21.04.2019, 20:34
Die meiste Zeit hatte er die Blonde in Begleitung ihres Soldatenfreundes gesehen. Es war selbstverständlich, dass sie die beiden einen weitaus schwereren Stand an Board hatten als die anderen, die entweder keine andere Wahl in ihrem Leben mehr hatten, als unter Piratenflagge zu segeln oder sich freiwillig ihrer Truppe angeschlossen hatten. Skadi – Kaladar – und Enrique waren alles andere als freiwillig bei ihnen gelandet. Sie hatten einst auf der anderen Seite gekämpft und auch, wenn sie den beiden wohl ihr Leben verdankten, bedeutete das noch lange nicht, dass man ihnen blind vertrauen konnte. Der schmerzhafte Hieb ihres Knies in seinen empfindlichen Teilen hatte sich definitiv in seinem Hirn eingebrannt. Aber so, wie er jetzt keinen Grund mehr hatte, den Dolch gegen sie zu erheben, hatte sie keinen Grund mehr, sich gegen ihn verteidigen zu müssen. Inzwischen waren sie keine Schiffbrüchigen mehr auf der Sphinx sondern freiwillige Crewmitglieder, die sich ebenso beweisen mussten wie alle anderen. Und Liam war der letzte, der über ihre Talente und Schwächen urteilen würde. Nicht nur, weil er sich durchaus darüber im Klaren war, dass er selbst im Vergleich weitaus weniger nützliche Eigenschaften besaß, was beispielsweise den Kampf anging. Seine Talente lagen in Abenteuerlust und dem Mut, Dinge einfach auszuprobieren, selbst wenn sie großes Potential dazu hatten, ihn umzubringen. Skadi schien bei diesem Prozess allerdings bessere Karten zu haben als Enrique, der in seiner Rolle als ehemaliger Offizier ein wenig festgefahren und steif war.
Liams Lächeln wurde für einen Moment eine Spur breiter, als sie beteuerte, ‚nur‘ einen Bogen zu besitzen. Nichts, was man unbedingt als Nachteil darstellen konnte, wie er fand. Und definitiv etwas, was nicht unpraktisch zu beherrschen war. Er hatte es nicht so mit der Ruhe und der Geduld, auf den passenden Moment zu warten. Er zählte eher zu denen, die sich besser im Nahkampf verteidigten, wenn sie nicht irgendwie geschickt dem Kampf entgehen konnten.
„Warum ‚nur’? Ist doch im Grunde auch ein Instrument, das beherrscht werden will. Nur eben nicht für die Musik.“, kommentierte er mit einem Schulterzucken, ehe er sich nach Egbert umsah, um Skadi seinen Wohltäter zu zeigen. Und dieses Mal konnte er nicht anders, als amüsiert aufzulachen. Er überlegte nicht lange, bis seine Antwort seinen Mund verließ. „Tja, manchmal zieht der ‚arme Straßenköter‘-Look eben noch.“, zwinkerte er.
Mit der freien Hand schob er sich die Locken aus der Stirn, ehe er einen weiteren Schluck aus dem gespendeten Humpen nahm. Für einige Augenblicke lag sein Blick wieder auf den Musikern, die ausgelassen die gemeinsame Zeit feierten, ehe die Stimme der Blonden wieder an seine Ohren drang. Ja, wieso kaufte er sich nicht wieder eine Geige? Der mäßig gefüllte, geflickte Lederbeutel, den er an der Innenseite seiner Stoffhose befestigt hatte, kannte die Antwort.
„Ich hatte lange eine. Keine besonders Wertvolle, aber eine, die mein Vater damals eben auftreiben und bezahlen konnte. Wenn man sie pflegt, kommt man gegen die Meeresluft gut an, man sollte bloß kein zu weiches, oder anfälliges Holz wählen. Aber irgendwann hat’s finanziell einfach nicht mehr gereicht. So viel Essen konnte ich gar nicht heimlich in meine Taschen stecken, wie ich gemusst hätte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als das Kind irgendeines reichen Adligen glücklich zu machen.“, erzählte er. „Egberds Geige ist beispielsweise aus Schwarznuss. Sehr edel. Sehr kostbar und – behandelt – auch sehr robust. Sehr schönes Holz. Und die Nüsse eignen sich für sehr schönen Schmuck.“
Nicht, dass er glaubte, dass ‚Schmuck‘ ein gutes Thema war, bloß weil sie eine Frau war. Er sprach frei heraus und seine Mutter hatte oft aus den wallnussähnlichen Früchten kleine Schmuckstücke gemacht, um sie zu verkaufen.