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And you will try to do what you did before
Liam & Skadi
Szenen-Informationen
Charaktere Gast
Datum 16 Juni 1822
Ort auf der Sphinx
Tageszeit nachts
Crewmitglied der Sphinx
für 250 Gold gesucht
dabei seit Apr 2016
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#1
And you will try to do what you did before
Pull the wool over your eyes for a week or more
Let your family take you back to your original mind

Nacht des 16. Juni 1822
Liam Casey & Skadi Nordskov


Ein leichter Nebelschleier tanzte über den Wellen und reflektierte das schwache Licht, dass die schmale Mondsichel am Himmel auf sie hinabwarf. Die Nacht und das Meer war ruhig, nur am dunklen Horizont bäumten sich nach und nach mehr Wolken auf, die in den nächsten Stunden Regen versprachen. Nach all den Monaten, die er nun an Bord der Sphinx war, hatte er die Nachtwachen und die damit einhergehende Stille zu schätzen gelernt. Eine halb niedergebrannte Kerze erleuchtete den Platz an Deck, an dem er sich mit Alex‘ Gitarre niedergelassen hatte – so weit weg wie möglich von ihrem Schlafgemach, in dem ein Teil der Crew versuchte, etwas Ruhe zu finden. Zwischen der gleichmäßigen Symphonie der See, die am Rumpf der Sphinx brach, war die leise Melodie kaum zu vernehmen. Inzwischen war sein Kopf zu voll mit Ideen, die er ausprobieren wollte, als dass er sich weiter davor hätte drücken können, ein Instrument in die Hand zu nehmen. Die Gitarre seines Freundes erschien ihm dabei weitaus dankbarer als seine Geige. Und bislang hatte sich noch niemand darüber beschwert, sich von seiner nächtlichen, leisen Übung gestört zu fühlen. Zugegeben, er spürte das Zittern und Krampfen in den Fingern und konnte es sich nicht schönreden, dass die Töne hier und da wegen der unsauberen Griffe kratzten. Doch obwohl es ihn störte, gab er sich Mühe, darüber hinwegzusehen; murmelte stattdessen weiterhin unentwegt zu den kurzen Melodien, ehe er von vorne startete und Kleinigkeiten änderte, bis er zufriedener war.
Und schließlich mischte sich ein weiteres Geräusch in die Nacht. Im ersten Moment hielt er das Knarzen des Holzes allein für das Werk der Sphinx unter seinen nackten Füßen, doch dann mischten sich leise Schritte dazu. Der letzte Ton verklang, während der Lockenkopf den Blick hob und die Hand vom Hals des Instrumentes nahm. „Hast du etwas Ungewöhnliches entdeckt?“, fragte er an Skadi gewandt, die unter anderem ebenfalls zur Nachtwache eingeteilt war. Kurzerhand reckte er das Kinn, um selbst einen Blick über die Reling zu werfen, wo das Meer sie sanft auf den Wellen wog.
Ein letzter kleiner Rundgang über das Schiff, begleitet vom dumpfen Klang der Gitarre in ihrem Rücken, dem Knarzen der Dielen unter ihren Füßen und den winzigen Wellen des Meeres, die sanft gegen den Schiffsrumpf schwappten. Es hatte beinahe etwas beruhigendes, wie sich der Klangteppich zusammen webte und die Stille für wenige Sekunden darin Einzug hielt. Als heimlicher Begleiter und treuer Freund. Skadi genoss Momente wie diese, solange sie noch währten. Denn alsbald – so viel Stand für sie fest - würde es ungemütlich werden. Entweder des Regens wegen, der am Horizont aufzog. Oder weil ihr neues Leben als Pirat alles mit sich brachte, nur keine bunte Welt aus Regenbögen und Märchen. „Nein.“, erwiderte sie knapp auf Liams Frage und ließ sich mit der Hüfte gegen die Reling gleiten. Den Blick für einen Moment auf Liam gerichtet, ehe sie sich wieder abwandte und den Horizont fokussierte. Es war die erste Nachtschicht seit langem, die sie gemeinsam, halbwegs wach und ausgeruht, auf dem Schiff verbrachten. „Was macht der Arm?“ Eine obligatorische Frage, die sie ihm gern stellte, wenn sie sich schwer damit Tat ein Gespräch in Gang zu bringen. Seit ihrem Streit auf der Insel war sie unfassbar vorsichtig geworden. Zurückhaltend und wortkarg. Selbst dann noch als ihre Wut verklungen und an den Leibern fremder Menschen abgestreift worden war. Wirklich oft hatte sie den jungen Mann ohnehin nicht gesehen. Womöglich weil er sie ähnlich umging, wie sie ihn. Aus irgendeinem drückenden Magengefühl heraus, das Skadi nicht hinterfragte. Sie wusste, dass es kein Bedauern war. Doch eben das war der Grund all das unter einer dicken Schicht aus Schweigen zu begraben. Geschehenes war geschehen.
Es hätte ihn nicht wirklich verwundert, wenn ihm irgendetwas entgangen gewesen wäre. Er war so sehr in das vertieft gewesen, was er getan hatte, dass er ein Schiff am Horizont mitnichten entdeckt hätte. Er hätte erleichtert sein können über Skadis Entwarnung, weil es ihm keinen Ärger brachte, weil er unaufmerksam gewesen war, aber das blieb aus. Die Beunruhigung zuvor allerdings auch. Langsam glitt er mit dem Rücken zurück gegen die Reling und folgte Skadis Bewegung für einen Moment mit den Augen, ehe er den Blick senkte. Die letzten Tage und Wochen hatte sie nur wenig so zusammengeführt. Viel mehr waren sie jeder seinen eigenen Angelegenheiten nachgegangen und Alex sei Dank war ihm die Zeit auch gar nicht so lange vorgekommen, wie es letztlich war. Seit ihrer deutlichen Darbietung, aus welchen Dingen er sich herauszuhalten hatte, hatte er ihren Freiraum akzeptiert. Er war niemand, der sich jemandem aufdrängte, der seine Gesellschaft nicht wollte; ganz gleich woher der plötzliche Sinneswandel auch kam. Nachtragend war er allerdings auch nicht. Aber vorsichtig, seit ihre Impulsivität ihn das letzte Mal eher unvorbereitet getroffen hatte. „Es wird besser.“ Eine Antwort, die sie die letzte Zeit wohl öfters von ihm gehört hatte. Die Durchschlagskraft fehlte ihm vermutlich noch immer, aber er mied das Thema vorsichtshalber. „Ich muss wohl nur endlich anfangen, wieder ein bisschen zu trainieren.“ Man unterschätzte, wie schnell einen die Kraft verließ, wenn man einen Körperteil schonte. Aber immerhin tat er gerade etwas für das Feingefühl. Er schwieg schließlich und fuhr mit dem Finger kurz über das Holz der Gitarre. Er ging davon aus, dass Skadi aus einem bestimmten Grund hier war. Und entgegen der eigentlich immer recht angenehmen Stille zwischen ihnen, machte ihn diese hier unruhig.
Mit einem leisen Brummen nahm sie seine Antwort zur Kenntnis und schwieg. Selbst dann, als er fortfuhr und sich die Stille unangenehm zwischen sie legte. Ungewohnt und beklemmend, als wäre der Streit vor damals nur wenige Stunden her und die Luft zwischen ihnen noch immer dünn und aufgeladen. Doch statt sich mit einem tiefen Seufzen auf den Boden gleiten zu lassen und genervt nach der Ursache zu bohren, lehnte sich die Nordskov mit dem Oberkörper voraus und auf den Unterarmen abstützend über das dicke Holz der Reling. Den Blick aus dunklen Augen auf Liam gerichtet, der genauso unschlüssig dasaß, wie sie selbst sich fühlte. „Macht ihr das etwa nicht bereits?“ Mit ihr meinte sie diese undurchdringliche Einheit, die seit Alex Auftauchen aufgekeimt und nie wieder verschwunden war. Als hätte er bereits schon immer auf diesem Schiff gelebt und sei nur für einen kurzen Besuch an Land und außer Reichweite seines besten Freundes gewesen. Insgeheim störte es die Jägerin vielleicht sogar, wie leicht ihre Unterhaltungen wirkten. Wie ungezwungen und lebhaft ihre derben Scherze. Doch das würde sie wohl keinem der beiden auf dem Silbertablett servieren. „Oder habt ihr zu viele …andere… Dinge zu tun?“ Ein vielsagendes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab.
Die nächste Bewegung ihrerseits lockte abermals seinen Blick auf ihre Gestalt. Das fahle Licht des Mondes hob ihre feinen Züge und ihre rundliche Nase von der Dunkelheit des Nachthimmels ab. Doch kaum, dass er ihre dunklen Augen wieder auf sich wusste, senkte er den Kopf und strich unschlüssig über die Seiten seines Instruments. „Hm? Wir?“, war seine erste Reaktion auf ihre Frage, weil er den Bogen nicht gespannt bekam. Teils vermutlich der späten Stunde wegen, teils aber auch, weil er die Verletzung seines Arms definitiv nicht mit Alex in Verbindung brachte. Auch die nächsten Worte brachten nur langsam Licht ins Dunkel. Die fragenden Falten auf seiner Stirn lösten sich erst zwei Herzschläge später. „Ah, du meinst Alex?“ Was genau sie mit anderen Dingen meinte, hinterfragte er erst gar nicht, sondern stürzte sich viel lieber auf den erstbesten Versuch ihrerseits, ein tatsächlich ein Gespräch ins Laufen zu bringen. Eines, was nicht bloß vom Mittagessen, der Arbeit oder anderen Belanglosigkeiten handelte. „Ich dachte, er solle sich erst einmal ein bisschen einleben, bevor er Kindermädchen spielen muss.“ Er zuckte mit einem blassen Lächeln mit der Schulter, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. „Mal ganz davon abgesehen, dass die Einarbeitung der Neulinge weitaus wichtiger ist als meine Wehwehchen.“ Vielleicht meinte sie das mit ‚anderen Dingen‘, wer wusste es schon. Seine Stimme ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass Skadi das ebenso gut wusste wie er. „Oder was meinst du, womit wir beschäftigt sein sollten?“ Er fragte schließlich doch, weil der Ausdruck auf ihrem Gesicht vermuten ließ, dass sie auf etwas bestimmtes anspielte.
Liam wich ihrem Blick aus. Das war, woran sie als erstes dachte, kaum dass er den Blick sinken ließ und seine Gitarre weitaus spannender fand, als ihr Profil. Sie nahm es mit einem knappen Zucken im Mundwinkel zur Kenntnis. Es konnte zu viele Gründe haben, um auch nur mit einer Vermutung richtig zu liegen. Ganz davon abgesehen erschien es ihr in diesem Moment nicht sonderlich wichtig. Im Vergleich zu dem Unverständnis, das sich auf seinen Zügen abzeichnete und die Nordskov ihrerseits die Stirn in Falten legen ließ. „Ich glaube kaum, dass er den ganzen Tag mit seinen ‚Aufgaben‘ beschäftigt ist, um keine Zeit für dich zu haben.“ Was auch nicht war, was Liam damit sagen wollte. Für Skadi war es jedoch absurd zu behaupten, dass Alex alle Hand voll mit der Sphinx und der Eingewöhnung zu tun hatte. Immerhin war sie ihm mehr als einmal in Situationen über den Weg gelaufen, in der seine Hände nicht unbedingt mit „sinnvollen“ Dingen beschäftigt gewesen war. „Alkohol, Frauen, Musizieren… such‘ dir was aus.“ Ihr Blick glitt wie von selbst auf den Horizont zurück und fixierte die dunklen Quellwolken des nahenden Regenschauers. Ganz sicher wollte sie keinen erneuten Streit vom Zaun brechen. Doch es lag ihr fern nicht auszusprechen, woran sie gerade dachte. Hatte sie noch nie in seiner Gegenwart. Zumindest bis vor ein paar Wochen.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie auf etwas Bestimmtes hinaus wollte. Leise amüsiert atmete er aus, als Skadi ihre Vermutung aussprach, als wolle sie ihm Mut machen, sein bester Freund würde ihn schon nicht vergessen hinter all der Arbeit, die hier anfiel. Natürlich nicht, denn so eigen, wie Alex sein konnte – er wusste, dass er alles stehen und liegen lassen würde, um ihm zur Hand zu gehen. Andersherum war es nicht anders. Und trotzdem tat Liam sich schwer damit, ihm gegenüber einzugestehen, dass er nicht ganz so fit war, wie er vorgab. Alex war nicht zwingend die einfühlsamste Person. Ihm etwas vorzumachen, war verhältnismäßig einfach – nicht zuletzt, weil der dunkelhaarigere Lockenkopf genau wusste, dass er ihm wichtige Dinge nicht vorenthalten würde, statt ihn munter ins Blaue raten zu lassen. Die Aufzählung der Nordskov überraschte ihn schließlich ein wenig. Prüfend zog sich eine seiner Augenbrauen in die Höhe, während sich sein Gesicht wieder nach oben in ihre Richtung wandte. So unschuldig, wie ihre Stimme dabei auch geklungen hatte – er vermutete mehr hinter ihrer Aussage, würde ihr aber gerade im Bezug auf den mittleren Teil ihrer Aufzählung sicherlich nicht auf die Nase binden, was genau Alex diesbezüglich beschäftigte. „Kein Alkohol während der Schichten, keine Frau läuft ohne einen Aufpasser herum und ein bisschen Musik hat noch keinem geschadet, also... Wird uns die nächste Zeit wohl nichts in die Quere kommen.“ Er zuckte mit den Schultern und obwohl er an sich keinen Grund hatte, seinen Freund zu verteidigen, fühlte es sich notwendig an. Inzwischen war er sich fast sicher, dass sie ihm damit etwas sagen wollte. Aber wenn es bloß um Vernachlässigung der Pflichten ging, machte sich Lucien beispielsweise weitaus schuldiger als Alex.
