05.01.2020, 17:34
Light up the dark
So good to see youWhen you light up the dark
I could sit here forever
But I know that you can't
Nacht des 02. Mai 1822
Skadi Nordskov & Liam Casey
Wie so oft in den letzten Tagen hockte Skadi an der Reling und starrte auf die endlose Dunkelheit. In nur wenigen Tagen, wenn nicht sogar Stunden, würden sie ihr neues Ziel erreichen. Und während sich unter die Freude, endlich an Land zurück zu kehren, sukzessive dieses drückende, unangenehme Gefühl einer Vorahnung schlich, wurden ihre Träume wüster und dunkler und ihr Schlaf verschwindend. Nicht einmal das späte Lesen bei Kerzenschein änderte etwas daran. Und das monotone Schnarchen der Besatzung wirkte zum ersten Mal seit langem wieder wie eine schellende Alarmglocke auf ihre Müdigkeit. Somit verbrachte die Nordskov erneut eine Nacht damit aufs Meer zu starren und die Silhouette am Steuer zu ignorieren. In der Hoffnung, dass sie irgendwann einfach vor Erschöpfung einschlief und sich ihr Körper eigenmächtig holte, was er brauchte. Mit seinem Seufzen sank der Kopf auf die auf das Holz gebetteten Unterarme, während die Beine in einem üblichen Schneidersitz auf der Kiste ruhten, die sie kurz zuvor an die Reling geschoben und sich darauf niedergelassen hatte.
Er konnte es tatsächlich kaum abwarten. Je näher sie ihrem vermeintlichen Ziel kamen, desto größer wurde die Vorfreude auf das, was sie erwarten würde. Darauf, die Insel zu erkunden, die Läden zu durchstöbern und vor allem: Die Ruhe, die man auf einem Schiff mit so vielen Personen unmöglich finden konnte. Er freute sich darauf, mit sich allein zu sein. Nicht reden zu müssen, nicht denken und einfach dorthin zu gehen, wo es ihn hinzog. Der erste Tag würde ihm gehören. In all der Aufregung würde ihn sowieso niemand vermissen. Er hatte den heutigen Abend ein bisschen mit Zeichnen verbracht, hatte ein Buch als feste Unterlage auf seine Knie gebettet und still in seiner Hängematte gelegen. Jetzt allerdings ließ er es leise zu Boden gleiten und richtete sich auf. Mit der Kerze in der Hand, die eben noch auf seiner Kiste gestanden hatte, trat er hinüber in die Kombüse, füllte sich einen Becher mit Wasser und stieg schließlich die Treppen zum Deck empor, um etwas frische Luft zu schnappen. Oben angekommen fiel sein Blick zuerst auf die Gestalt am Steuer, dann erst auf die Person, die einsam an der Reling saß. Nicht, dass er sie gesucht hätte, aber er hatte gewusst, dass er sie hier finden würde, kaum dass ihm unbewusst aufgefallen war, dass ihre Hängematte diese Nacht wohl ein weiteres Mal leer blieb. „Wusste ich doch, dass du hier bist.“, kündigte er sich leise an, bevor er sich neben ihr über die Reling beugte und aufs Meer hinaus sah. „Immer noch keine Ruhe gefunden? Oder ist es was anderes, was dich nachts wach hält?“ Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, doch sein Blick blieb vorerst aufs Meer gerichtet.
