zu den braunen Locken herum. Kippte schlagartig zur Seite, als ihr Liam einen Ausweg aus ihrer dunklen Gedankenwolke anbot und verzog nachdenklich die Lippen, ehe sie überspitz seufzend tat, als würde sie sich geschlagen geben. “Gott Liam... wenn das so weitergeht würde ich dir sogar beim Weltuntergangsplans folgen.“ Fast zur Retour seines spitzbübischen Grinsens war sie es nun, die ihn mit der Spitze ihres Schuhs anstupste. Was er wohl vorhatte?
Dieses Mal konnte er sich nicht einmal gegen ihre ‚Anschuldigung‘ wehren. Liam war sich durchaus bewusst, dass er wie ein kleiner Junge wirken musste, der von seinem ersten großen Abenteuer erzählte. Alex hatte sich in seinem Rücken oft genug ins Fäustchen gelacht. Sein Lächeln brach nur für einen kurzen, flüchtigen Moment ab, in dem er sich dennoch überrascht über ihre Worte zu ihr herumwendete und ihr letztlich ein verlegenes Lächeln offenbarte, ehe er sich wieder dem Meer zu wandte und sich demonstrativ räusperte. „Ich hoffe, dass ich dir diesen Wunsch nicht ausschlagen muss.“, fuhr er ein wenig gefasster fort. Das Schmunzeln auf seinen Zügen verriet, dass er sich absichtlich zügelte. Allein der Gedanke daran, diesem Schauspiel ein weiteres Mal beiwohnen zu können, erfüllte ihn mit Vorfreude. Wenn man es teilen konnte, war es gleich noch aufregender. So oder so würden sie sich aber wohl gedulden müssen, selbst wenn ein leuchtendes Meer ihrer besorgten Miene mit Sicherheit Abhilfe verschafft hätte. So musste er sich eben etwas anderes einfallen lassen. Abwartend ruhte sein Blick auf seinen vagen Vorschlag hin auf ihrem Antlitz, bis sie sich geschlagen gab und etwas sagte, was so viel hätte bedeuten können. Liam gluckste. „Na, ganz so schlimm ist wie der Weltuntergang wird’s wohl nicht.“ Er zwinkerte und hielt ihr schließlich die Hand hin, kaum dass er sich von der Reling gelöst hatte. „Aber wenn ich mich recht erinnere, schulde ich dir noch das Ende einer Geschichte. Vielleicht ist es ja langweilig genug, um dir ein bisschen Schlaf zu bescheren.“ Aber nicht hier oben auf einer ungemütlichen Kiste, so viel war sicher. Dafür gab es weitaus bequemere Orte, selbst wenn die Hängematten wohl rausfielen, wenn sie niemanden wecken wollten. Blieb noch das gelagerte Heu bei den schlafenden Hühnern.



RE: Light up the dark - Liam Casey - 05.01.2020

Ausschlagen müssen. Skadi schmunzelte. Das war wieder der typische freiheitsliebende Liamaugenblick. Bereit für ein Abenteuer, aber nicht für Pläne, die weiter reichten als die nächsten Tage. Aber sie konnte damit leben. Würde ihn bei Gelegenheit noch einmal daran erinnern, so er denn noch Teil der Crew war. Einen Herzschlag lang musterten die dunklen Augen die ausgestreckten Finger, die nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht auf die Ihrigen warteten. Sahen dann allerdings erst mit hinauf schnippender Augenbraue in das Antlitz des Lockenkopfes, ehe sie seine Geste annahm und die Fingerspitzen über seinen Handteller gleiten ließen. “Du meinst, weil das mit dem Einschlafen bisher auch immer funktioniert hat?“ Der Unterton ihrer Stimme vermischte sich jäh mit dem allmählich breiter werdenden Grinsen ihrer Züge. Denn die Nordskov konnte sich bei weitem nicht daran erinnern, dass sie aus Langeweile in einen angenehmen Halbschlaf gefallen war. Dennoch erhob sie sich langsam von ihrer Kiste. Hielt neben dem Älteren inne und verschränkte ihre Finger zwischen den seinen. “Also… wo soll’s hingehen?”