Seine Worte hallten in den kleinen Raum zwischen ihnen und sagten letztlich doch absolut nichts. Weder das was die Nordskov hören wollte, noch das, worauf sie womöglich anspielte. Ein leises verstehendes Brummen verließ ihre Kehle. Dann hinterließ nur noch das Wasser am Bug einen gleichbleibenden Geräuschpegel in der Luft. Sie hatten so viele Tage kaum ein Wort gewechselt, dass es ihr schwer fiel nur im Ansatz das Gespräch fortzuführen. Dass sie sich allerdings so fühlte, als müsse sie eines künstlich erzeugen, nervte sie wohl bedeutend mehr, als die Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete. Irgendetwas hatte sich merklich verändert. Kaum greifbar. Nicht in Worte zu fassen. Doch Skadi wäre ein Närrin, würde sie behaupten, dass alles beim Alten geblieben war. Unter einem tiefen Atemzug stieß sie sich letztlich von der Reling ab, um sich schwungvoll herum zu drehen und auf die Tür zum Mannschaftsdeck zuzusteuern. „Ich hole mir Wasser. Möchtest du auch was?“ Kurz wandte sich der dunkle Schopf über die Schulter zu Liam herum.
Sie klang keineswegs zufrieden. Nicht, dass ihn das bei seiner Antwort verwunderte, aber wenn sie nicht endlich mit der Sprache herausrückte, würde sie sich wohl daran gewöhnen müssen. Liam lauschte in die Stille hinein, doch die Nordskov machte keine Anstalten, genauer auszuführen, um was es ihr ging. Nicht, was sie jetzt gerade bedrückte, nicht was ihr die letzten Tage und Wochen auf der Seele lastete. Der Lockenkopf seufzte innerlich und senkte den Blick. Ihm war nicht danach, einen weiteren, grundlosen Streit vom Zaun zu brechen. Daher entschied auch er sich für das naheliegenste: Schweigen. Als Skadi sich schließlich zum Gehen wandte, griff er abwesend zurück zu Alex‘ Gitarre und wirkte fast schon überrascht, als ihre Stimme leise über das Deck huschte. „Ja.“, sagte er bevor ihm bewusst wurde, dass er eigentlich das Gegenteil meinte. Weil er nicht wollte, dass sie ging und ihr gleichzeitig den Freiraum bieten wollte, den sie offensichtlich brauchte. Weshalb auch immer. Er blähte die Backen in Anbetracht dessen, dass seine Antwort vermutlich die Falsche gewesen war und entschied sich dann - vermutlich - für den nächsten Fehler (so seine eigene Einschätzung), bevor er den Mut oder den Willen dazu verlieren konnte. „Skadi, warte. Ich - Ich will mich nicht mit dir streiten.“
Sie nickte. Wortlos und stillschweigend zur Kenntnis nehmend, dass sie gleich mit mehr als einem Becher zurückkehren würde. Wandte sich bereits zum Gehen herum, als Liam ein weiteres mal seine Stimme erhob. Mit Worten, die sie nicht ganz verstand. Irritiert blieb die Nordskov stehen und wandte den dunklen Haarschopf mit skeptischer Miene herum. Ihr war schleierhaft worauf er seine Annahme stützte. Hatte sie ihm das Gefühl gegeben, dass sie wütend auf ihn war? „Streiten? Worüber?“
Die Dunkelheit verbarg die von feinen Locken umrahmten Züge, während das Feuer an seiner Seite unruhig in seinem Gefängnis zuckte. In diesem Augenblick wusste er nicht, was er zu erwarten hatte - und wurde trotzdem überrascht. Das Licht der Flamme war mit ihm weniger gnädig und offenbarte Skadi so all das Verdutzen, das seine Stirn in tiefe Falten legte. Letztlich aber, weil die Dunkelhaarige die letzten Wochen eher schwer zu ergründen gewesen war, befürchtete er sogar, dass sie damit explizit auf das anspielte, was er wohl falsch gemacht hatte. Das, wovon er immer noch absolut keinen blassen Schimmer hatte, was es war. Rein aus Intuition wollte er einfach kleinlaut mit der Schulter Zucken - das war aber sicherlich kein Argument mit Hand und Fuß. „... Willst du sagen, dass du das hier völlig normal findest? Dass wir kaum miteinander reden, nicht miteinander arbeiten. Bin ich der einzige, den das stört?“ Liam klang nicht vorwurfsvoll, im Gegenteil. Fragend, mit ein bisschen Angst vor dem, was daraus werden konnte. Er holte Luft, schloss kurz die Augen und beschloss, dass er ihr lieber zuvor kam, statt ihr abermals die Möglichkeit zu bieten, sich ihn leere Floskeln und Fragen zu retten. „Hör zu. Wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, ist das okay.“ Er hob die Hände in recht eindeutiger Geste, um ihr zu verdeutlichen, dass es ihre Entscheidung war. „Aber statt mich einfach wie die letzen Wochen vor die Wand zu stoßen, könntest du mir wenigstens sagen, weshalb.“ Er sprach leise und ließ den Blick auf das Dunkel ihres Gesichts gerichtet, das ihm jede Möglichkeit nahm, irgendetwas daraus zu lesen.
Sie musterte ihn. Schweigend. Beobachtete die Schatten, die auf seinen Zügen tanzten, sobald das Flackern der Laterne neben ihm erneut die Richtung wechselte. Unsicher, was sie darauf erwidern sollte. Ertappt von der Direktheit mit der das Thema aufgriff, das wie Essig am Boden ihres Magens herum schwappte. Skadi schluckte. Presste die Lippen aufeinander und sah zur Seite, als Liam die kurze Atempause nutzte und weitersprach. Immerhin verhinderte er, dass sie etwas Dummes und Unbedachtes von sich ließ. Nicht jedoch, dass sich der Zug ihrer Miene veränderte. Kaum definierbar. Gefangen zwischen aufkeimender Wut, Frustration und Unsicherheit. Was sollte das jetzt auf einmal, bei allen sieben Welten? Wenn es ihn so sehr störte, wieso sagte er dann jetzt erst etwas? „Könnte ich dir nicht genau das auch zurückgeben?“ Trotzig rückten die dunklen Augen in die Winkel und musterten Liams Silhouette eingehend. Als könne sie nicht fassen, mit welcher Direktheit er gegen sie schoss, obwohl sie ihm eigentlich nur hatte ein Wasser mitbringen wollen. „Oder möchtest du mir jetzt weißmachen, dass ich hier die Einzige bin, die irgendwen gemieden hat?“ Schnaubend wandte sich der dunkle Haarschopf herum. Die Hände zu Fäusten geballt und steifen Schultern.
Im ersten Moment zogen sich seine Augenbrauen abermals fragend zusammen. Ihm die Frage zurückgeben? War er nicht gerade derjenige, der diese Kluft nicht mehr aushielt? – Nicht so jedenfalls. Unausgesprochen, düster, unüberwindbar. Liam presste die Lippen aufeinander, kaum dass sich Skadi gänzlich umgewandt hatte. Er brauchte in diesem Moment nicht viel von ihren Zügen sehen – ihre Haltung reichte völlig um ihn in seiner Annahme zu bestätigen, dass es keine gute Idee gewesen war. Und gleichzeitig unbedingt hatte passieren müssen. Es war dünnes Eis, auf dem er sich befand, aber was hatte er schon zu verlieren – wenn es so blieb, wie bisher, war auch keinem geholfen. Dann lieber klare Fronten, selbst wenn es bedeutete, dass sie jeder ihrer Wege gingen und wussten, woran sie beim anderen waren. „Ich wollte dich nicht meiden.“, entgegnete er ruhig und aufrichtig. Es war nicht sein Ziel, ihr irgendeine Schuld in die Schuhe zu schieben. „Ich wollte dir den Freiraum einräumen, von dem ich dachte, dass du ihn brauchst.“ Was sie ihm eigentlich, wie er gedacht hatte, unmissverständlich klargemacht hatte. Aber das hier war einer dieser Momente, in denen man nur falsch handeln konnte – wäre er da gewesen, wäre es auch falsch gewesen. „Ich weiß nicht, was in Silvestre passiert ist. Aber was auch immer es war – es fällt mir zunehmend schwerer, dir zu glauben, dass es nichts mit mir zu tun hat.“
Freiraum. Dieses Wort ätzte sich wie Säure durch ihre Gehörgänge und tanzte bitter auf ihrer Zunge. Freiraum war doch auch nur ein anderes Wort für „ist mir scheiß egal“. Was zur Hölle wollte Liam eigentlich von ihr? Sie hatte versucht sich wieder in den Griff zu bekommen. Ihre Lauen an den Stellen auszulassen, wo sie hingehörten und nicht wieder in seiner Gegenwart lautstark um sich zu schlagen. Und jetzt sowas? „Ts. Du meinst die blauen Flecken habe ich mir eingeholt, weil es was mit dir zu tun hatte? Das ist absolut lächerlich.“ Erst Recht seitdem er wusste, in welchen Kreisen sie verkehrte. „Du weißt sehr genau was in Silvestre passiert ist. Du warst selbst bei so etwas dabei, um es zu wissen. Ich hatte Rechnungen zu begleichen, die dich nichts angehen. Darin gelandet bist du letzten Endes doch... obwohl ich es nicht wollte. Also was? Soll ich so tun als wäre mir all das scheiß egal? Als könnte ich stillschweigend mit ansehen, wie du dich zu Hackfleisch verarbeiten lässt? Vergiss es.“ Trotzig schnaubte die junge Nordskov und trat einen Schritt auf Liam zu. Nur um augenblicklich wieder stehen zu bleiben und zu schlucken. „Und ich weiß sehr genau, wie du zu so etwas stehst. Das ist kein Geheimnis. Für niemanden. Wieso sollte ich dir das also brühwarm erzählen, hm? Damit du mich dann auf Distanz halten kannst, weil... was weiß ich... dir das zu anstrengend und unbequem ist... oder du mich dann für ein Monster hältst?! Das ist es doch letztlich, oder? Ich bin ein Monster, dass sich prügelt, statt zu reden. Ein widerliches Monster.“
Wie egal es ihm gewesen war, hatte sich wohl spätestens da herausgestellt, als er sich selbst mit seiner Sorge um Skadi überrascht hatte. Liam schloss die Augen, als ihre Tirade begann, über ihm hinabzuhageln und verabschiedete sich fast sofort von dem Gedanken, sie in ihrem ersten Punkt zu korrigieren. Er glaube nicht daran, dass sie derart schlecht gelaunt gewesen war, weil sie einen Kampf gewonnen hatte, aber wenn es das war, was sie ihn glauben lassen wollte, würde er sich wohl oder übel darauf einlassen müssen. Was der eigentliche Auslöser gewesen war, hielt sie weiterhin hinter Schloss und Riegel und nahm ihm somit jeglichen Handlungsspielraum, einen Schritt voran zu kommen. „Das war meine eigene Rechnung, Skadi. Daran trägst du keine Schuld.“, versuchte er es mit nur geringer Aussicht auf Erfolg. Ihr nächstes Argument bot ihm da vielleicht mehr Möglichkeit. „Du sagst es doch selbst, Skadi – Hätte ich einfach stillschweigend mit ansehen sollen, wie dich dieser grobschlächtige Gorilla misshandelt? Das konnte ich nicht. Weil es mir nicht egal war.“ Inzwischen hatte Liam die Gitarre gänzlich zur Seite gelegt und die Hände im Schoß gefaltet. „Weil du mir nicht egal bist.“ Dann aber kamen sie tatsächlich einen Schritt voran. Liam lauschte schweigend und die Furcht, die sie hinter all ihrer Rage versteckte, war ihm neu. Und die Überraschung darüber auf seinen Zügen ehrlich und aufrichtig. „Warum sollte ich dich deswegen für ein Monster halten?“ Ein kurzes Lachen entwich ihm aus der Erleichterung heraus, dass das Problem vielleicht derart nichtig war. „Du kannst tun und lassen, was du willst. Du bist erwachsen und wer wäre ich, wenn ich versuchen würde dir irgendetwas vorzuschreiben? Wen kümmert’s, wie ich zu den Dingen stehe – diese Leute sind dort alle freiwillig. Dann können sie sich auch alle freiwillig von dir den Hintern aufreißen lassen.“ Er zuckte mit der Schulter und versuchte sich abermals an einem Lächeln. „Du bist perfekt so, wie du bist. Lass‘ dir nichts anderes einreden. Selbst, wenn es eine Rolle spielen würde – ich hätte keinen Grund, irgendetwas an dir zu ändern. Weder, weil du anstrengend wärst, noch unbequem.“ Was Liam dabei nicht erkannte – dass sie sauer war, weil es sie kümmerte, was er dachte. Aber er wäre nicht Liam gewesen, hätte er geglaubt, dass seine Ansicht für andere groß von Bedeutung war.
