01.05.2019, 22:15
Dass ihre Koordination allmählich etwas nachließ, fiel ihm nicht bewusst auf. Vermutlich, weil es ihm ähnlich ging. Der Alkohol rauschte angenehm in seinem Kopf und mischte sich in Denken und Sprechen, ohne dass er es wirklich wahrnahm. Das einzige, was ihm zwar auffiel, ihn aber nicht störte, war der langsam verschwimmende Rand seines Sichtfelds. Passte schon, denn was von Bedeutung war, hatte er ja doch meistens eher direkt im Blick. Bei ihrer Anschuldigung lachte er auf, hob den freien Zeigefinger und korrigierte sie, indem er an ihr Gespräch vom Anfang anknüpfte.
„Ich sag’s doch, der ‚arme Straßenköter‘-Look zieht.“
Offensichtlich. Hätte er ihn besser (aus-) zu nutzen gewusst, hätte er es im Leben vielleicht doch weiter bringen können, wenn es sein Ziel gewesen wäre. So aber paarte er diese Vorzüge einfach mit seiner ehrlichen Art und nahm, was ihm in den Schoß fiel, ohne heimtückische Pläne schmieden zu müssen. Dass die Nacht vielleicht gar nicht mehr so jung war, wie sie sich gerade wünschten, kam ihm nicht, als sie auf ihre Bekanntschaft anstießen und er sich schließlich bereitwillig von ihr in die Straßen der Stadt entführen ließ. Die Straßen waren bis auf einzelne, ähnlich angeheiterte Grüppchen inzwischen leer. Als Skadi von seiner Hand abließ, steckte er sie kurzerhand in die Tasche, hielt mit der anderen Hand den Henkel seines Kruges umfasst und schlenderte gelassen neben der Jüngeren her. Der Rausch schien sie nur noch trinkfreudiger zu machen und so hatte sie bald schon auch diesen Krug geleert und ihn kurzerhand in einer aufgetriebenen Tasche verstaut, die zurückgelassen an einem Stand auf einen neuen Besitzer gewartet hatte. Bis sie den Waldrand erreicht hatten, der sie näher an die Sphinx brachte, hatte aber auch er sich das letzte Bier gänzlich einverleibt. Er hatte das Gefühl für die Zeit verloren und achtete auch nicht unbedingt genau darauf, dass sie auf dem richtigen Pfad blieben. Während Skadi den Stamm eines umgestürzten Baumes erklomm und darüber balancierte, machte er einen erstaunlich treffsicheren Schritt über die kahle Krone eines begrabenen Jungbaumes, die sich als ein bisschen störrisch erwies. Eine Sekunde später aber hatte er sich erfolgreich durch das Geäst gekämpft und spazierte an Skadis Seite weiter in den Wald hinein. Liam schmunzelte geräuschvoll bei ihrer Bemerkung, machte noch einmal zwei große, hüpfende Schritte nach vorne und befand sich schließlich mit ihr sowohl auf gleicher als auch dank des Stammes auf Augenhöhe.
„Du hattest es nicht anders gewollt.“, erinnerte er sie und zuckte in betrunken-übertriebener Manier mit den Schultern. „Aber ich kann dir sagen – mir hat der Kopf auch noch zwei Tage später gebrummt.“ Er lachte kurz, sprang über einen Stein am Boden und kam kurz wankend wieder auf den Beinen auf. „Außerdem -“, begann er und betonte das Wort, um ihm mehr Bedeutung zuzusprechen. „- hättest du etwas ganz anderes verdient gehabt für deine zweifelhafte ‚Kampftechnik‘.“
Sie wusste mit Sicherheit, worauf er anspielte. Hätte er bislang mehr von ihr mitbekommen, hätte er sich vielleicht weniger weit aus dem Fenster gelehnt. Denn dann wäre ihm bewusst gewesen, dass er in einem Zweikampf zweifellos den Kürzeren ziehen würde. Im Gebüsch vor ihnen raschelte es verdächtig, doch Liam lief unbeirrt weiter, als hätte er es nicht wahrgenommen. Stattdessen lag sein Blick noch immer auf Skadis erheitertem Antlitz, welches sich aus der Dunkelheit schälte. Die Nacht war klar, die Bäume noch nicht belaubt, was ihnen genügend Licht zur Verfügung stellte.
„Aber wenn ich mich recht erinnere, waren wir am Ende doch quitt, oder? Jeder hatte dem anderen einmal angeboten, kampflos aufzugeben?“
Eigentlich war es wirklich lustig, nun hier gemeinsam zu laufen und sich an den Moment ihres ersten Treffens zurückzuerinnern, was mehr als unkonventionell ausgefallen war.