Er dachte keinen Augenblick daran, dass sie sein Angebot ausschlagen würde. Vielleicht, weil es für ihn mehr als selbstverständlich war, zumindest einen Versuch zu starten, sie auf andere Gedanken zu bringen. Vielleicht auch, weil sie bislang keine derartige Geste in den Wind geschlagen hatte, wenn er sie angeboten hatte. Nicht, dass Liam dem viel Bedeutung zugesprochen hätte. Er handhabte es andersherum immerhin auch nicht anders und für ihn gehörten derlei Gesten und Berührungen zum Zwischenmenschlichen – besonders zu Freundschaften - genauso dazu wie die verbale Kommunikation – ein Stück bedeutender vielleicht sogar. Immerhin sagten Taten mehr als Worte. Wenn man sie richtig zu deuten wusste. Was ihn allerdings einen Herzschlag lang überraschte, war die Tatsache, dass sie seine gereichte Hand nicht bloß als Antrieb nahm, sich von ihrem Platz zu erheben. Stattdessen vergruben sich ihre Finger zwischen seinen und vermittelten ein Vertrauen, welches er mit einem kurzen, unbewussten Zucken der Mundwinkel zur Kenntnis nahm, welches nahtlos in ein schuldbewusstes Schmunzeln überging. „Du weißt noch nicht, wie langsam ich reden kann.“ Während sich seine Finger um die Hand der Jüngeren legten, griff er mit der freien Hand nach der Kerze, die er mit hinauf gebracht hatte. „An den momentan wohl ruhigsten Ort auf diesem Schiff. Abgesehen von den Hühnern vielleicht.“, erklärte er sein Ziel und führte sie schließlich zurück zur Tür, die unter Deck führte. „Scheint, als seien wir hier auch für’s erste vom Schnarchen der anderen verschont.“, stellte er fest, als sie unten angekommen waren. Im Kerzenschein konnte man die Hühner erkennen, die leise gackernd ihren Protest darboten. Doch der Musiker wandte sich recht schnell von ihnen ab und löste Skadis Hand aus seinem Griff, um die kleine Lichtquelle etwas abseits des Strohberges auf den Boden zu stellen.
Langsam reden. Na wenn er dabei nicht mal selbst einschlief. Mit einem amüsierten Schnauben stieß die Nordskov ihre Schulter gegen seine. Konnte sich das spitzbübische Grinsen auf den Lippen kaum verkneifen, während sie ihm langsam folgte und die Wärme seiner Berührung als vollkommen selbstverständlich hinnahm. Wie leicht ihr diese Gesten mittlerweile fielen, bemerkte sie nicht einmal mehr selbst. Es gehörte zur Normalität zwischen ihnen, die sich ebenso leicht und schwerelos anfühlte, wie die zu Enrique. Schweigend folgte sie dem Lockenkopf die Treppen hinab. Warf beiläufig einen prüfenden Blick auf die schemenhaften Hängematten im Dunkeln, aus deren Abgründen leise Schlafgeräusche drangen. Ein mattes Lächeln begleitete ihre Züge. Ruhte selbst dann auf den vollen Lippen, als sich Liam von ihr löste und die Kerze auf dem Boden drapierte. “Es wundert mich, dass wir jedes Mal die Einzigen hier unten sind.“ Nicht, dass es sie störte, ganz im Gegenteil. Doch verwunderte es sie angesichts der Tatsache, dass man sonst auf diesem Schiff selten ungestört war. Wie von selbst glitt der schmale Körper bereits auf den Boden und streckte fast schon erschöpft Arme und Beine von sich. Ließ ein halb ersticktes Aufatmen erklingen und die dunklen Augen im Halbdunkel nach dem Lockenkopf Ausschau halten. “Wo waren wir das letzte Mal eigentlich stehen geblieben? Ich kann mich irgendwie nur noch an den König und die Blume erinnern.“
Offenbar glaubte Skadi nicht, dass er seine Androhung in die Tat umsetzen würde. Und damit hatte sie vollkommen recht. Er würde den Teufel tun und solch eine schöne Geschichte durch fehlplatzierte Rhetorik verunglimpfen. Allein schon, weil sie für ihn persönlich mehr Bedeutung besaß, als es nach außen hin wohl den Anschein machte. Wie oft hatte seine Mutter ihm die Geschichte erzählt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war? Ihm damit Werte vermittelt und sich gleichzeitig selbst mit der Ruhe therapiert, was Liam derart nie wirklich bewusst gewesen war. Damals nicht. Doch mittlerweile war er älter, reicher an Erfahrung und durchaus in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen. Besonders dann, wenn er vermutlich das gleiche Schicksal teilte. Und trotzdem hatte er die Geschichte in guter Erinnerung behalten, um an die schönen Momente zu denken. Schöne Momente, die er auch gerne mit Skadi teilte, selbst wenn sich seine eigene Rolle mittlerweile geändert hatte. „Vermutlich purer Zufall bisher. Vielleicht hat sich der Lagerraum noch nicht so sehr als Geheimversteck herumgesprochen.“, hielt er es für möglich und wandte sich um, kaum dass die Kerze am Boden flackernd zur Ruhe kam. „Ich glaube, wir haben auch beim König aufgehört, ja.“ Ohne zu zögern ließ er sich neben der Dunkelhaarigen am Fuße des aufgehäuften Strohs nieder, gähnte fast auf Ansage, kaum dass er lag und wandte den Kopf danach zu Skadi herum.
