05.01.2020, 17:37
Ausschlagen müssen. Skadi schmunzelte. Das war wieder der typische freiheitsliebende Liamaugenblick. Bereit für ein Abenteuer, aber nicht für Pläne, die weiter reichten als die nächsten Tage. Aber sie konnte damit leben. Würde ihn bei Gelegenheit noch einmal daran erinnern, so er denn noch Teil der Crew war. Einen Herzschlag lang musterten die dunklen Augen die ausgestreckten Finger, die nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht auf die Ihrigen warteten. Sahen dann allerdings erst mit hinauf schnippender Augenbraue in das Antlitz des Lockenkopfes, ehe sie seine Geste annahm und die Fingerspitzen über seinen Handteller gleiten ließen. “Du meinst, weil das mit dem Einschlafen bisher auch immer funktioniert hat?“ Der Unterton ihrer Stimme vermischte sich jäh mit dem allmählich breiter werdenden Grinsen ihrer Züge. Denn die Nordskov konnte sich bei weitem nicht daran erinnern, dass sie aus Langeweile in einen angenehmen Halbschlaf gefallen war. Dennoch erhob sie sich langsam von ihrer Kiste. Hielt neben dem Älteren inne und verschränkte ihre Finger zwischen den seinen. “Also… wo soll’s hingehen?”
Er dachte keinen Augenblick daran, dass sie sein Angebot ausschlagen würde. Vielleicht, weil es für ihn mehr als selbstverständlich war, zumindest einen Versuch zu starten, sie auf andere Gedanken zu bringen. Vielleicht auch, weil sie bislang keine derartige Geste in den Wind geschlagen hatte, wenn er sie angeboten hatte. Nicht, dass Liam dem viel Bedeutung zugesprochen hätte. Er handhabte es andersherum immerhin auch nicht anders und für ihn gehörten derlei Gesten und Berührungen zum Zwischenmenschlichen – besonders zu Freundschaften - genauso dazu wie die verbale Kommunikation – ein Stück bedeutender vielleicht sogar. Immerhin sagten Taten mehr als Worte. Wenn man sie richtig zu deuten wusste. Was ihn allerdings einen Herzschlag lang überraschte, war die Tatsache, dass sie seine gereichte Hand nicht bloß als Antrieb nahm, sich von ihrem Platz zu erheben. Stattdessen vergruben sich ihre Finger zwischen seinen und vermittelten ein Vertrauen, welches er mit einem kurzen, unbewussten Zucken der Mundwinkel zur Kenntnis nahm, welches nahtlos in ein schuldbewusstes Schmunzeln überging. „Du weißt noch nicht, wie langsam ich reden kann.“ Während sich seine Finger um die Hand der Jüngeren legten, griff er mit der freien Hand nach der Kerze, die er mit hinauf gebracht hatte. „An den momentan wohl ruhigsten Ort auf diesem Schiff. Abgesehen von den Hühnern vielleicht.“, erklärte er sein Ziel und führte sie schließlich zurück zur Tür, die unter Deck führte. „Scheint, als seien wir hier auch für’s erste vom Schnarchen der anderen verschont.“, stellte er fest, als sie unten angekommen waren. Im Kerzenschein konnte man die Hühner erkennen, die leise gackernd ihren Protest darboten. Doch der Musiker wandte sich recht schnell von ihnen ab und löste Skadis Hand aus seinem Griff, um die kleine Lichtquelle etwas abseits des Strohberges auf den Boden zu stellen.
Langsam reden. Na wenn er dabei nicht mal selbst einschlief. Mit einem amüsierten Schnauben stieß die Nordskov ihre Schulter gegen seine. Konnte sich das spitzbübische Grinsen auf den Lippen kaum verkneifen, während sie ihm langsam folgte und die Wärme seiner Berührung als vollkommen selbstverständlich hinnahm. Wie leicht ihr diese Gesten mittlerweile fielen, bemerkte sie nicht einmal mehr selbst. Es gehörte zur Normalität zwischen ihnen, die sich ebenso leicht und schwerelos anfühlte, wie die zu Enrique. Schweigend folgte sie dem Lockenkopf die Treppen hinab. Warf beiläufig einen prüfenden Blick auf die schemenhaften Hängematten im Dunkeln, aus deren Abgründen leise Schlafgeräusche drangen. Ein mattes Lächeln begleitete ihre Züge. Ruhte selbst dann auf den vollen Lippen, als sich Liam von ihr löste und die Kerze auf dem Boden drapierte. “Es wundert mich, dass wir jedes Mal die Einzigen hier unten sind.“ Nicht, dass es sie störte, ganz im Gegenteil. Doch verwunderte es sie angesichts der Tatsache, dass man sonst auf diesem Schiff selten ungestört war. Wie von selbst glitt der schmale Körper bereits auf den Boden und streckte fast schon erschöpft Arme und Beine von sich. Ließ ein halb ersticktes Aufatmen erklingen und die dunklen Augen im Halbdunkel nach dem Lockenkopf Ausschau halten. “Wo waren wir das letzte Mal eigentlich stehen geblieben? Ich kann mich irgendwie nur noch an den König und die Blume erinnern.“
Offenbar glaubte Skadi nicht, dass er seine Androhung in die Tat umsetzen würde. Und damit hatte sie vollkommen recht. Er würde den Teufel tun und solch eine schöne Geschichte durch fehlplatzierte Rhetorik verunglimpfen. Allein schon, weil sie für ihn persönlich mehr Bedeutung besaß, als es nach außen hin wohl den Anschein machte. Wie oft hatte seine Mutter ihm die Geschichte erzählt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war? Ihm damit Werte vermittelt und sich gleichzeitig selbst mit der Ruhe therapiert, was Liam derart nie wirklich bewusst gewesen war. Damals nicht. Doch mittlerweile war er älter, reicher an Erfahrung und durchaus in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen. Besonders dann, wenn er vermutlich das gleiche Schicksal teilte. Und trotzdem hatte er die Geschichte in guter Erinnerung behalten, um an die schönen Momente zu denken. Schöne Momente, die er auch gerne mit Skadi teilte, selbst wenn sich seine eigene Rolle mittlerweile geändert hatte. „Vermutlich purer Zufall bisher. Vielleicht hat sich der Lagerraum noch nicht so sehr als Geheimversteck herumgesprochen.“, hielt er es für möglich und wandte sich um, kaum dass die Kerze am Boden flackernd zur Ruhe kam. „Ich glaube, wir haben auch beim König aufgehört, ja.“ Ohne zu zögern ließ er sich neben der Dunkelhaarigen am Fuße des aufgehäuften Strohs nieder, gähnte fast auf Ansage, kaum dass er lag und wandte den Kopf danach zu Skadi herum.