Es ging hier nicht um Flint. Genauso wenig um den Abend, als sie mit Lucien in diesem Stall gewesen war und unverhoffter Weise auf Liam und hinein in eine Massenprügelei geraten war. Denn was Liam nicht wusste, war das, was sie ihm nicht sagen konnte. Weil es eben alles veränderte. Ganz gleich wie sehr er auch beteuerte, dass sie ihm nicht egal war. Dass sie perfekt war, wie sie war. Alles verengte sich in ihrem Körper. Hals. Brustkorb. Tonnen wogen auf ihrem Körper und Skadi wusste kaum mehr, wie sie all dessen Herr werden sollte. Tagelang hatte sie daran gefeilt alles fein säuberlich in ihren Schubladen zu verstauen und nie wieder einen Blick zurück zu werfen. Und Liam schaffte es - wie so oft - alles mit seinen Worten, seiner Art einzureißen. Tränen schossen ihr in die Augen. Getrieben durch den Schmerz in ihren Handflächen. Durch ihre eigene Unzulänglichkeit nicht in Worte fassen zu können, was heraus wollte und irgendwie auch nicht. „Weil ich eines bin... Liam. Ich lebe von dem Hass denen gegenüber, die mir alles genommen haben. Und es zerfrisst mich. Wann immer ich sie durch die Straßen laufen und dieselbe Luft atmen sehe, während meine Familie. Meine Schwestern und Brüder. Sogar meine eigenen Kinder fort sind.“ Sie konnte ich nicht mehr ansehen. Diesen Anblick seines Lächelns ertragen, das sich auf Dinge stützte, um die es nicht ging. Die so viel nichtiger waren als das, was ihr so tief unter die Haut ging. Er hatte absolut nichts begriffen. Und sie konnte ihm nicht einmal wirklich einen Vorwurf machen.
So einfach wie erhofft, war es dann doch nicht. Eigentlich war es sogar sehr weit entfernt davon, einfach zu sein. Liams Lächeln verschob sich erst, bis es letztlich brach. Er hörte zu und konnte nur grob erahnen, wie lange diese Glut in ihrem Inneren geglommen hatte. Und er wusste, dass er es nicht besser machen konnte. Das konnte niemand. Das einzige, was er konnte, war ihr zeigen, dass sie nicht alleine war – wenn sie denn nicht alleine sein wollte. Skadis Stimme zitterte. Ganz leicht nur, doch genug, dass sich der Lockenkopf zwei Herzschläge später auf den Beinen wiederfand. „Deshalb bist du noch lange kein Monster.“, flüsterte er. Er blieb an Ort und Stelle. Das Feuer zu seinen Füßen warf nun auch auf sein Gesicht einen dunklen Schatten. „Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet, aber ich kann mir nicht im entferntesten ausmalen, wie es für eine Mutter sein muss, die eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen. So etwas kann nicht spurlos an einem vorbeigehen.“ Er hielt inne, holte Luft und überlegte, wie er fortfahren sollte. „Ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn es dich kaltlassen würde.“ Langsam machte er zwei Schritte auf sie zu. Er konnte die Tränen nur erahnen, die das Braun ihrer Augen unangenehm zum Funkeln brachten. „Diesen Hass kann dir keiner verbieten.“ Das Wichtige war, ihm standzuhalten.
Er sagte es so einfach. Nichts ahnend, was sie ihm indirekt damit eingestand. Nicht wissend, dass es nicht um Rachegefühle ging, sondern um ausgelebte Gelüste. Denn sie hatte den Tod einiger Menschen zu verantworten. In dem Wissen, damit ihrer Familie ein Stück weit Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Und doch zu spüren, dass es nicht ausreichte. Dass es nur ein weiter Namen auf einer endlosen Liste war. Seufzend senkte Skadi den Kopf. Wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sie hatte keine Ahnung was sie ihm jetzt noch sagen sollte. Wollte ihn nicht korrigieren. Nicht noch mehr von dem heraus lassen, was ihr augenscheinlich - und das begriff sie jetzt erst - Angst einjagte. Dass es nur ein Teil von ihr sein würde, der ihn irgendwann von ihr fern hielt. Und dass es ihr nicht gefiel. „Du weißt, dass ich den Kapitän der Morgenwind umgebracht habe, bevor ihr das Schiff in die Luft gesprengt habt oder?“ Allein das konnte sie ihm sagen - weil sie wusste, dass er es gewesen war, der die Zündschnur letztlich in Brand gesteckt und für den Untergang des Schiffes gesorgt hatte. „Dass ich deshalb all die Jahre auf dem Schiff war... um ihn irgendwann allein zu erwischen und ihm das anzutun, was er meiner Familie angetan hat?“ Tief sog Skadi die Luft der Nacht ein. Löste ihre Hände aus der schmerzhaften Umklammerung, um endlich, nach einem weiteren Atemzug zu Liam aufzusehen. Entschlossen. Und irgendwie seltsam gebrochen. „Ich bin das, was du so sehr verabscheust Liam. Ich habe aus Rache getötet. Und ich hätte es fast wieder getan. In Silvestre. Einen Abend bevor ich mich aus Frust zum Untergrundkampf angemeldet habe und du mich daraufhin im Bordell erwischt hast. Also sage mir... Liam.“ Seinen Namen auszusprechen schmerzte so sehr, dass nicht einmal ein schweres Schlucken darüber hinwegtäuschen konnte. „Wie kannst du so einen Menschen nicht von dir stoßen wollen?“
Liams Züge verrieten, dass er es nicht gewusst hatte. Abermals zogen sich tiefe Furchen über seine Stirn, während er versuchte, sich an jenen Tag zu erinnern. Er war bei Kaladar gewesen, auch nachdem die Gefangenen befreit worden waren. Dieses Wissen allerdings ruhte nicht mehr auf echter Erinnerung sondern dem kläglichen Versuch seines Kopfes, die Bruchstücke, die ihm die Gehirnerschütterung gelassen hatte, irgendwie wieder sinnvoll zusammenzusetzen. Liam wusste, dass der Kapitän der Morgenwind überhaupt Grund gewesen war, dass Kaladar existiert hatte. Dass er seine Mission allerdings auch zuende gebracht hatte – spielte im Grunde keine wirklich große Rolle. Dieser Mann wäre an diesem Tag vermutlich so oder so gestorben – ob nun durch Skadis oder seine Hände. Und trotzdem veränderte diese kleine Abweichung bei seinem Todeszeitpunkt einiges; spielte Skadi Schuld in die Hände, die nicht mehr auf ihm lastete. Und während sich in seinem Magen ob dieser Kleinigkeit etwas unangenehm zusammenzog, wusste er nicht, ob es überhaupt etwas änderte. Liam hatte diesen Mann nicht gekannt. Das einzige, was er von ihm wusste, war, dass er ein vermutlich recht hohes Tier bei der Marine gewesen war, was gleichbedeutend damit war, dass er über Leichen ging – ohne die Reue, die gerade nur so aus Skadi heraussprudelte. Allgemein hatte Liam nur wenig Mitleid mit vielen Menschen, die für die Marine arbeiteten. Ihm taten die Leid, die keine andere Wahl hatten; die, die einen Teil ihrer Familie verloren, weil er lieblos von irgendeinem Mächtigen wie eine Schachfigur aufs Spiel gesetzt wurde. In seiner Welt hatte noch immer jeder selbst eine Wahl. Es war das eine, auf eine Mission geschickt zu werden. Das andere war es, blind Befehle auszuführen ohne sie zu hinterfragen – und somit die Schuld und die Verantwortung von sich zu weisen. All das waren nur wilde, ungeordnete Gedanken, die ihm in dieser winzigen Zeitspanne durch den Kopf gingen. Aber nichts davon war auch nur annähernd in der Lage, der Dunkelhaarigen irgendeine ihrer Sorgen zu nehmen – im Gegenteil. Liam wusste, was sie von ihm hören wollte. Aber es wäre eine Lüge gewesen, hätte er es ausgesprochen. Ganz davon abgesehen, dass er ein ziemlich schlechter Lügner war, der fiel lieber die Wahrheit sprach. „Ich verurteile dich nicht dafür, dass du ein Mensch bist, Skadi.“ Ihr Blick wirkte derart instabil, dass es ihm wirklich schwer fiel, sie nicht einfach in die Arme zu schließen. „Und ich verabscheue dich auch nicht dafür. Letztlich… bist du die, die damit leben muss. Die Frage ist also eher, ob du dich dafür verabscheust.“ Eine Frage, deren Antwort mehr als offensichtlich vor ihm lag. Darum aber ging es ihm gar nicht. Sie sollte nicht so viel Wert auf das legen, was sie von ihm erwartete. Sie kannte ihn diesbezüglich nicht. Und auch Liam war tiefgründiger, als es vielleicht den Anschein erweckte. „Außerdem weiß ich, dass du nicht herzlos bist. Anders als viele von ihnen.“
Seine Worte klangen ehrlich. Doch waren sie kein Salbei für ihre Seele. Beruhigten nicht im Ansatz das Zittern in ihrem Inneren, sondern ließ sie dort stehen wo sie war. Meilenweit entfernt von einer klaren Antwort und in der Luft schwebend. Sie verabscheute sich nicht für das, was sie getan hatte. Sie würde es jederzeit wieder tun. Aber sie verabscheute die Gedanken, die sie beherrschten. Dass sie mit jedem weiteren Mord, jedem weiteren Racheakt und somit jeder weiteren Genugtuung zu etwas wurde, das nichts mehr mit ihr gemein hatte. Und sie irgendwann tatsächlich so allein war, wie sie sich seit diesem Tag fühlte. Vergessen. Abgestoßen. Nur noch Mittel zum Zweck. „Bei dir klingt es so einfach.“, gab sie nur noch matt von sich und seufzte. Senkte erneut den Blick und wandte sich herum. „Ich hole jetzt Wasser.“
Viele Dinge klangen einfach, waren aber weit davon entfernt. Sein Kopf fühlte sich schwer an, während seine Gedanken träge versuchten, wieder irgendetwas herzustellen, was an Struktur erinnerte. Skadi wirkte alles andere als zufrieden. Gefasst vielleicht, nach außen hin. Liam musste sich eingestehen, dass sie sich noch ein Stück ferner anfühlte als vor ein paar Minuten noch. Er erreichte sie nicht und im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, es einfach dabei zu belassen. Er wollte fluchen. Weil er sich nun doch Gedanken machte, von denen er beteuerte, es nicht zu tun. Skadi wandte sich ab und nutzte den Vorwand, der ihnen beiden nun ziemlich gelegen kam. Er ahnte, dass es nicht gut war, sie jetzt ziehen zu lassen, aber ihm fehlte die Alternative. Das einzige, was er ihr erleichtern konnte, war die Tatsache, ihn noch einmal aufsuchen zu müssen. Auch, wenn es sich anfühlte, als hätte er sie gänzlich verloren. „Skadi.“, begann er. „Nimm dir den Rest der Nacht frei. Wir sind genug Leute.“ Während sie Richtung Treppe verschwand, wandte er sich um und stützte sich erschöpft auf der Reling ab. Das Meer brach unruhig am Holz der Sphinx und die Regenfront hatte sie fast erreicht. Verärgert trat er mit dem linken Fuß gegen die Reling, doch auch das machte es nicht besser. Er rechnete nicht damit, dass Skadi zurück kam. Er konnte es ihr auch nur sehr schlecht verübeln.