„Auf dem ersten Planeten, den der kleine Junge also besuchte, lebte der König, der herrschte. Kurz, bevor er den zweiten Planeten erreichte, rief ihm bereits eine Stimme voller Vorfreude von weitem entgegen, kaum dass der Bewohner ihn erblickt hatte. Auf ihm lebte ein Eitler. ‚Ah, es kommt Besuch von einem Bewunderer!‘ Der kleine Junge grüßte und erfreute sich am lustigen Anblick des Hutes des Eitlen. ‚Er ist zum Grüßen.‘, erklärte der Eitle. ‚Er ist zum Grüßen, wenn mir Leute Beifall zollen. Aber leider kommt hier niemand vorbei.‘ Der Junge verstand nicht ganz, doch der Eingebildete ermutigte ihn, in die Hände zu klatschen. Kaum, dass er getan hatte, wie ihm geheißen, neigte der Eitle bescheiden den Kopf und zog den Hut. Spannender, als sein Besuch beim König, war es allemal, aber nach fünf Minuten wurde dem Jungen dieses monotone Spiel zu langweilig. ‚Was muss man tun, damit der Hut fällt?‘, fragte er, doch der Eitle überhörte ihn. Eitle Menschen wollen immer nur Lobreden hören. ‚Bewunderst du mich wirklich sehr?‘, fragte er den Jungen. ‚Was heißt „bewundern“?‘, fragte er zurück. ‚„Bewundern“ heißt, zu erkennen, dass ich der beste Mann, der am besten gekleidete, der reichste und intelligenteste auf der Welt bin.‘ Doch er war vollkommen alleine auf seinem Planeten. ‚Bitte! Bewundere mich irgendwie!‘ Der kleine Junge zuckte mit den Schultern und tat ihm den Gefallen, ehe er verschwand und sich dachte, wie sonderbar die großen Leute doch waren. Der dritte Planet wurde von einem Säufer bewohnt. Er blieb nur kurz, doch es reichte, um ihn in tiefste Trauer zu versetzen. ‚Was machst du hier?‘, hatte er ihn gefragt, als er ihn zwischen vollen und leeren Flaschen vorgefunden hatte. ‚Ich trinke.‘, erklärte er düster. ‚Und warum trinkst du?‘, war die nächste Frage, die er stellte. ‚Um zu vergessen.‘ – ‚Was willst du vergessen?‘ – ‚Ich will vergessen, dass ich mich schäme.‘, antwortete der Säufer und ließ den Kopf hängen. ‚Für was schämst du dich?‘ – ‚Ich schäme mich, weil ich saufe!‘, offenbarte der Säufer und hüllte sich in tiefes Schweigen. Der Junge verschwand überstüzt und wunderte sich, wie sonderbar die großen Leute waren.“ Vielsagend blickte er seiner Zuhörerin entgegen.
Mit einem Schmunzeln rollte sich die Nordskov auf die Seite und beobachtete aus dunklen Augen den Lockenkopf, wie er neben ihr Platz nahm und mit seiner Geschichte fortfuhr. Lauschte dem leisen Rascheln der Hühner einige Meter weiter. Hörte das leise Plätschern vereinzelter Wellen gegen den Schiffsrumpf. Verstrickte sich in die Vorstellung der kleinen Welten und dessen Bewohner, die Liam beschrieb und runzelte die Stirn für einen Augenblick. “Sonderbar ist für diese Zwei kein Ausdruck.“, murmelte sie und wandte den aufgestützten Kopf gen Decke. “Klingt als wären sie in ihrem Trott dermaßen gefangen, dass sie von allein wohl nicht heraus kommen.“ Und dabei wäre es bei Letzterem ein Leichtes aus diesem Teufelskreis heraus zu brechen. Zumindest in den Augen der Nordskov, die ihre Aufmerksamkeit auf die matt erleuchteten Züge Liams richtete. “Ist er noch mehr solcher Menschen begegnet?“



RE: Light up the dark - Skadi Nordskov - 05.01.2020

Das Lächeln auf seinen Zügen war ehrlich. Vermutlich, weil er damals ähnliche Gedanken gehabt hatte, als er die Geschichte das erste Mal erzählt bekommen hatte. Sonderbar. Bis ihm bewusst gemacht wurde, dass es der Realität entsprach – mehr, als ihm lieb war. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, während er Skadi einen Augenblick dabei beobachtete, wie sie an die Decke blickte. Er ließ der Realität nicht allzu viel Zeit, sich wieder um sie herum auszubreiten, kam stattdessen auf ihre Frage zurück und malte das Bild seiner Geschichte weiter mit Worten. Eine direkte Antwort blieb er ihr schuldig. Über die Sonderheit der übrigen Figuren durfte sie selbst urteilen.
