06.05.2019, 09:41
Zugegeben. Seine Frage folgte reiner Berechnung. Er wollte etwas wissen. Etwas ganz bestimmtes. Nämlich ob sie schon fertig war – oder ihr Rachefeldzug gerade erst begonnen hatte. Denn dann teilten sie einen gemeinsamen Feind. Zumindest im weitesten Sinne. Und wenn dem tatsächlich so war, dann konnten sie sich gegenseitig noch weit mehr als nützlich sein. So oder so würde ihre Antwort nichts an seinem Angebot ändern. Sie konnte bleiben, wenn sie es wollte.
Die Stille hinter ihm ließ Lucien innehalten. Er blieb stehen, wandte sich halb zu ihr zurück. In diesem Moment setzte sie mit einem Sprung über ein Loch im Erdboden hinweg und schloss zu ihm auf, sodass sie sich nun wieder unmittelbar gegenüber standen. Ihre Antwort lockte ein vollkommen in sich ruhendes Lächeln auf seine Lippen. Dieses Mal lag kein Spott, kein Amüsement darin – sondern Wissen. Er nahm ihre Worte hin, ohne ihr zu unterbreiten, dass er dieses Gefühl besser kannte, als sie wahrscheinlich glaubte. Doch es stand in dem Ausdruck, der auf seinen Zügen lag.
Zwei Dinge in seinem Leben trieben ihn an. Die Liebe zu seiner Schwester und sein alles verzehrendes Verlangen nach Vergeltung. Alles andere spielte keine Rolle. Er wollte Blut sehen, wollte sich Zeit lassen und es genießen. Jede einzelne Sekunde. Und nichts – absolut gar nichts – würde zwischen ihm und seiner Rache stehen. Am Ende, wenn er sowohl das eine als auch das andere verlor, gab es nichts mehr. Keine Versprechen einzulösen, keinen Sinn, dem er würde folgen wollen. Nur Leere. Sein Leben endete dann.
„Deine Ehrlichkeit weiß ich zu schätzen.“
Gedankenverloren wandte er sich den Überresten zu, vor denen die Jägerin in die Knie gegangen war, ging langsam um die eingestürzte Mauer herum, entfernte sich jedoch nicht mehr als ein paar Schritte, während sein Blick musternd über behauenen Stein und bemooste Fugen wanderte.
Es klang ein bisschen danach, als wäre Harper ihr einziges Ziel gewesen. Als hätte sie tatsächlich bekommen, was sie gewollt hatte. Warum sonst war es jetzt schon da? Das Loch, wo vorher der Sinn gelegen hatte? Doch der Dunkelhaarige zog es vor, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es würde sich noch zeigen, wenn sie eine Weile auf der Sphinx geblieben war. Wenn sie ihrer Vergangenheit begegnete. Denn irgendwann kam sie gewiss. Sie holte jeden von ihnen ein.
Lucien hob den Blick, richtete die grünen Augen auf die junge Frau nur wenige Schritte entfernt und wieder schlich sich ein kleines Schmunzeln auf seine Züge.
„Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten. Ich schätze, 'Kaladar' heißt du nicht wirklich, oder?“