Mit jedem Schritt voraus, fühlte sich ihr Körper immer dumpfer an. Die Szene in ihrem Rücken derart surreal, als wäre sie geradewegs aus einem schmerzhaft fühlbaren Albtraum erwacht. Minuten lang stand sie vor dem Wassertrog. Regungslos. Und kehrte dann schweigend und teilnahmslos an Deck zurück. In einer Hand den Wasserkrug für Liam. In der anderen ihren eigenen. „Hier.“, murmelte sie leise und setzte sich auf eine der Kisten, auf deren Oberfläche sie das Wasser abstellte. Sie wusste, dass sie sein Angebot hätte annehmen sollen - weil es viele Dinge für sie im Moment vereinfachte. Und es doch wieder nicht tat. Sie wollte nicht mit ihrem Kopf allein sein. Sich Dinge einbilden und in etwas hineinsteigern, was weder so gemeint, noch beabsichtig war. Sie musste sich damit konfrontieren, dass Liam ihre Angst nicht verstand und nicht nehmen konnte. Ganz gleich, wie sehr sie wohl darauf gehofft hatte. Die Nordskovs waren kein Volk, das klein bei gab. Statt dem Unwetter auszuweichen, steuerten sie direkt hinein.
Er ignorierte das Geräusch in seinem Rücken, weil er glaubte, dass es einer der anderen war. Erst, als das dumpfe Geräusch von Holz auf Holz neben ihm erklang, sah er auf und musterte besorgt die dunklen Schatten auf ihren Zügen. Es dauerte nicht lange, bis er den Blick wieder auf das Meer hinaus richtete. Aus Respekt ihr gegenüber, weil er wusste, wie ungern sie Schwäche zeigte. „Danke.“, antwortete er nach einem kurzen Moment des Schweigens. Er streckte die Hand aus und hob den Krug zu den Lippen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie trocken sich sein Hals eigentlich angefühlt hatte. Liam schwieg und setzte den Krug zurück auf die Kiste, auf der Skadi saß. In einer fließenden Bewegung wanderte seine Hand in ihre Richtung und umfasste ihre in einer ruhigen Geste. Er wollte etwas sagen, aber es fühlte sich weder richtig an, an das Thema anzuknüpfen, noch belanglos das das Thema zu wechseln, weshalb er sich letztlich doch zum Schweigen entschied, als er seine Hand wieder zurück an die Reling bewegte.
Es war seltsam so regungslos neben ihm zu sitzen - weil es früher, vor etlichen Wochen, absolut normal gewesen war. Doch jetzt. Jetzt war es, als schwebte etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen. Etwas, dass sich auf ihre Schultern legte, wie Blei. Kurz zickte sie zusammen, als etwas Warmes ihren Handrücken berührte. Aufgeschreckt aus den Gedanken, die sie einlullten und hinfortgewischt durch jedes Rauschen der Wellen am Bug. Wortlos wandte Skadi ihre Hand in seiner. Umfasste sie mit ihren Fingern für den kleinen Moment, in dem er sie dort ließ. Ein kleines Stück Normalität und Nähe. Nur ein kleines bisschen. Tief holte sie Luft, ließ den Kopf in den Nacken gleiten und schloss die Augen, während sich Liam wieder abwandte und sie selbst den halb leeren Wasserkrug im Schoß bettete. „Es ist seltsam... jemanden zu vermissen, obwohl man ihn jeden Tag sieht.“ Fast flüsterte sie es lautlos in den Wind hinein, den der kommende Regen mit sich brachte.
Er presste noch immer die Lippen zusammen und starrte aufs Meer hinaus. Skadi hatte ihn unweigerlich daran erinnert, das dort am Meeresgrund womöglich etliche Seelen schlummerten, die er auf dem Gewissen hatte. Weil es ihm einfacher fiel, über sich selbst zu urteilen als über andere. Mord. Was zählte als Mord? Was zählte er als Mord? Liam wusste, dass keiner auf diesem Schiff eine reine Weste hatte, aber das war ihm egal. Für ihn zählte, wie sich die Leute ihm gegenüber oder in seiner Gegenwart verhielten. Ihre Angelegenheiten gingen ihn nichts an. Aber was war, wenn es sich plötzlich nicht mehr bloß flüchtige Bekannte drehte? Und es war ja nicht so, dass Skadi getrieben von Blutrausch auf die Jagd ging. Zählte soetwas noch als Affekt? Spiele es überhaupt eine Rolle, solange es nur in Gedanken passierte? Immerhin hatte sie sich laut eigener Aussage stattdessen in die Untergrundkämpfe gerettet – oder? Er neigte den Kopf leicht zur Seite, um die Nordskov besser verstehen zu können. Ein freudloses Lächeln zuckte über seine Mundwinkel, ehe es seine Züge wieder erschöpft und nachdenklich zurückließ. „Ja. Ich weiß, was du meinst.“, stimmte er ihr leise zu. „Vor allem… Ist es eigentlich absolut dämlich.“ Liam nahm einen tiefen Atemzug.
Einzig und allein ein tiefes Schnauben verließ ihren Körper. Was womöglich Kommentar genug war auf das, was Liam zu Protokoll gab. Vielleicht war es dämlich. Vielleicht auch nur ein Produkt ihrer Unterschiede. Wenn sie mit Enrique aneinander geriet, hinterließen sie in der Regel verbranntes Gras, das am nächsten Morgen grün wie eh und je war. Wie zwei sture Böcke, die sich aneinander die Hörner abstießen. Und Lucien. Zur Zeit war er der Einzige, der wortlos verstand was in ihr vorging. Zumindest hatte sie stets das Gefühl gehabt, wann immer sie gemeinsam ihrer seltsamen Beschäftigung nachgegangen waren. Was Liam tun würde, wenn er sie jemals so sah. In diesem Zustand zwischen Himmel und Erde. Skadi ahnte, dass sie die Folgen dessen nicht vertragen würde. Dass sie die Angst, die sich womöglich in seinen Augen abzeichnen, oder die Abscheu, die seine Züge verdunkeln würde, nicht so leicht wegstecken konnte, wie bei jedem anderen auf diesem Schiff. „Und was nun?“ Sie selbst fand keine wirkliche Antwort darauf. Bezweifelte, dass er es konnte.
Seine Hand fühlte sich schwer an, als er sich damit die Haare aus der Stirn wischte und den Blick schließlich vom Horizont löste. Seine Augen wanderten langsam über das erschöpfte Antlitz Skadis. Trotz alledem, was geschehen war, genoss er ihre Anwesenheit. „Nun…“, überlegte er gedehnt und stieß sich von der Reling ab, um sich ihr nun völlig zuzuwenden. „Ich weiß, dass du dem ganzen momentan eher abgeneigt bist, aber… Vielleicht würde es mal ganz guttun, die Sorgen einfach über Bord zu werfen. Nur für ein, zwei Gläschen, hm? Vorausgesetzt natürlich, du verpfeifst mich nicht.“ Liam lächelte überzeugend und hoffte, sie würde sich einfach darauf einlassen. Sie hatte es verdient, die Sorgen in ihren Gedanken zumindest für kurze Zeit einfach mal auszublenden. „Ich bin in Silvestre über Honigbeer-Schnaps gestolpert, der dir durchaus schmecken könnte. Und falls uns jemand erwischt, hättest du heute Abend die einmalige Gelegenheit, es auf meinen schlechten Einfluss zu schieben. Was sagst du?“
Die Sorgen über Board werfen. Wieder klang es so unfassbar leicht, wie es über seine Lippen kam. Hatte es nicht eben gerade dazu geführt, dass sie aneinander geraten waren? Weil sie genau das die letzten Tage versucht hatte und kläglich daran gescheitert war? Erneut musste Skadi schnauben. Dieses Mal mit einem matten Lächeln auf den Lippen. Es klang zu verlockend, als dass sie es so einfach abschmettern konnte.
„Meinetwegen. Aber nur ein, zwei Gläser.“
Einen Moment überzeichnete das helle Licht der Laterne seine Züge, als sie endlich die Augen öffnete und den dunklen Schopf zu Liam herum wandte. Das Lächeln, das so ehrlich und unverfälscht in seinen Mundwinkeln hing, schmerzte auf eine bittersüße Weise. Sie hatte ihn mehr als nur ein wenig vermisst.
„Sonst kommst du mir vielleicht noch auf dümmere Gedanken. Und ich bezweifle, dass ich dafür eine passende Ausrede parat habe.“
Sie wirkte nicht überzeugt, aber wenigstens gab sie der ganzen Sache eine Chance. „So viel du willst.“ Es stand ihr offen, sein Angebot am Ende doch wieder auszuschlagen. Davon abgesehen, dass es nicht sein Ziel war, sie abzufüllen wie ein ungehobelter Teenager. Er wollte ihr nur ein bisschen Leichtigkeit bescheren. Und das ging nicht, wenn sie ihm unterstellte, ein Monster in ihr zu sehen. Mit einem Lächeln wandte er sich ab und verschwand auf leisen Sohlen, um die noch ungeöffnete Flasche aus seiner Truhe zu holen und damit möglichst ungesehen wieder nach oben zu verschwinden. Er beeilte sich nicht. Er fühlte sich noch immer durcheinander und war sich nicht sicher, ob dieser Abend ein Fort- oder ein Rückschritt war.
Er entkorkte die Flasche und nahm prüfend eine Nase. Der Alkohol der Spirituose hauchte ihm deutlich ins Gesicht – ähnlich den Tinkturen, die Skadi zu mischen wusste. Ansonsten war eine leichte Note zu vernehmen, die an Schlehen erinnerte. Erwartungsvoll verzog er das Gesicht und leerte den Krug Wasser, um einen Schluck des Schnapses hineinzufüllen, ehe er fragend die Flasche in Skadis Richtung hob. „In der Taverne wurde er hoch angepriesen.“
Mit jedem Schritt, den Liam sich weiter von ihr in Richtung Mannschaftsdeck entfernte, desto mehr verschwand das Lächeln von ihren Lippen. Wich dem gedankenverlorenen Ausdruck, der ihre Gedanken noch immer an den Worten von vorhin hängen ließ. So wirklich hatte sie sich nicht damit beschäftigt. War dem Gefühl ausgewichen, sobald es klopfend ihre Brust erreichte und ein nervöses unangenehmes Kribbeln in ihren Fingern frei setzte. Hatte sie wirklich Angst davor zu dem zu werden, das sie oftmals in ihrem Vater gesehen hatte? In dem tiefen Schwarz, das in seinen Augen wohnte und heraus wollte, wann immer sie es in ihrer kindlichen Wut zu weit getrieben hatte? Gänsehaut schob sich augenblicklich über ihre Arme tief in ihren Nacken. Spannte sich Wirbel für Wirbel über ihren Rücken und beherrschte jeden Nerv ihres Körpers. Es war erschreckend, wie tief sich diese Furcht in ihre Knochen und in ihr Fleisch gefressen hatte. Nach all den Jahren, die sie seiner Obhut entwachsen war. Erst als Liams Schritte auf den Planken widerhallten, hob Skadi den Kopf. Sog die abgekühlte Nachtluft ein, die die Regenfront vor sich herschob. Für einen Augenblick meinte sie das leise Prasseln bereits in ihrem Rücken zu vernehmen. Schüttelt jedoch mit einem aufgesetzten Schmunzeln den Kopf. „Deine Nase sagt mir, dass es hochprozentig ist. Mal sehen wie gut ich nach einem Glas noch stehen kann.“ Ein Lachen schob sich durch ihre Kehle ins Freie und hallte warm und amüsiert übers Deck. Wortlos reichte sie ihm den leeren Krug aus ihrem Schoss. Roch prüfend an dem Gebräu, ehe sie den Ton an ihre Lippen setzte und daran nippte. Kurz verzogen sich ihre feinen Gesichtszüge. Dann nahm sie einen weiteren Schluck. „Sehr fruchtig. Aber... beim Klabautermann... da hat’s jemand gut mit dem Schnaps gemeint.“
„Kommt darauf an, wie gut deine Grundlage ist.“ Liam wusste nicht, wie üppig ihr Abendessen gewesen war, aber seine Nase sagte ihm, dass dieser Schnaps hier auch gut zu einem herzhaften Mahl einer Adelsfamilie gepasst hätte – was die Wirkung betraf, jedenfalls. Er füllte Skadis Krug ebenfalls mit einem Schluck der Spirituose, steckte den Korken zurück auf die Flasche und stellte sie neben ihr auf die Kiste. Mit dem eigenen Krug in der Hand musterte er Skadis Züge, die wagemutig als erste probierte. Ein angeschlagenes Schmunzeln galt ihr, während der Schnaps ihre Züge verzerrte. Dann nippte auch er und verstand augenblicklich, was sie mit ‚mit dem Schnaps gut gemeint‘ meinte. Er kniff ein Auge zu. „Hui. Wir sollten unsere Vorräte damit aufstocken, bevor wir uns auf machen Richtung zweite Welt.“ Das Konzentrat jagte einem nämlich eine wohlige Hitze den Rachen hinab in den Magen. „Stark, aber nicht schlecht.“, lautete sein abschließender Entschluss nach einem weiteren Schluck. „Und kommt an, wo er soll.“
Unter einem geschlossenen Auge sah Skadi zu Liam hinüber. Verdutzt über das, was er über die zweite Welt sagte, als wäre es beschlossene Sache, dass sie irgendwann dorthin segeln würden. Bisher hatte sie den Weg der Sphinx nie hinterfragt und angenommen, was Kapitäne und Navigatorin beschlossen. Allein, weil sie sich nicht einmal sicher war, wie lange Enrique auf dem Schiff bleiben und sich dem Versprechen entziehen würde, das er seiner Tochter gegeben hatte. „Vorausgesetzt wir erreichen sie noch und landen nicht sturzbetrunken irgendwo am falschen Ende.“, entgegnete sie amüsiert und grunzte. Mit schüttelndem Schopf, der allmählich in weichen Locken bis zu ihren Ohren ragte. „Wobei ich vielleicht nicht traurig drum wäre. Allein der Gedanke an diese Kälte...“ Sie schüttelte sich. Mehr der Erinnerung ihrer Kindertage wegen, als des erneuten Zugs, den sie aus dem Krug nahm. Selbst da hatte sich das beißende Weiß in Fleisch und Knochen vergraben. Die zweite Welt - so wie man es ihr erzählt hatte - weit voll davon und weitaus schlimmer, als der kleine Zipfel auf Andalonien, auf dem Rúnar kennengelernt hatte.