„Auf dem vierten Planeten lebte ein Geschäftsmann, viel zu beschäftigt, als dass er aufsehen konnte, als der kleine Junge an ihn herantrat und ihn darauf aufmerksam machte, dass seine Zigarette längst ausgegangen war. ‚Keine Zeit, sie wieder anzuzünden.‘, presste er zwischen wirren Zahlen und Berechnungen heraus. ‚Das macht dann Fünfhunderteine Millionen sechshunderzweiundzwanzig Tausend siebenhunderteinunddreißig. Uff.‘ – ‚Fünfhundert Millionen was?‘, fragte der Junge. Der Geschäftsmann schien überrascht, dass er überhaupt noch da war. ‚… Fünfhundert Millionen… Ich habe es vergessen. So viel Arbeit! Ich habe keine Zeit für Kindereien!‘, und er begann erneut zu zählen und zu rechnen. ‚Fünfhundert Millionen was?‘, wiederholte der Junge, der nie in seinem Leben eine Frage vergessen hatte, die er bereits gestellt hatte. Der Geschäftsmann hob den Kopf. ‚Seit vierundfünfzig Jahren lebe ich auf diesem Planeten und bin erst drei Mal gestört worden. Einmal vor zweiundzwanzig Jahren von einem Käfer. Er machte einen fürchterlichen Lärm und ich irrte mich bei meiner Berechnung! Beim zweiten Mal vor elf Jahren hatte ich einen Rheimaanfall. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich hatte keine Zeit zum Herumbummeln! Ich bin ein ernsthafter Mensch. Und das dritte Mal ist jetzt! Ich sagte fünfhunderteine Millionen…-‘ – ‚Millionen von was?‘ Allmählich begriff er Mann, dass er keine Hoffnugn auf Ruhe hatte. ‚Millionen von den Dingern, die wir manchmal am Himmel sehen. Die goldenen Dinger, die die Faulen tagträumend machen. Aber ich bin ein ernsthafter Mensch! Ich habe keine Zeit zum Träumen.‘ – ‚Ah, Sterne!‘, verstand nun der kleine Junge. ‚Und was willst du mit diesen fünfhundert Millionen Sternen?‘ – ‚ dann Fünfhunderteine Millionen sechshunderzweiundzwanzig Tausend siebenhunderteinunddreißig. Ich bin ein ernsthafter Mensch, ich bin äußerst genau.‘ – ‚Und was willst du mit diesen Sternen tun?‘ – ‚Was ich damit tun kann? … Nichts, ich besitze sie.‘ Der kleine Junge wirkte überrascht. ‚Du besitzt die Sterne? Aber ich kenne einen König, der…‘, doch er wurde unterbrochen. ‚Könige besitzen nichts, sie herrschen über etwas. Das ist was ganz anderes.‘ – ‚… Was nützt es dir, diese Sterne zu besitzen?‘ – ‚Sie machen mich reich!‘ Der kleine Junge verstand nicht, was ihm dieser Reichtum brachte. ‚Ich kann andere Sterne kaufen, wenn sie gefunden werden.‘ Ein bisschen war er wie der Säufer, stellte er fest. Aber er hatte noch ein paar Fragen an ihn. ‚Wie kann man Sterne besitzen?‘ Der Geschäftsmann schaute derweil ein bisschen mürrisch. ‚Wem gehören sie?‘, entgegnete er. Der kleine Junge wusste es nicht. ‚Dann gehören sie mir, denn ich dachte als erster daran.‘ – ‚Und das reicht?‘ – ‚Natürlich. Wenn du einen Diamanten findest, der niemandem gehört, gehört er dir. Wenn du eine Insel entdeckst, die niemandem gehört, gehört sie dir. Ich besitze die Sterne, denn niemand vor mir hatte jemals daran gedacht, sie zu besitzen.‘ – ‚Das ist wahr.‘, entgegnete der Junge. ‚Und was stellst du damit an?‘ – ‚Ich verwalte sie, zähle und zähle sie immer wieder. Das ist schwierig! Aber ich bin ein ernsthafter Mann.‘ Der kleine Junge war aber noch immer nicht zufrieden. ‚Wenn ich einen Seidenschal besitze, kann ich ihn mir um den Hals binden und mit mir nehmen. Wenn ich eine Blume sehe und sie pflücke, dann kann ich sie mitnehmen. Aber Sterne kann man nicht pflücken!‘ – ‚Aber ich kann sie auf eine Bank legen. Ihre Anzahl auf ein Stück Papier schreiben und es in einer Schublade mit Schlüssel verschließen.‘ – ‚Das ist alles?‘ Dem Geschäftsmann war das genug. Fast schon poetisch, fand der kleine Junge. Aber ernst war es für ihn nicht. Er hatte von ernsthaften Dingen ganz andere Vorstellungen als die Ideen der großen Leute. ‚Ich besitze eine Blume.‘, begann er schließlich. ‚Ich gieße sie jeden Tag. Und drei Vulkane, die ich jede Woche kehre. Ich kehre sogar den erloschenen Vulkan. Man weiß ja nie. Es ist gut für meine Vulkane und gut für mich. Und auch gut für meine Blume, dass ich sie besitze. Aber du nützt den Sternen gar nichts…‘ Der Geschäftsmann riss den Mund auf, blieb aber stumm, da er keine Antwort fand. Die großen Leute sind tatsächlich sehr sonderbar, dachte er bei sich und reiste weiter.