Sie reagierte kaum, als der Ältere an Deck trat und mit leisen Worten in ihrem Rücken auftauchte. Womöglich weil die Anwesenheit der Crew in den letzten Wochen so sehr zu Normalität für sie geworden war, dass es keinen Grund mehr gab, mit aufgestellten Nackenhärchen prüfend nach dem Störenfried in ihrem toten Winkel zu schauen. Hätte es jemals einer von ihnen auf sie abgesehen, war er unheimlich dumm, die unendlichen Chancen dafür nicht bereits an Land genutzt zu haben. Somit huschten die dunklen Augen nur für einige Herzschläge zur Seite, um die schwach erkennbare Silhouette zu mustern und sich dann abermals der Ferne des dunklen Horizonts zu widmen. Ungewollt entwich der Nordskov abermals ein Seufzen. Fast als wollte ihr Unterbewusstsein die kaum merkliche Sorge in den Worten des Lockenkopfes mit trotzigem Selbstbewusstsein zerschlagen. “Kennst du dieses drückende Gefühl in der Brust, das dich selbst dann nicht verlässt, wenn du versuchst an etwas anderes zu denken? Je näher wir dem Festland kommen, desto schlimmer schnürt sich alles in mir zusammen… und das, obwohl ich mich so sehr auf den Sand zwischen meinen Zehen freue. Keine Ahnung ob ich diesem Bauchgefühl vertrauen soll. Allerdings hat es mich bisher selten im Stich gelassen.“ Ungewohnt ernst ruhte die Dunkelhaarige auf ihrer Kiste und verengte für einen kurzen Augenblick die geschwungenen Augenbrauen, dessen Weg deutliche Sorgenfalten auf ihre Stirn zeichnete. Hatte sie zu Marinezeiten öfter derart ruhig und in sich gekehrt an Deck gesessen und aufs Meer gestarrt, fühlte sie sich nun, umringt von diesem verrückten und irgendwie liebenswerten Haufen, als säße sie auf einem gefährlichen Präsentierteller und wusste nicht, wessen gierige Blicke auf sie gerichtet waren. Und es wurmte sie. Mit jedem Tag, der verstrich noch mehr. “Und ich glaube, dass wir noch lange nicht bereit für eine große Auseinandersetzung sind…“
Er war unvoreingenommen. Was auch immer sie beschäftigte, er würde nicht danach bohren, wenn sie nicht darüber reden wollte. Er wusste längst, dass es vieles gab, was in ihr vor ging. Genug für etliche schlaflose Nächte. Eigentlich also hätte er sich darüber wundern müssen, sie nicht viel öfter als die letzten Tage derart irgendwo sitzen zu sehen. Aber das war Liam ebenso nicht bewusst, wie es vermutlich auch Skadi nicht bewusst war. „Ja, kenne ich.“, war das erste, was er auf ihre Worte antwortete. Besser vermutlich, als er es selbst gerne wahrhaben wollte, doch er dachte nicht weiter als zu dem, was seine Lippen verließ. Hier ging es zum Glück nicht um ihn und das, was ihm schlaflose Nächte bescherte. „Hmm.“ Er hatte ein paar Herzschläge lang geschwiegen, ehe der nachdenkliche Laut leise das Geräusch der Wellen untermalte. Ehrlich gemeint und ernsthaft um eine Lösung bemüht, die sich leider nicht ganz so einfach in der Dunkelheit am Horizont abzeichnete, wie es ihnen beiden lieb gewesen wäre. „Und jetzt malst du dir alle möglichen Szenarien aus, die auf uns zu kommen können.“ Eine reine Mutmaßung auf ihre Sorge hin. Vielleicht, weil er es so getan hätte, hätte ihn der Gedanke nicht in Ruhe gelassen. „Ich meine… Uns scheint niemand zu folgen. Das sind doch eigentlich schon mal gute Aussichten. Für Aspen hat sich seit Anfang an niemand interessiert, obwohl er öffentlich neben seinen Fahndungspostern posiert und ansonsten gehe ich davon aus, dass Lucien und Talin schlau genug sind, die Marine nicht unnötig herauszufordern.“, überlegte er optimistisch, aber trotz des Witzes noch immer ernst. Er hatte keinen Grund, ihrem Gefühl zu misstrauen. Und Skadi offensichtlich noch weniger. „Aber wir sollten vorsichtig sein, das stimmt.“ Man wusste nie, was einen erwartete und gerade nach den Geschehnissen auf Milui hatte sich gezeigt, dass es nie verkehrt war, etwas vorsichtiger zu sein. „Hast du das öfter, wenn es auf das Festland zu geht?“ Seine Stimme war noch immer leise, angepasst an die Uhrzeit und die Ruhe, die auf der Sphinx eingekehrt war. Langsam drehte er den Kopf und besah sich das besorgte, erschöpfte Profil der Frau neben sich.