Wir müssen ja zum Glück nicht navigieren. Und Shanaya ist weitaus pflichtbewusster als wir gerade im Moment.“ Allerdings definierte Liam ‚kein Alkohol bei der Arbeit‘ so, dass man nicht übertreiben sollte – ein, zwei Schnäpse, was war schon dabei, außer dass man die Müdigkeit aus den Knochen vertrieb? „Davon abgesehen, dass ich mit dem ‚sturzbetrunken am anderen Ende landen‘ bisher ganz gut gefahren bin.“ Er grinste kurz, und kippte den Rest des Schnapses hinunter. „Ich habe keinen Schnee mehr gesehen, seit ich ein Kind war und wir damals fort sind.“, stellte er fest und inspizierte das leere Innere seines Bechers, ehe er aufsah. „Es soll dort ganze Berge aus Eis geben, heiße Quellen tief in einsamen Gebirgen.“
So betrachtet hatte sie immer ein Portion Glück begleitet - andernfalls hätte es sie, erst recht nach der Kopfgeldinsel, schnell unter die Erde getrieben. Mit einem Schmunzeln bedachte Skadi den Lockenkopf und stellte ihren Krug neben sich auf das Holz. „Mir gefällt jetzt schon der Gedanke nicht, mit wie vielen Schichten ich da rumlaufen muss.“ Die Uniform war damals ein notwendiges Übel gewesen, um relativ unentdeckt zu bleiben. Am liebsten würde die Nordskov allerdings halb nackt durch die Natur streifen. Je mehr Bein- und Armfreiheit desto besser. Nichts anderes war sie von den fast tropischen Wäldern ihrer Heimat gewohnt. „Wahrscheinlich werde ich nach einer Stunde zu Stein erstarren. Wäre also nett, wenn du mich in eine der Quelle tragen und da erstmal liegen lassen könntest. Bis ich aufgetaut bin.“ Sie lächelte. Lachte einen Augenblick lang und verschränkte mit gesenktem Kopf die Fingerspitzen ineinander.
„Das, oder -“ Mit Unschuldsmiene zückte er die Flasche abermals und wedelte damit kurz vor Skadis Nase. „Wir sollten aber unbedingt noch etwas üben nach deiner Abstinenz. Sonst werde ich dich nämlich wirklich tragen müssen.“ Er lächelte und überließ der wohligen Wärme, die in seinen Kopf stieg, die Aufgabe, die Steifheit dieser ‚Normalität‘ zwischen ihnen einfach auszublenden. „Ich fürchte, nach dem Bad in so einer heißen Quelle kommt einem alles andere nur noch kälter vor. Am Ende ziehst du dort noch ein, weil du nicht mehr rauskommen magst.“ Es gab mit Sicherheit schlimmeres, als ein paar Stunden in einer heißen Quelle zu verbringen, während um einen herum die ganze Welt in Schnee getaucht war. Aber Tage oder gar Wochen? Mit der Zeit würde der Ausblick langweilig werden. Und die Ähnlichkeit zu einer Wasserleiche war auch nicht unbedingt erstrebenswert. „Ich freu‘ mich drauf, sollten wir je soweit kommen. Auch wenn ich auf einen Heimatbesuch durchaus verzichten könnte.“ So vieles, was in dieser Aussage steckte. So vieles, was er selbst nicht näher hinterfragte. „Außerdem kommen wir so dem Geheimnis dieser Schatzkarte vielleicht näher.“
„Na ja... ihr könnt mich ja auch einfach wieder abholen, wenn ihr mit euren Abenteuern fertig seid und wir wieder in schönere Welten fahren.“, gab Skadi mit gespitzten Lippen und einem Achselzucken zurück. Vielleicht gab es ja noch jemanden unter ihnen, der schon bei den ersten Schneeflocken eine gleichsam wenig beeindruckte Miene zog wie sie selbst. Lucien ganz sicher. Nicht zwingend wegen der Kälte, sondern weil er den Damen nicht mehr unter den Rock spähen oder anhand ihrer leichten Kleidung wuschig werden konnte. Schwerenöter der er war. „Gibt dann sicherlich ein paar Lieder und Geschichten zu erzählen und besingen.“ War es irgendwie seltsam einfach so in einen Plauderton zu verfallen, wenn nicht noch vor wenigen Minuten totale Stille und Bedrückung zwischen ihnen geherrscht hatte? Skadi ignorierte es. Drängte es in den Hintergrund und zog den Krug Schnaps zu sich heran, um daran eisern festzuhalten. Dennoch entging ihr Liams letzter Satz nicht. Weder der über seine Heimat, noch die einer mysteriösen Karte. „Eigentlich wollte ich schon immer wissen, wie dein Vater in Natura so ist.“, murmelte sie kleinlaut gegen den Rand des Bechers und verzog kurz unter dem brennenden Geschmack des Schnaps die Lippen. „Und was für eine Karte meinst du?“
„… Ich könnte das nicht.“ Seine Züge zeigten eine Mischung von belustigtem Unverständnis und Fassungslosigkeit. „Mir so ein Abenteuer entgegen zu lassen. Ganz egal, wie unbequem.“ Es war kein Vorwurf – da waren sie einfach verschieden. Und eigentlich überraschte es ihn in ihrem Falle nicht einmal. Hätte man es ihr nicht genommen, hätte es wohl nichts in der Welt gegeben, was sie je von Zuhause weggelockt hätte. Ihn hingegen zog es fort, immer weiter, bis er das Ende erreicht hatte. „Abwarten. Du hast mit deiner Vorahnung, dass wir am Ende ganz woanders landen, vermutlich nicht einmal so unrecht.“ Er war jemand, der die Dinge auf sich zukommen ließ. Das bedeutete aber auch, dass Vorfreude eher etwas Kurzfristiges bei ihm war. Er war leicht zu begeistern, fand bereits an den kleinsten Dingen Freude und konnte fast allem irgendetwas Gutes abgewinnen. Er gluckste auf ihr leises Geständnis hin und liebäugelte wieder mit der Flasche Schnaps, die ihm nicht nur die Wärme in – sondern auch die Schwere aus den Knochen trieb. „Das Glück wirst du dort vermutlich nicht haben.“ Eine reine Vermutung. Er hatte keine Ahnung, wo sich sein Vater aufhielt. „Er wäre jedenfalls sehr alt geworden, wenn er sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt hätte.“ Die nächste Frage überraschte ihn. „Die aus Milúi.“ Er hatte sie doch sicherlich erwähnt? Womöglich waren ihm damals allerdings auch andere Dinge durch den Kopf gegangen, während sie zusammen unterwegs gewesen waren…
Skadi gab ein fast schon tonloses Mh von sich und korrigierte ihren Sitz. Leise polterten die Sohlen ihrer Stiefel gegen die Kiste, die sie sich vor einigen Wochen - eher gezwungenermaßen - zugelegte hatte. Irgendwann war selbst ihr klar geworden, dass sie zwar in der Heimat und mit reichlich Gras unter den Füßen ohne Schuhwerk herumstreunen konnte. Doch bei den schmutzigen Pflastern der großen Städte verging ihr jegliche Lust darauf. „Schade. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Eine Floskel, die ihr ungewohnt leicht über die Lippen glitt. Womöglich weil sich bereits der Alkohol wohlig warm in ihrem Kopf ausbreitete und einen sanften Hauch auf ihre Wangen legte. „Ich weiß noch sehr genau, was wir aus der Höhle heraus geholt haben... und keine der Karten, die ich Shanaya mitgebracht habe, hatten irgendetwas mit der zweiten Welt zu tun.“
Die Erinnerung daran war eine, die er nicht missen wollte. In den letzten Tagen und Wochen hatte er oft – wann immer ihm die Distanz, die Skadi zu ihm hielt aufgefallen war – an das Fest zurückgedacht. An die Abende voller Musik und Tanz und auch jenen Abend, an dem er die angeheiterte Nordskov zurück zur Sphinx begleitet hatte – oder sie ihn, wie man’s nahm. An das kleine Wendigo-Abenteuer und schließlich der gemeinsame Ausflug zum Angeln. Skadi, wie sie in diesem zerrupften Kleid ihr Diebesgut zurück zum Schiff beförderte, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Das erste und letzte Mal, dass er sie ihn derart weiblicher Kleidung zu Gesicht bekommen hatte. „Ich hatte sie kurz vorher gefunden, glaube ich.“ Während des Festes war es meist ein Zustand zwischen Kater und Angetrunken gewesen. Die zeitliche Reihenfolge war nicht mehr ganz so detailliert. „Sie war so einem komischen alten Kautz aus der Tasche gefallen, der bei uns anheuern wollte. Habe ich dir nicht davon erzählt?“ Er war wirklich verwundert. Anscheinend hatte es sich nie ergeben. „Ich habe auch erst wieder dran gedacht, als wir schon wieder unterwegs waren. Talin und Luc haben sie in ihre Obhut genommen. An sich ein leeres Stück Pergament, wenn man so will, aber…“ Der Gedanke an dieses eigenartige Gefühl zwischen den Fingern ließ ihn auch jetzt wieder erschaudern. „Es fühlt sich an, als hätte man ein Stück pures Eis zwischen den Fingern. So etwas habe ich noch nie gesehen, geschweigedenn davon gelesen.“
Sie schüttelte Kopf. Nach einigen Atemzügen, in denen sie den Kopf und Blick an ihm vorbei in den Nachthimmel wandte und die vergangenen Wochen Revue passieren ließ. Nichts von einer Karte. Keiner, die mehr als nur Pergament und Tinte war. „Nein... Weder in der Gasse, wo ich auf dich getroffen bin, noch danach, als wir das Diebesgut zum Schiff gebracht haben.“ Womöglich weil einfach zu viel passiert war. Vielleicht weil in all ihren gemeinsamen Erlebnissen alles andere wichtig gewesen war. Der Spaß an der Musik. Den Unterhaltungen. Skadi schluckte kurz, als ihre Fantasie abschweifte und das Flackern der Laterne das knisternde Feuer in ihre Erinnerungen zurückholte. Im Wald. Mitten in der Nacht. Fast wäre ihr ein Teil der Erzählung entgangen, zu der Liam angesetzt hatte. Aus den Augenwinkeln musterte sie ihn aufmerksam. So gut es irgend ging. Dann verzog sie die Lippen. Nachdenklich. „Pures Eis? Hm. So etwas habe ich auch noch nie in den Händen gehabt. Und ihr habt nicht herausbekommen, was es enthält?“
„Nein, bislang nicht.“ Ihm war auch keine andere Idee mehr gekommen, diesem geheimnisvollen Pergament auf eine andere Art und Weise etwas zu entlocken. Während er sprach, griff er ganz selbstverständlich wieder zur Flasche und zog den Korken aus dem Hals. „Ich will einfach nicht glauben, dass uns damit jemand zum Narren halten will. Allein eine solche Art Papier muss so unfassbar wertvoll sein, dass man sich damit keinen Spaß erlaubt. Womit auch immer der Zeichner seine Tinte hat verschwinden lassen… Man liest immer davon, dass Wärme oder Feuchtigkeit unsichtbare Tinte wieder zum Vorschein bringt, aber… Nichts.“ Fragend hob er die Flasche in Skadis Richtung, um ihr zumindest noch einen Schluck angeboten zu haben, selbst wenn er davon ausging, dass sie ablehnte. „Die Kälte, die von diesem eigenartigen Pergament ausgeht, ist die einzige Spur, die wir haben.“