Auf dem fünften Planet lebte ein Laternenanzünder. Der Planet war klein, er hatte gerade genug Platz für den Mann und die Laterne. Der kleine Junge konnte sich gar nicht erklären, wozu man auf einem Planeten ohne Haus und Bevölkerung eine Laterne benötigte. Doch selbst, wenn dieser Mann verrückt war, war er weniger verrückt als der König, der Eitle, der Geschäftsmann oder der Säufer. Er hatte eine sinnvolle Aufgabe. Wenn er die Laterne anzündete, war es wie ein neuer Stern oder eine Blume. Wenn er sie löschte, wiegte er den Stern oder die Blume in den Schlaf. Das war ein schöner Beruf. Einer, der nützlich war, weil er schön war. Er grüßte den Laternenanzünder respektvoll. ‚Warum hast du gerade deine Lampe ausgelöscht?‘, fragte er. ‚Das ist eine Anordnung! Guten Morgen.‘ – ‚… Was bedeutet das?‘ – ‚Das bedeutet, meine Lampe auszulöschen. Guten Abend.‘ Er zündete sie wieder an. ‚Und warum hast du sie jetzt wieder angezündet?‘ – ‚Das ist eine Anordnung.‘, wiederholte der Laternenanzünder. ‚Das verstehe ich nicht.‘ – ‚Das ist einfach erklärt. Eine Anordnung ist eine Anordnung. Guten Morgen.‘ Und schon löschte er seine Lampe wieder und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. ‚Ich habe eine schreckliche Arbeit! Früher war sie vernünftig. Ich zündete am Morgen die Lampe an und löschte sie am Abend. Den Rest des Tages hatte ich frei und den Rest der Nacht konnte ich schlafen.‘ – ‚Und was hat sich an der Anordnung geändert?‘ – ‚Nichts! Das ist ja das schlimme! Von Jahr zu Jahr dreht sich der Planet schneller und schneller. Die Anordnung ist so geblieben. Und jetzt macht er jede Minute eine Umdrehung. Ich bekomme keine Sekunde Ruhe! Ich drehe und wende mich einmal in jeder Minute!‘ – „Das ist lustig. Ein Tag dauert bei dir eine Minute.‘ - ‚Das ist nicht lustig! Seit wir miteinander reden ist ein Monat vergangen!‘ - ‚Ein Monat?‘, wiederholte der Junge überrascht. ‚Ja. Dreißig Minuten. Dreißig Tage! Guten Abend.‘ Und wieder zündete er die Laterne an. Der Junge sah ihm bei der Arbeit zu. Er mochte den Laternenanzünder, der so brav seine Anordnungen ausführte. Er erinnerte sich an die Sonnenuntergange, die er selbst immer beobachtet hatte, indem er seinen Stuhl nachgezogen hatte. ‚Weißt du, ich kenne einen Weg, wie du dich ausruhen kannst.‘, eröffnete er schließlich. Denn man konnte sowohl treu als auch faul zugleich sein. ‚Dein Planet ist so klein, mit drei Schritten bist du herum. Du musst nur langsam genug gehen, um immer in der Sonne zu bleiben. Wenn du dich ausruhen willst, dann gehst du einfach und der Tag dauert so lange, wie du möchtest.‘ – ‚Das ist nicht besonders schlau, denn ich liebe den Schlaf.‘ – ‚Dann ist es zwecklos.‘, stimmte ihm der Junge zu. ‚Es ist zwecklos. Guten Morgen.‘ Und er löschte seine Lampe wieder aus. Voller Bedauern setzte er seine Reise fort. Der Laternenanzünder würde wohl von allen anderen verachtet werden. Vom König, vom Eitlen, vom Säufer und vom Geschäftsmann. Aber er war der einzige, der ihm nicht lächerlich erschien. Vielleicht, weil er an andere Dinge dachte als an sich selbst. Er war jemand, den er gern zu seinem Freund gemacht hätte. Aber sein Planet war so klein. Zu klein für zwei. Der Junge gestand es sich nicht ein, dass er diesem einen Planeten nachweinte. Vor allem wegen der tausendvierhundertundvierzig Sonnenuntergänge in vierundzwanzig Stunden.