Genau genommen malte sie sich keine Szenen aus. Versuchte viel mehr das Gefühl zu unterdrücken, dass wie ein zu großer Stein in ihrem Mahlwerk festsaß. Doch ganz konnte sie dem Lockenkopf wohl kaum widersprechen. Denn das was sie tat, hatte durchaus etwas Bildhaftes an sich. Über kurz oder lang musste sie sich mit den Konsequenzen auseinander setzen, die gewisse Ausgänge ihrer Streifzüge haben würden. Besser sie befasste sich jetzt, als irgendwann damit, wenn die Situation ihr nur noch den pragmatischen Verstand an den Kopf warf und sie etwas sagte oder tat, dass womöglich jemanden verletzen konnte. Jemanden, der ihr wichtig war – ganz gleich mit welcher Inbrunst sie sich nach wie vor dagegen sträubte. Skadi schwieg, während Liam sprach. Sog den Tonus seiner Stimme in sich auf und spürte, wie ihre Beine taub wurden. Sie musste wohl bereits länger auf dieser Kiste sitzen, als ihr bewusst war. “Hast du dir jemals Gedanken darum gemacht, dass wir eigentlich überhaupt nicht wissen, mit wem wir hier unterwegs sind?“ Im selben Moment, in dem die Worte über ihre Lippen huschten, wandte sich der dunkle Haarschopf bereits herum und fixierte die so vertraute Silhouette aus dunklen Augen. “Mag sein, dass das nicht von Bedeutung ist und jeder eine Chance auf ein neues Leben verdient hat… aber…“ Für einen Augenblick spannte sich der schmale Brustkorb an und hielt die Luft in sich gefangen, die die Nordskov zum Reden brauchte.
Dann jedoch seufzte sie und ließ den Haarschopf hinab senken. Wandte ihn wie zuvor in Richtung Meer und löste ihre kribbelnden Beine aus dem Schneidersitz. “Irgendwann wird man Enrique suchen, Liam. Irgendjemand wird wissen, dass er überlebt hat. Und es würde mich nicht wundern, wenn das zu Problemen sondergleichen führen wird. Du weißt selbst, wie er ist. Vielleicht kannst du dir ja ungefähr vorstellen, wie viele Freunde er bei der Marine hatte. Ein pflichtbewusster Kerl, der Widerworte gibt. Ich befürchte, dass sie ihm eine Mittäterschaft unterstellen könnten, sollte heraus kommen, dass er noch lebt. Und sind wir mal ehrlich… er hat leider kein Talent dafür sich äußerlich zu verkleiden. Nicht so wie ich.“ Ein mattes Lächeln huschte in ihren Mundwinkel. Verflog jedoch, kaum dass sich ihr Kinn auf die Reling bettete und die Lider hinab sanken. “Ich kann nur hoffen, dass sich mein Bauchgefühl täuscht… denn ich weiß nicht, wie ich die anderen einschätzen soll. Wenn es hart auf hart kommt… wem kann ich außer dir vertrauen?“ Nur langsam ließ sich der hoch gewachsene Körper zurück gleiten. Rückte ein paar Zentimeter zur Seite, um Liam schweigend Platz auf ihrer Kiste zu machen und mit einem knappen Seitenblick zu ihm hinauf zu sehen. Seine Frage hinterließ ein sanftes Schmunzeln auf ihren Zügen. Entlockte ihr sogar ein halbherziges Schnauben, während die langen Beine über der Kante baumelten und mit leichten schwingenden Bewegungen das Kribbeln darin abzuschütteln versuchten. “Du kennst mich… ich bin ein Waldkind. War ich schon immer. Was für dich das Fernweh ist, ist für mich das… Naturweh?“ Unweigerlich musste sie selbst über ihre eigene Wortkreation auflachen.