„Und wenn es ein Lied ist.“ Es war ein kurzer Gedanke. Ein Blindschuss. Doch manchmal waren wahrhaftige „Schnaps“ideen was am Ende vielleicht Gold wert war. Seinem Angebot nickte sie gedankenverloren zu, ohne wirklich darüber nachzudenken. Selbst wenn sie eine Sekunde später, als die Flüssigkeit bereits in ihren Krug plätscherte, wusste, dass ihre selbstverordnete Nüchternheit es nicht guthieß, so starken Alkohol in sich hinein zu kippen. „Oder es ein passendes Gegenstück braucht? Etwas... wie aus einer anderen Welt?“
Zum Glück dachte er daran, die Flasche wieder abzusetzen, als Skadi einen weiteren Gedanken in den Raum warf, der ihm zwar mal dumpf gekommen war, den aber in jener Nacht recht schnell verworfen hatte. Ihr Tonkrug wies somit nicht wirklich mehr Inhalt auf als sein eigener. „Das schlimme ist… Es könnte alles sein.“, seufzte er, während er die Flasche wieder hinstellte und sich nun seitlich an die Reling lehnte, um die tanzenden Lichter auf Skadis Zügen zu mustern. Es war angenehm, dass der Schnaps die Härte aus ihren Zügen trieb, die sie die letzten Wochen begleitet hatte – ihm gegenüber jedenfalls. „Und magische Melodien werden gar nicht mal so selten in der Literatur erwähnt. Ob wirklich was dran ist…“ Er zuckte mit der Schulter. Bislang hatte er noch nicht das Glück gehabt, Zeuge von dergleichen Phänomenen zu werden – abgesehen davon natürlich, dass Musik den Menschen Freude in die Gesichter zauberte. „Musik, ein Element, vielleicht auch irgendeine Flüssigkeit oder Kräutermischung. Das Problem ist, dass wir mit allem, was wir ausprobieren und was physischer Natur ist, Gefahr laufen, das Pergament zu zerstören. Am besten wäre es also, wenn wir herausfinden würden, woher es kommt, um zu verstehen, wie es funktioniert.“
„Was bedeutet, dass wir durch die Welten reisen müssen, um Gewissheit zu haben.“, vollendete die Nordskov und begann auf der Unterlippe herum zu kauen. Ihr Kopf sprudelte vor Ideen. Doch wenn Liam recht behielt, sorgten sie alle nur für die Zerstörung des Pergaments. Mit Ausnahme der Lieder. Seufzend lehnte sich Skadi zurück. Fast im selben Moment als der Lockenkopf gegen die Reling glitt und kurze Zeit in ihrem toten Winkel verschwand. Dann hob sie die Beine auf den Deckel. Drehte sich mit Armen und Körper zur Seite, knapp am Krug vorbei, um im entspannten Schneidersitz nun direkt zu ihm aufzusehen. „Aus dem komischen Kistchen bin ich auch nicht wirklich schlau geworden.“
Er nickte langsam. Diese Aufgabe sorgte vermutlich für Unmengen an Abenteuern – gleichzeitig aber war es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, solange sie nicht wussten, wo sie anfangen sollten. „Das und dass wir ein bisschen Glück brauchen, um zufällig über irgendetwas zu stoßen, was uns weiterhilft.“ Er musterte kurz die klare Flüssigkeit in seinem Krug, die in der Dunkelheit der Nacht wie Pech wirkte. Unweigerlich musste er darüber nachdenken, ob Schnaps vielleicht mehr Wirkung zeigte als Wasser. Alkohol gefror nicht. Aber wenn es nicht funktionierte, war dieses magische Stück Papier nicht nur angesenkt und angekritzelt, sondern auch noch in Wasser und Honigbeer-Schnaps getränkt. Er sah auf, als Skadi das nächste Rätsel auf den Tisch holte. „Vielleicht hatten sie das Ding auch von diesem komischen Kautz. Aber den wiederzufinden, ist vermutlich genauso aussichtlos wie einfach blind durch die Gegend zu segeln. Irgendwie bemalt oder graviert war sie nicht, oder? Nichts, worauf man darauf schließen könnte, wo sie hergestellt wurde?“ Nachdenklich ließ er den Schnaps in seinem Krug kreisen, ehe er daran nippte und das Gesicht leicht verzog. „Aber was das angeht, kann Alex vielleicht weiterhelfen. Vielleicht ist irgendetwas besonderes an der Verarbeitung oder dem Holz an sich.“
Zufall. Allmählich wurde dieser stetige Begleiter ihrer Reise ein wenig zu präsent, wenn es nach ihr ginge. Es gab nichts Unbeständigeres, das so viel Macht über den Ausgang eines Weges und einer Entscheidung haben konnte. Sie seufzte in leiser Zustimmung. Verzog die Lippen und lenkte den Blick von Liams halb beleuchteten Zügen auf den dunklen Horizont. „Ich glaube nicht nein. Man könnte nicht einmal behaupten, irgendwelche Rillen zu erkennen. Als wäre es aus Holz gegossen worden.“  Eine absurde Vorstellung, wenngleich mehr als zutreffende Beschreibung. Dann nickte sie. Trommelte gedankenverloren mit den Fingerspitzen über das dicke Holz der Kiste unter sich. „Vielleicht. Einen Versuch wäre es wert. Ob er mir allerdings freiwillig helfen wird.“ Die kleine Pause hing provokativ in der Luft und hinterließ trotz des negativen Untertons ein süffisantes Lächeln auf ihren Züge. Alex hatte bisher nicht den Eindruck erweckt, als wollte er zwingend ihre Gesellschaft genießen. Was nicht verwunderlich war. Sie hatte nicht gerade die allerbeste Laune an den Tag gelegt. „Vielleicht gebe ich ihm einfach einen Krug von deinem Schnaps als Einstand. Hat bisher immer geholfen.“
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#2
Ein nachdenklicher Laut verließ seine Kehle, leise nur, während sich sein Blick wieder im Dunkeln seines Kruges verlor. Aus Holz gegossen? Zugegeben, er war ein wenig abgelenkt gewesen, als er das Ding das letzte Mal in der Hand gehabt hatte. Vielleicht war es wirklich nur ein Klotz, weshalb auch immer es dann so klang, als hätte sie etwas in ihrem Inneren verborgen. „Vielleicht versteckt sich auch ein Flaschengeist darin, wer weiß.“ Ein warmes Schmunzeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er aufsah und obwohl seine Stimme vermuten ließ, dass es ein Scherz war, verriet das Funkeln in seinen Augen, dass er die Möglichkeit nicht für völlig unmöglich hielt. Geschichten gab es viele und auch, wenn bislang niemand sicher ihre Existenz bewiesen hatte – das Gegenteil auch nicht. Trotzdem klang es erst einmal erfolgsversprechender, Alex um seine Meinung zu fragen. Skadis Vermutung ließ ihn kurz die Lippen verziehen. Es verwunderte ihn offenbar nicht. „Er ist ein Mensch, der sich gerne Gefallen warm hält.“, erklärte er. „Aber ganz bestimmt kein menschenfreundlicher Samariter.“ Ihr Vorschlag entlockte ihm ein flüchtiges Lachen. Bei solch einer Kleinigkeit sollte ein Glas Schnaps ebenfalls Wunder wirken. „Ich habe gehört, dass eure erste Begegnung nicht ganz so glücklich war.“
Weder das eine, noch das andere war besonders erstrebenswert. Vorausgesetzt man maß an den Werten eines Gutmenschen, der stets zum Wohle anderer handelte und die zweite Wange hinhielt. Aus den Augenwinkeln sah Skadi zu Liam zurück. Musste anerkennen, wie verdammt ehrlich er zu ihr in diesem Punkt war. Zumindest wusste sie jetzt, dass ihr erster Eindruck von Alex nicht unbegründet in ihrer Magengegend gezogen und ihre Sinne alarmiert hatte. „So glücklich wie sie mit einer Leiche in einer Werft nur sein konnte.“, fügte sie hinzu und schnaubte. Was auch immer dieser Kerl ihm erzählt hatte, es ändert nichts daran, dass die Umstände einfach nicht ideal gewesen waren. „Er war auch unglaublich charmant.“ Zynismus war noch die kleinste Form der Untertreibung, die sie wählen konnte. Alex hatte sie zum Narren halten wollen. Aus gutem Grund womöglich. Doch war das nicht auf nahrhaften Boden gestoßen. „Angesichts der Lage konnten er und Jonah nur froh sein, dass wir da waren. Enrique kaum mehr aufzuhalten. Herr Offizier. Sonst... na ja. zumindest für Jonah sah es nicht sonderlich gut aus.“
Das waren wahrlich keine guten Voraussetzungen. Zur Zeit war ihnen das Glück einfach nicht hold und im Endeffekt hatten konnten sie sich bereits glücklich schätzen, dass sie nicht in Jonahs Lage gewesen waren. „Niemand hatte einen Grund, irgendwem zu trauen.“, versuchte Liam sein Verständnis für die Situation vorsichtig zu äußern. Auch, wenn er zugeben musste, dass ihm selbst schleierhaft war, weshalb sich Alex überhaupt in diese Angelegenheit eingemischt hatte. ‚Aus einer Laune heraus‘, war seine Begründung gewesen. Eine, die bei ihm aber tatsächlich plausibel sein konnte. Als Skadi fortfuhr, lachte er erneut. Ebenfalls keine große Überraschung. „Ja, so ist er.“, nickte er anerkennend und nahm einen weiteren Schluck Schnaps, der ihm die Wärme durch den Körper trieb. „… Ich fürchte, das war mit Grund dafür, dass ihm nicht unbedingt nach Kooperation war. Ich meine… Eine Gruppe Fremder, die Hobbydetektiv spielt, würde dir und mir vermutlich genauso wenig passen. Für sie wart ihr vermutlich mindestens genauso verdächtig.“ Auch, wenn es danach klang, hatte er eigentlich gar nicht vor, zu vermitteln. Er kannte Alex‘ Version der Geschichte, sogar noch recht brühwarm und dementsprechend voller Emotionen. „Gib‘ ihm eine Chance. Er kann nett sein, wenn er will.“ Er lächelte. „Ähnlich wie Shanaya.“
Nicht einmal innerhalb der Crew, wenn Skadi ehrlich sein sollte. Die Flucht auf der Kopfgeldinsel hatte zwar eindrucksvoll bewiesen, dass sie einander brauchten, doch änderte es nichts daran, dass letztlich jeder von ihnen sich selbst der Nächste war, wenn es noch härter kam. Sie beschönigte sich nichts. „Er kann sein wie er will, wenn er das Echo verträgt.“ ,entgegnete Skadi nach einem tiefen Atemzug und zog die ausgestreckten Hände knapp hinter ihre Hüfte, um sich entspannt zurück zu lehnen. „Bin schon gespannt, wie viel er sich von einer Frau sagen lassen wird.“ Da war es wieder, dieses süffisante Lächeln auf ihren Lippen, das dem Shanayas durchaus Konkurrenz machte. Es war nicht so, dass sie an der „Loyalität“ des Dunkelhaarigen zweifelte. Sie glaubte vielmehr aus all den Erzählungen Liams herausgelesen zu haben, dass Alex ein generelles Problem mit Autoritäten besaß. Erst recht wenn er eine Meinung hatte, die in seinen Augen weitaus besser war, als die seines Gegenübers. “Ansonsten betrachte ich ihn einfach wie einen meiner Brüder.“ Was viele Sticheleien und Raufereien bedeutete. Kleine Rangkämpfe, die die Beziehung frisch und am Leben erhielt. „Wenn er aufmuckt, gibts nen Klapps hinter die Ohren. Oder wir klären das draußen ... zu zweit.“ Unweigerlich entfuhr der Nordskov ein Lachen. Warm und herzhaft. Gedämpft um niemanden unterhalb des Decks aufzuwecken.