Der sechste Planet war zehnmal größer. Ein alter Mann wohnte dort, der gewaltige Bücher schrieb. ‚Da kommt ein Entdecker!‘, rief er, als er den Jungen erblickte. Der Junge setzte sich auf den Tisch und ruhte sich etwas aus. Er war immerhin schon so viel gereist. ‚Wo kommst du her?‘, wollte der Alte wissen. ‚Was ist das für ein dickes Buch? Was machen Sie hier?‘ – ‚Ich bin Geograph. Ich bin Gelehrter, der alle Meere, Flüsse, Städte, Berge und Wüsten kennt.‘ – ‚Das ist ja interessant. Das ist endlich ein echter Beruf! Ihr Planet ist sehr schön. Gibt es auch Ozeane?‘, wollte er wissen. ‚Das weiß ich nicht.‘ Der kleine Junge wirkte enttäuscht. ‚Und Berge?‘ – ‚Auch das weiß ich nicht.‘ – ‚Und Städte und Flüsse und Wüsten?‘ – ‚Kann ich auch nicht sagen.‘ – ‚Aber Sie sind doch Geograph!‘ – ‚Das stimmt. Aber kein Entdecker. Der Geograph ist zu wichtig, um durch die Welt zu streifen. Er verlässt sein Büro nie. Er empfängt Entdecker, befragt sie und notiert ihre Erinnerungen. Und erscheinen ihm die Erinnerungen bedeutungsvoll, stellt er Untersuchungen über den Charakter des Entdeckers an. Ein Entdecker, der lügt, wäre eine Katastrophe für die Bücher! Oder einer, der zu viel trinkt. Denn Säufer sehen doppelt. Der Geograph würde zwei Berge vermerken, wo nur einer ist. Wenn der Charakter eines Entdeckers sich als gut herausstellt, dann macht man Untersuchungen über seine Entdeckung. Man erwartet, dass er Beweise liefert.‘ Da riss der Geograph plötzlich die Augen auf. ‚Du kommst von weit her! Beschreibe mir deinen Planeten!‘ Er holte eifrig einen Bleistift hervor, um die Geschichten zu notieren. Man notierte immer zuerst mit Bleistift und schrieb die Geschichten mit Tinte nieder, wenn der Entdecker Beweise erbracht hatte. ‚Oh, bei mir zuhause ist es nicht sonderlich spannend. Es ist klein. Ich habe drei Vulkane. Zwei aktive und einen erloschenen. Aber man kann ja nie wissen.‘ – ‚Man kann ja nie wissen‘, sagte der Geograph. ‚Ich habe auch eine Blume.‘ – ‚Wir notieren Blumen nicht.‘ – ‚Aber wieso nicht? Sie sind das Schönste!‘ – ‚Weil Blumen vergänglich sind.‘ – ‚Was bedeutet vergänglich?‘ – ‚Geographiebücher sind die wertvollsten Bücher. Sie veralten niemals. Es ist sehr selten, dass ein Berg seine Lage ändert. Oder ein Ozean sein Wasser entleert. Wir notieren uns die ewigen Dinge.‘ Der kleine Junge unterbrach ihn. ‚Aber erloschene Vulkane können aufwachen. Was bedeutet vergänglich?‘ – ‚Ob Vulkane erloschen sind oder nicht, ist für uns einerlei. Worauf es ankommt, ist der Berg. Er ändert sich nicht.‘ Abermals wiederholte er seine Frage. Er hatte noch nie auf eine Frage verzichtet, die er bereits gefragt hatte. ‚Es bedeutet „von baldigem Verschwinden bedroht“.‘ – ‚… Ist meine Blume von baldigem Verwunden bedroht?‘ Der Geograph nickte wie selbstverständlich. Meine Blume ist vergänglich, dachte der Junge. Und sie hatte nur vier Dornen, um sich gegen die Welt zu wehren. Er hatte sie alleine zurückgelassen. Aber er fasste Mut. ‚Was raten Sie mir, was soll ich besuchen?‘ – ‚Den Planeten Erde. Sie hat einen guten Ruf.‘ Und der Junge ging fort und dachte an seine Blume.