„Auf dem ersten Planeten, den der kleine Junge also besuchte, lebte der König, der herrschte. Kurz, bevor er den zweiten Planeten erreichte, rief ihm bereits eine Stimme voller Vorfreude von weitem entgegen, kaum dass der Bewohner ihn erblickt hatte. Auf ihm lebte ein Eitler. ‚Ah, es kommt Besuch von einem Bewunderer!‘ Der kleine Junge grüßte und erfreute sich am lustigen Anblick des Hutes des Eitlen. ‚Er ist zum Grüßen.‘, erklärte der Eitle. ‚Er ist zum Grüßen, wenn mir Leute Beifall zollen. Aber leider kommt hier niemand vorbei.‘ Der Junge verstand nicht ganz, doch der Eingebildete ermutigte ihn, in die Hände zu klatschen. Kaum, dass er getan hatte, wie ihm geheißen, neigte der Eitle bescheiden den Kopf und zog den Hut. Spannender, als sein Besuch beim König, war es allemal, aber nach fünf Minuten wurde dem Jungen dieses monotone Spiel zu langweilig. ‚Was muss man tun, damit der Hut fällt?‘, fragte er, doch der Eitle überhörte ihn. Eitle Menschen wollen immer nur Lobreden hören. ‚Bewunderst du mich wirklich sehr?‘, fragte er den Jungen. ‚Was heißt „bewundern“?‘, fragte er zurück. ‚„Bewundern“ heißt, zu erkennen, dass ich der beste Mann, der am besten gekleidete, der reichste und intelligenteste auf der Welt bin.‘ Doch er war vollkommen alleine auf seinem Planeten. ‚Bitte! Bewundere mich irgendwie!‘ Der kleine Junge zuckte mit den Schultern und tat ihm den Gefallen, ehe er verschwand und sich dachte, wie sonderbar die großen Leute doch waren. Der dritte Planet wurde von einem Säufer bewohnt. Er blieb nur kurz, doch es reichte, um ihn in tiefste Trauer zu versetzen. ‚Was machst du hier?‘, hatte er ihn gefragt, als er ihn zwischen vollen und leeren Flaschen vorgefunden hatte. ‚Ich trinke.‘, erklärte er düster. ‚Und warum trinkst du?‘, war die nächste Frage, die er stellte. ‚Um zu vergessen.‘ – ‚Was willst du vergessen?‘ – ‚Ich will vergessen, dass ich mich schäme.‘, antwortete der Säufer und ließ den Kopf hängen. ‚Für was schämst du dich?‘ – ‚Ich schäme mich, weil ich saufe!‘, offenbarte der Säufer und hüllte sich in tiefes Schweigen. Der Junge verschwand überstüzt und wunderte sich, wie sonderbar die großen Leute waren.“ Vielsagend blickte er seiner Zuhörerin entgegen.
Mit einem Schmunzeln rollte sich die Nordskov auf die Seite und beobachtete aus dunklen Augen den Lockenkopf, wie er neben ihr Platz nahm und mit seiner Geschichte fortfuhr. Lauschte dem leisen Rascheln der Hühner einige Meter weiter. Hörte das leise Plätschern vereinzelter Wellen gegen den Schiffsrumpf. Verstrickte sich in die Vorstellung der kleinen Welten und dessen Bewohner, die Liam beschrieb und runzelte die Stirn für einen Augenblick. “Sonderbar ist für diese Zwei kein Ausdruck.“, murmelte sie und wandte den aufgestützten Kopf gen Decke. “Klingt als wären sie in ihrem Trott dermaßen gefangen, dass sie von allein wohl nicht heraus kommen.“ Und dabei wäre es bei Letzterem ein Leichtes aus diesem Teufelskreis heraus zu brechen. Zumindest in den Augen der Nordskov, die ihre Aufmerksamkeit auf die matt erleuchteten Züge Liams richtete. “Ist er noch mehr solcher Menschen begegnet?“