Da hatte er nur wenige Bedenken. Alex war jemand, der sowohl austeilen als auch einstecken konnte. Nicht zuletzt, weil er es bevorzugte, alles nicht ganz so ernst zu nehmen. Die Zeit würde zeigen, wie gut er sich am Ende wirklich in die Crew einfügen würde und wie lange sie überhaupt noch in dieser Konstellation unterwegs sein würden. Gerade was Elian und Farley betraf war sich Liam recht sicher, dass sie nicht mehr lange mit ihnen unterwegs sein würden. Doch statt sich nun um den jüngeren Montrose zu scheren, versicherte er Skadi lieber mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck, dass Alex ein dickes Fell hatte. „Hm.“, erwiderte er auf ihre nächste Befürchtung und sah mit einem sachten, liamtypischen Lächeln zu ihr auf. „Ich mache mir da nur recht wenige Sorgen.“ Alex unterschied nicht prinzipiell zwischen Männlein und Weiblein. Eher zwischen Sinn und Unsinn, wobei ihn auch ein Hauch von Wagemut und Wahnsinn kennzeichnete. Ihr Vorhaben ließ das Lächeln auf seinen Zügen wärmer werden, während sich sein Blick wieder von ihren Zügen löste und gen Horizont wanderte. Die Nacht war finster und die Regenfront trieb ihnen allmählich einen sanften Nieselregen entgegen. Bei der schwülen Luft eine Wohltat. „Das klingt, als wüsstest du ziemlich genau, wie man mit ihm umgehen muss.“ Seine Stimme unterstrich im Grunde, was er zuvor gesagt hatte – er hatte keine Bedenken, dass Skadi und Alex früher oder später gut miteinander auskommen würden. Vielleicht stellte er sich das aber auch zu einfach vor. Weil er sie gut leiden konnte. Und es in seinem Kopf automatisch zu einer Lubaya-Situation wurde.
Mit einem amüsierten Zug in den Mundwinkeln, zuckte Skadi mit den Schultern und wägte mit dem Kopf demonstrativ ihre Möglichkeiten ab. „Sagen wir lieber... ich bilde mir ein, dass es genauso funktioniert wie bei meinen Brüdern.“ Damals. Als sie noch die große Schwester gewesen war, die immer ein Auge auf die Verrückten haben musste. Jetzt sehnte sie sich fast schon nach den Flausen der anderen. Früher hatte sie nur ein schmerzhaftes Augenrollen dafür übrig gehabt. „Zur Not überlasse ich dir den Kindskopf. Wenn du ihn nicht zur Vernunft bringen kannst, dann wohl niemand.“ Nun war es an ihr mit einem warmen Lächeln aufzuwarten und dann zur Seite auf die Regenwolken zu blicken. „Bereit für eine kleine Dusche?“
Es hatte etwas bitteres, sie von ihren Brüdern sprechen zu hören. Besonders nach dem zurückliegenden emotionalen Ausbruch, der zwangsläufig mit all den geliebten Verlorenen zusammenhing. Skadi galt ein andächtiges Lächeln, doch er schwieg. Mochten sie in Frieden ruhen. „… Ich bin ehrlich – ich hab’s nie versucht.“, gestand er. Und er hatte es auch in Zukunft nicht vor. Alex war gut so, wie er war. Manchmal etwas anstrengend, aber das war er auch. Das waren sie alle. Sein Blick ruhte auf ihren Zügen und ihm wurde bewusst, wie sehr er dieses Lächeln vermisst hatte. Der Schnaps tat sein Übriges und verlieh der Streitigkeit der letzten Wochen ein wenig mehr Leichtigkeit, während sie so miteinander sprachen. Liam war nicht nachtragend. Noch nie gewesen. Frage sich nur, wie Skadi das handhabte. Sein Blick folgte ihrem zum Horizont und ihre Frage hinterließ ein erwartungsvolles Schmunzeln auf seinen Zügen.. *„Naja, wenn ich mich recht erinnere, bin ich immer der Einzige, der bei so Wetter freiwillig hier oben ist.“* Er mochte raues Wetter, Regen, Wind und Hagel. Es verlieh der Natur etwas Stilles und Andächtiges. Vielleicht, weil sie dann meistens wie ausgestorben war, weil sich alle in ihre wohligen Häuser zurückzogen und man das Gefühl hatte, alleine auf der Welt zu sein. Schwerelos. Frei. Schließlich leerte er seinen Krug mit einem letzten Schluck, stellte ihn neben Skadi auf der Kiste ab. Dann stieß er sich von der Reling ab, um zwei Schritte nebendran schon wieder zum Stehen zu kommen – vor der Kiste, auf der Skadi saß. „Ich -“, begann er und in seinen Mundwinkeln zuckte zwischen dem Lächeln vielleicht sogar so etwas wie Verlegenheit auf. Seine Augen ruhten für den Moment des Schweigens auf seinen Händen, die widerum locker auf ihren Knien lagen. Eine Nähe, nach der er sich die letzten Wochen wirklich gesehnt hatte. „Ich hab‘ dich wirklich vermisst.“
Es verwunderte sie nicht - so wie sie den Lockenkopf die letzten Wochen oder gar Monate kennengelernt hatte, äußerte er vielleicht seine Bedenken, doch selten auf eine Art und Weise, die irgendjemandem in etwas hineinredete. Vielleicht mochte das eine diplomatische Art sein, die sie sich des Öfteren zu Eigen machen sollte. Doch dafür war es längst zu spät. Einen Baum wie sie konnte man nicht plötzlich dazu zwingen in andere Richtungen zu wachsen. Egal, wie sehr man ihn auch stutzte. „Ein Wunder, dass du nicht andauernd krank bist.“, fügte die Nordskov auf seine Worte hinzu und schmunzelte. Sie selbst hatte keine Probleme damit auf einer Reise in unbequemes Fahrwasser zu geraten. Doch sobald es kalt wurde, zog es sie schlagartig in die Wärme zurück. Unter dem einsetzenden Nieselregen allerdings, legte sie vollkommen entspannt den Kopf in den Nacken. Fühlte den winzigen Tropfen auf ihrer Haut nach, die sich binnen mehrerer Stunden sukzessive durch den Stoff ihrer Kleidung schleichen würden. Mit geschlossenen Augen ließ Skadi den Moment unter ein paar Atemzügen auf sich wirken. Blickte erst wieder auf, als warme Finger über ihre Knie strichen und Liam zu reden begann. Stille machte sich zwischen ihnen breit, während sie zu ihm hinauf sah und das dichte Braun seiner Locken sein Gesicht verdeckte. Ein seltsamer Moment wieder mit dem Thema zu beginnen und doch fühlte es sich anders an als zu vor. Sensibler. Als könne jede falsche Regung ein Glas zu Boden werfen. Nur langsam setzte sich Skadi zur vollen Größe auf. Zog die Hände von dem rauen Holz der Kiste hinter sich, um behutsam die dichten Strähnen aus seinen Zügen zu vertreiben. Das Lächeln, das sich dabei auf ihre Züge schob, kam so natürlich, dass sie es selbst kaum bemerkte, als sie mit schief gelegtem Kopf den Blick seiner Augen suchte und ihm unter einem leisen Schnauben ein „Ja.“ entgegen flüsterte. Ein Ja, das so viel mehr zwischen den Zeilen sagte und bedeutsamer mit jeder Berührung wurde, die ihre Fingerspitzen auf seiner Wange hinterließen.
Unkraut verging nicht, eine Floskel, die sich in seinem Leben vermutlich schon öfter bewahrheitet hatte. Er war es seit jeher gewöhnt, bei Wind und Wetter draußen herum zu stolpern. Sein Immunsystem war förmlich gezwungen, auf alles irgendwie vorbereitet zu sein. Sein Glück, ansonsten hätte er die Schusswunde vielleicht weniger gut weggesteckt. Weniger gut als ohnehin schon. Aber ihm war Fieber und Wundbrand erspart geblieben. Blieb abzuwarten, wie viel Glück er das nächste Mal haben würde.
Er spürte die nieselnasse, warme Haut unter seinen Fingern, schwieg für den Moment, den der Schnaps brauchte, um seine Zunge zu lockern und spürte, wie sich eine leise Unruhe von seinen Fingern aus in seine Magengrube stahl. Eigentlich hatte es nur ein flüchtiges, ehrliches Geständnis sein sollen, weil er damit keine Probleme hatte. Weil er sagte, was in ihm vor ging und ehrlich nach außen trug, was ihn beschäftigte. Es fiel ihm nicht schwer, Komplimente zu machen oder Tatsachen auszusprechen, ganz gleich wie intim sie schienen. Vielleicht, weil ihm die Tiefe meistens selbst nicht bewusst war. Und jetzt stand er da, festgekettet an das Braun ihrer Augen, das sanft im Licht des Feuers funkelte. Liam schloss die Augen, als Skadi ihm sanft die nassen Strähnen aus der Stirn wischte. Und auch, als er die Augen wieder öffnete, war es nicht das Gesicht eines Monsters, in das er sah. Er sah Sehnsucht. Verlust. Angst. Himmel, er konnte nicht einmal im Entferntesten erahnen, was sie durchmachen musste. Ihre Stimme schlich sich so leise in sein Ohr, dass es auch nur Einbildung hätte sein können. Vielleicht musste er sich wirklich eingestehen, dass das hier keine reine Freundschaft war, kein pures Verlangen. Doch so schnell, wie dieser Gedanke gekommen war, vertrieb ihn das sanfte Gefühl ihrer Finger wieder und hinterließ Leere. Belanglosigkeit. Zeitlosigkeit. Langsam lösten sich seine Finger von ihrer Haut, bis sich seine Hand sanft auf ihrer Wange wiederfand. Sein Daumen umspielte ihre Lippen, bis er sich letztlich nach vorne beugte und dem Drang nicht mehr widerstehen konnte, ihr nach all den Wochen einen Kuss von den Lippen zu stehlen.
Der Streit war vergessen. Wenn nicht bereits seit ihrer aktiven Entscheidung vor etlichen Tagen, dann spätestens jetzt, in jenem Moment, als sich Liam zu ihr hinab beugte und ihr Atem still stand. Augenblicklich war sie wieder zu Hause. Irgendwo unter dem dichten Blätterdach der Insel, auf dessen grünes Haupt leichter Regen prasselte und unter dessen Schutz sie ihren ersten Kuss bekam. Heimlich. Vollkommen unvorbereitet. Nach einer Auseinandersetzung, die hitzig und lautstark gewesen war. Skadi schloss die Augen. Blendete das Schiff, die See und den leichten Niesel aus, der mit jeder verstreichenden Minute intensiver wurde. Umfasste den durchnässten Stoff seines Hemdes, als könne er innerhalb eines Herzschlages beschließen, fort zu gehen. Noch weiter weg. Vielleicht für immer. Ob sie erst jetzt begriff, wie sehr sie ihn vermisst hatte? Wo der leichte Duft seiner Haut so nah war, wie seit langem schon nicht mehr? Skadi seufzte innerlich. Verbat sich jeglichen Gedanken, der über das hinaus ging, was gerade geschah. Und doch löste sie sich von ihm. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie ihn immer wieder in einen Kuss hineingezogen hatte. Röte stahl sich auf ihre Wangen. Eine Hitze, die durch ihren ganzen Körper, bis zu den Fingerspitzen schoss. Und während ihr Atem flach und unkontrolliert durch die kälter werdende Luft flirrte, blickte sie auf. Direkt in diese warmen Augen, die ihr jegliche Nerven kosten und doch so viel schönere Dinge sagen konnten, als es der volle Mund je tat, dessen Konturen sie mit ihren Augen umrundete. Für einen kurzen Moment. Schweigend. Ehe Schritte am anderen Ende des Schiffes laut wurden.