Der siebte Planet war also die Erde. Und sie war kein gewöhnlicher Planet. Es gab hunderte Könige, siebentausend Geographen, neunhunderttaused Geschäftsleute, siebeneinhalb Millionen Säufer, dreihundertelf Millionen Eitle und alles in allem rund zwei Milliarden Erwachsene. Und eine regelrechte Armee von vierhundertzweiundsechstigtausendfünfhundertundelf Laternenanzündern. Doch als der kleine Junge die Erde erreichte, war er überrascht, dass er niemanden zu Gesicht bekam. Doch schließlich schlängelte sich etwas in der Farbe des Mondes über den Sand. Der Junge grüßte höflich. Die Schlange grüßte zurück. ‚Auf welchem Planeten bin ich gefallen?‘, fragte er. ‚Auf die Erde.‘, bekam er die Antwort. ‚Gibt es hier denn keine Menschen auf der Erde?‘, wollte er wissen. ‚Hier ist die Wüste. Es gibt keine Menschen in der Wüste. Die Erde ist groß.‘ Der Junge ließ sich auf einem Felsen nieder und spähte zum Himmel hinauf. ‚Ich frage mich, ob die Sterne leuchten, damit jeder seinen eigenen irgendwann wiederfindet. Sieh, mein Planet ist direkt über uns, aber er ist so weit weg.‘ Auch die Schlange spähte nun hinauf. ‚Er ist schön. Was machst du hier?‘ Die Antwort des Jungen fiel recht simpel aus. ‚Ich habe Schwierigkeiten mit einer Blume.‘ Die Schlange nickte verstehend und sie schwiegen. ‚Wo sind die Menschen? Es ist so einsam hier in der Wüste‘, fragte der Junge schließlich. ‚Oh, es ist auch bei den Menschen einsam.‘, erklärte die Schlange. Der Junge betrachtete sie eine Zeit lang. ‚Du bist ein lustiges Tier. So dick wie ein Finger…‘ Die Schlange wirkte unbeeindruckt. ‚Aber ich bin mächtiger als der Finger eines Königs. Der Junge lächelte. ‚Du bist nicht besonders mächtig… Du hast nicht einmal Beine… Du kannst nicht einmal reisen.‘ – ‚Ich kann dich weiter bringen als ein Schiff.‘, sagte die Schlange und wickelte sich wie ein goldener Armreif um den Knöchel des Jungen. ‚Wen auch immer ich berühre, schicke ich zu der Erde zurück, aus der er kam. Aber du bist rein, du kommst von einem Stern. Du tust mir leid auf dieser Erde aus Granit, weil du so schwach bist. Eines Tages helfe ich dir, wenn du dich nach deinem Planeten zurücksehnst. Ich kann -‘ Der Junge unterbrach sie. ‚Oh, ich habe verstanden. Aber warum sprichst du immer in Rätseln?‘ – ‚Ich löse sie alle‘, sagte die Schlange und sie schwiegen.

Auf seinem Weg durch die Wüste begegnete er nur einer Blume. Einer recht kargen Blume. Er grüßte sie, sie grüßte zurück. ‚Wo sind die Menschen?‘, fragte er höflich. Die Blume hatte einst eine Karawane gesehen. ‚Die Menschen? Es gibt glaube ich sechs oder sieben. Vor einigen Jahren sah ich sie. Aber man weiß nie, wo sie sind. Der Wind verweht sie. Sie haben keine Wurzeln. Das ist sehr schlecht für sie.‘ Und sie verabschiedeten sich wieder voneinander. Schließlich trieb ihn sein Weg auf einen hohen Berg. Viel höher als die drei Vulkane, die er von zuhause kannte und ihm nur bis zu den Knien reichten. Von einem Berg wie diesem musste er doch die gesamte Menschheit überschauen können. Aber er sah weit und breit nicht mehr als die Nadeln spitzer Felsen. ‚Guten Tag.‘, sagte er. ‚Guten Tag… Guten Tag… Guten Tag…‘ rief das Echo zurück. ‚Wer bist du?‘ – ‚Wer bist du… Wer bist du… Wer bist du…‘, antwortete das Echo. ‚Seid meine Freunde, ich bin allein.‘ – ‚Ich bin allein… Ich bin allein… Ich bin allein…‘, antwortete das Echo. Was für ein eigenartiger Planet, dachte er sich. Alles trocken, voller Bergspitzen und salzig. Und die Menschen wiederholten, was man ihnen sagte. Aber zuhause hatte er seine Blume gehabt.“

Liam war dazu übergegangen, einfach weiterzuerzählen und wagte erst jetzt einen Seitenblick zu Skadi hinüber in der Hoffnung, dass sie bei all ihrer Müdigkeit bereits jetzt ihren wohlverdienten Schlaf gefunden hatte. In diesem Fall hätte er sich die weitere Geschichte für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben, doch die Dunkelhaarige spähte noch immer lauschend an die Decke empor. Der Musiker lächelte in Anbetracht des Funkelns in ihren Augen, das ihn ein bisschen an ihn selbst erinnerte. Damals, als er sich geweigert hatte, einzuschlafen, um mehr zu hören. Zufrieden mit dem Augenblick verschränkte er einen seiner Arme hinter dem Kopf, während seine andere Hand fast automatisch nach der Hand der Jüngeren tastete. Sein Blick wanderte wieder zum Holz über ihnen, als er weiter zu erzählen begann und irgendwann schließlich zum Ende kam. Eine bedächtige Stille trat ein, wie er es immer empfand, wenn eine Geschichte ihr Ende fand. Eine eigenartige Waage zwischen Vollkommenheit und Leere. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis er sich regte und langsam den Kopf herumwandte, um zu sehen, ob Skadi das Ende überhaupt noch mitbekommen hatte.
Je länger Liam von der Welt der sonderbaren Erwachsenen erzählte, desto warmer wuchs das Lächeln auf ihren Lippen. Wer auch immer ihm diese Geschichte immer und immer wieder erzählt hatte, war sich wohl sicher gewesen, dass der kleine träumerische Lockenkopf die Wahrheit in all diesen Erzählungen verstehen würde. So er denn selbst angesichts seiner Jahre zu diesen „Erwachsenen“ gehörte. Skadi konnte sich jedoch ausmalen wie wenig er davon im Inneren war. Fast schon erschrocken lugten die dunklen Augen von der Decke an ihre Seite hinab, als Liams warme Finger die ihren umschlossen. Sie war so sehr in seine Erzählung vertieft, dass sie ihn trotz seiner angenehmen Stimme vollkommen ausgeblendet hatte. Beinahe entschuldigend schenkte sie ihm ein nahezu liebevolles Lächeln und festigte den Griff ihrer Finger. Rückte daraufhin ein paar Zentimeter zur Seite, um den Kopf entspannt gegen seine Schulter zu lehnen und wieder den Blick an die dunkle Decke zu richten. Immer weiter rückten die Bilder in die Ferne. Die Geräusche verstummten vollkommen um sie herum. Für einen Moment fühlte sich Skadi federleicht, gar schwerelos. Ohne zu bemerken, dass sie irgendwann, inmitten der schillernden Beschreibung von hellem Dünensand bei Nacht eingeschlafen war.
Er hätte sich tatsächlich daran gewöhnen können. Daran, seine einfachen Geschichten an diejenigen weiterzutragen, die daran Freude fanden. Ruhe, Zufriedenheit und einfach mal die Zeit, sich um nichts Gedanken zu machen. Das besorgte Gesicht der Nordskov hatte sich mit der Zeit ein wenig gewandelt. Die Schatten waren blasser geworden, bedeutungsloser, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, doch er fragte nicht nach. Stattdessen erzählte er weiter und ließ die Nähe zwischen ihnen einfach geschehen, als wäre es etwas, was sie schon seit Ewigkeiten so handhabten. Als würden sie sich nicht gerade mal seit einigen Wochen kennen. Mit ihren Fingern zwischen seinen und dem warmen Gefühl ihres Kopfes an seiner Seite, hatte er die Ruhe, sich keine Gedanken zu machen und sich ganz und gar auf das einzulassen, was er zu sagen hatte, bis die Geschichte schließlich endete. Gemeinsam mit Skadis Schlaflosigkeit wie es schien, denn die Dunkelhaarige schlummerte friedlich an seine Schulter gelehnt und schien nicht mitbekommen zu haben, dass er mittlerweile in Schweigen verfallen war. Ein unscheinbares Lächeln schlich sich auf seine Lippen, welches er selbst nicht einmal bewusst wahrnahm, während er ihre schlafende Gestalt einen Augenblick beobachtete, dann wandte er den Blick wieder zurück an die dunkle Decke über ihnen. Eine gefühlte Ewigkeit lang, wagte er es kaum, sich zu bewegen, um die Jüngere ja nicht zu wecken, hatte aber auch kein großes Bedürfnis danach, die Situation aufzulösen. Ihre Nähe hinterließ eine wohlige Zufriedenheit in seinem Inneren, bis sie schließlich von einer Unruhe abgelöst wurde, die Liam nicht recht zu deuten wusste. Kurz noch blieb er liegen und versuchte, sie einfach zu ignorieren, bis er doch begann, sich vorsichtig von ihrer Seite zu lösen, ohne sie aufzuwecken. Mit leisen Schritten schlich er nach oben zu seiner Hängematte, um kurz darauf mit seiner Decke zurückzukehren und sie sachte über der schlafenden Skadi auszubreiten. Diese Nacht würde er auch ohne Decke auskommen, wenn es bedeutete, dass sie damit ein bisschen Auszeit von ihren Sorgen bekam. Abermals galt ihr ein kurzes, warmes Lächeln, während er die Hand kurz auf ihren zugedeckten Oberschenkel legte und ihr eine ‚Gute Nacht.‘ zuflüsterte, ehe er selbst nach oben verschwand.