Seine Gedanken waren wie leergefegt. Die Sorgen und die Distanz, die die letzten Wochen zwischen ihnen gelegen hatten, waren wie fortgespült. Liam wagte es nicht, sich zu fragen, ob es nur für den Moment war. Denn selbst wenn – dann war er es wert, dass man ihn genoss. Eine angenehme Ewigkeit später erst, lösten sich ihre Lippen endgültig von seinen. Er bedachte kurz den Feuerschein in ihren Augen, ehe sein Blick über die feinen Züge ihrer rundlichen Nase bis hin zu ihren vollen Lippen wanderte. Sein Daumen strich sanft und langsam über ihre Wange. Für die Schritte in seinem Rücken war in seinem Kopf in diesem Augenblick kein Platz. Erst, als sie zu nah waren, als dass er sie weiter hätte ignorieren können, wandte er sich ein wenig überrascht um und ließ die Hand sinken. Ihm gefiel das wissende Grinsen nicht, das ihm vom Gesicht seines besten Freundes entgegenstrahlte. „Hab‘ ich doch richtig gesehen, dass du dich mit ‘ner Flasche nach oben gestohlen hast.“ Liam blinzelte, seine Gedanken brauchten noch einen Moment, bis sie geordnet waren. „Ihr zwei wisst, wie man die Schichten rumbringt, was?“ Alex wusste, dass er störte. Deshalb ersparte er ihnen diese Frage einfach.
Noch immer umspannte das klamme Leinen ihre Finger und ließ selbst dann nicht ab, als sich die dichten Locken herum wandten und das dumpfe Geräusch von Schritten unverkennbar näher gerückt war. Ihre nächtliche Gesellschaft hatte sich also dagegen entschieden, wieder zurück zum Mannschaftsdeck zu verschwinden. Großartig. Langsam kippte der dunkle Schopf der Nordksov zur Seite und spähte an Liams Oberarm vorbei in die Dunkelheit. Fast zeitgleich, als sich das Grinsen auf Alex Züge schlich und sie mehr als einmal tief durchatmen musste. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. „Bist du nur deshalb nach oben gekommen?“ Sie klang sichtlich amüsierter, als sie es war. Lächelte sogar süffisant über ihre Worte hinweg, weil die Wärme, die sich von Liams Brust zu ihren Fingern gesellte beruhigend auf sie wirkte. „Oder bist du nicht der Typ zum Teilen?“ Hier ging es allein um den Schnaps. Was Skadi selbst vollkommen klar war. Denn anderen beiden vielleicht nicht unbedingt.
Noch ehe Liam etwas entgegnen konnte, war es Skadi, die die Stimme erhob. Und das süffisante Grinsen auf ihren Zügen, ließ ihn nichts Gutes vermuten in der jetzigen Konstelllation. Alex kam näher, lächelte selbstsicher und griff nach der angefangenen Schnapsflasche. „Machst du Witze?“, fragte er an Skadi gewandt und schnaubte belustigt, entkorgte die Flasche und goss sich ungeniert einen Schluck in den leeren Krug, der neben Skadi stand. „Ein edler Tropfen schmeckt doch erst mit guten Freunden wirklich gut. Oder siehst du das anders?“ Er klang beinahe schon unschuldig, wie er dastand, den Korken zurück in die Flasche drückte und den Krug in die Hand nahm. Als gäbe es nichts, was in irgendeiner Weise unangenehm sein könnte für irgendwen. „Alex.“ Liams Stimme klang eindeutig und bedurfte keiner weiteren Worte. „Was? Wir haben den immerhin zusammengekauft.“ Ein guter Versuch, weiterhin so zu tun, als wäre er nicht in eine eindeutige Szene hineingeplatzt, doch der Blick seines Freundes sprach Bände. Alex seufzte. „Ihr braucht euch vor mir nicht genieren.“ Er kippte den Schnaps herunter und machte zeitglich eine beiläufige Geste mit der freien Hand. „Ich schweige wie ein Grab, wenn ihr wollt. Weißt du doch.“ Aber ein bisschen wollte er sich schon in seinem Ruhm sonnen – er hatte Recht gehabt!
Gute Freunde. Damit hatte er wohl ausdrücklich Liam gemeint. Zumindest waren sie sich in der Hinsicht einig - erwünscht war gerade keiner von ihnen. Wieso Alex allerdings so penetrant neben ihnen stehen blieb und sich selbst dann nicht unter Deck zurück verschwand, als Liams Tonfall fast schon tadelnd und eindringlich wurde, warf Fragen auf, die Skadi für einen kleinen Moment zur Seite schob. Nur um ihre Finger aus dem klammen Stoff seines Hemdes zu zwirbeln und die flache Hand auf seine Brust zu betten. Wen sie damit allerdings beruhigen wollte, war ihr selbst nicht wirklich klar. „Alex... was willst du?“ Ein Seufzen begleitete ihre Worte, gefolgt von einem Blick, der den Älteren nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Ihr war klar, dass er hier ein bisschen Unruhe stiften wollte. Und nicht, um sie zu ärgern, sondern ganz offensichtlich, um Liam einen salzigen Finger in die Wunde zu drücken. Wahrscheinlich irgendeine alte Geschichte von damals, die er ihr noch nicht erzählt hatte. Oder? „Wenn es um den Schnaps geht... nimm ihn mit und geh schlafen.“ Nur langsam lehnte sich die Nordskov auf ihrem Platz zurück. Suchte eine Position in der sie besser zu Alex hinauf sehen und dennoch keinen Millimeter von Liam abrücken konnte. „Bei allem anderen störst du gerade etwas. Aber das brauche ich dir wohl nicht zu sagen.“
Hier war vermutlich jedem bewusst, dass es nicht um den Schnaps ging. Liam schwieg, während er zu ergründen versuchte, was genau seinen Freund gerade geritten hatte. Und, weil er hoffte, seine Bitte hätte gereicht. Fehlanzeige. Liam atmete tief an. Er spürte Skadis Finger auf seiner Brust, hielt den Blick allerdings auf Alex gerichtet, der sich in einer selbstverständlichen Geste nun selbst einen Schnaps genehmigte. Und dann dämmerte es ihm in Anbetracht der letzten Wochen und all der Zeit, die sie aufgeholt hatten. Indes versuchte die Nordskov, ihn zu behandeln wie einen Erwachsenen. Liam schüttelte flüchtig den Kopf. Das würde nichts bringen, eher im Gegenteil. Und wenn er richtig lag mit seiner Vermutung, traf Skadi diese Aufführung völlig grundlos. Der Lockenkopf wusste aber auch, dass es schwer werden würde, Alex die Wahrheit zu entlocken. Weil er es selbst nicht wahrhaben wollen würde. „Entschuldige uns kurz.“ Er rang sich ein Lächeln ab, als er sich langsam von Skadi löste. Es hielt es für wichtig, die Situation genau an dieser Stelle zu unterbrechen. Er ahnte nämlich, dass sie sich gegenseitig hochschaukeln würden. Sie konnten beide Hitzköpfe sein. Und gerade, als Alex vermutlich zu einem Konter ausholte, drückte Liam ihm ein wenig barsch die Schnapsflasche gegen die Brust. Der Ältere schien zu verstehen, dass es besser war, ihm nun in die Richtung des Mannschaftsdecks zu folgen. Liam war niemand, der andere öffentlich zur Schau stellte. Besonders nicht, wenn es sich um seinen besten Freund handelte. Umso selbstverständlicher war es, dass er es unter vier Augen klären wollte. „Was ist los mit dir?“, war das letzte, was man ihn Alex entgegenzischen hörte, ehe die Tür hinter ihnen zufiel.
Es dauerte einen Moment, bis er zurückkehrte – allein. Auch, wenn das Lächeln zurück auf seine Züge trat, als er sich neben Skadi wieder an die Reling stellte, sah man ihm an, dass es ihm unangenehm war. „Ich muss mich für ihn entschuldigen.“ Gerade jetzt, wo er versucht hatte, Skadi zu versichern, dass er nett sein konnte. Alex hatte ein Händchen dafür, derlei Dinge außer Kraft zu setzen. „Manchmal sind Brüder eben peinlich, was?“
Sie sah wie sich seine Lippen zu einer Antwort öffneten, die bereits mit einem Funkeln durch seine dunklen Augen sickerte. Doch aus dem nichts regte sich die warme Haut unter ihren Fingern und hinterließ eine unangenehme Leerstelle. Kalt. Und nass. Skadi sah zur Seite. Erst aus den Augenwinkeln, dann mit dem gesamten Schopf dessen dunkle Locken nass an ihren Schläfen klebte. Irgendetwas in Liams Blick und dem kratzigen Unterton seiner Worte war seltsam. Wie diese ganze Unterhaltung, aus der sie schlagartig ausgeklammert wurde wie ein Fremdkörper. War sie etwa Teil des Problems? Skeptisch wandte sich die Nordskov herum, ungerührt vom warmen Lächeln auf seinen Lippen. Sie wusste, dass es nur obligatorisch war. Um die Stimmung zu glätten, dessen Wellenkämme langsam bis an ihren Hals schwappten. Stattdessen taxierte sie Alex. Versuchte aus dem Ausdruck seiner Züge schlau zu werden und verharrte selbst dann noch in ihrer Position, als beide bereits unter Deck verschwunden waren. Komischer Kerl.
Als Liam zurückkam, mit leisen Schritten und irgendwie leichter als zuvor, so bildete sie es sich zumindest ein, hockte sie bereits mit dem Gesicht zum Meer gewandt auf dem anderen Ende der Kiste. Die Beine gegen die Reling gestemmt. Die Arme unter einem nachdenklichen Stirnrunzeln ineinandergeschoben. „So sind Brüder nun einmal, wenn sie meinen auf einen aufpassen zu müssen.“ Ein flüchtiges Lächeln schob sich in ihren Mundwinkel. Verweilte so lange darin, bis sie den Blick von Liam abwandte und auf einen undefinierbaren Punkt am Horizont starrte. „Passt ihm wohl nicht, hm?“ Das mit uns. Dass er seinen besten Freund teilen musste. Dass er auf einem Schiff angeheuert hatte auf dem ausnahmslos jede Frau darauf Tabu war. Oder nicht Teil seiner Liga. Wie auch immer. Skadi verschwendete keinen Gedanken daran, was sie gerade unausgesprochen und doch so klar und deutlich zwischen ihnen zurückließ. Es fiel ihr nicht einmal auf, als sich ein tiefen Seufzen aus ihrer Kehle schälte und sie die Augen schloss.
Seine Züge wirkten erschöpft, aber bei weitem nicht mehr so angespannt wie zuvor. Skadis Worte gaben ihm die Hoffnung, dass sie tatsächlich Verständnis dafür hatte – auch, wenn es nichts entschuldigte. Es war fast schon bemerkenswert, wie treffsicher sie ihre Vermutung formulierte. Liam hatte nur noch ein Seufzen dafür übrig. Weil es das war, was die Sache kompliziert machte. Um Alex machte er sich allerdings nur herzlich wenige Sorgen. Er war einfach zu besänftigen. Vorausgesetzt, ihm fiel ein Weg ein, das Ganze möglichst unvoreingenommen mit ihm zu besprechen. Bei einem Bier oder zweien. Wenn es nötig wurde. Die Unterbrechung hinterließ eine unangenehme Unruhe in seiner Magengrube. Frieden schien ihnen im Augenblick einfach nicht gegönnt. Skadis leise Vermutung ließ ihn auf sehen. Weil es komisch klang, in erster Linie. Und dann, weil ihm dämmerte, dass sie es persönlich nahm, obwohl diese Aktion ganz allein ihm gegolten hatte. Dieser Drecksack. „Selbst wenn.“, brachte er unter einem leisen Schnauben hervor, dem deutlich anzuhören war, dass es ihn tatsächlich amüsierte. „Ich wüsste nicht, weshalb das unser Problem sein sollte.“ Das Lächeln auf seinen Zügen war aufrichtig. Und er war nicht gewillt, sich diese Versöhnung von irgendeiner Alex‘ Launen ruinieren zu lassen. Alex würde sich beruhigen. Müssen, im Zweifel. Er streckte den Arm aus und legte seine Hand auf ihre verschlungenen Unterarme. „Außerdem glaube ich nicht, dass es ihm da gerade wirklich um dich ging. Es ist viel mehr…“ Liam überlegte eine Zeit lang, wie er es formulieren sollte. „Ich glaube, er ist sauer, weil er damals nicht auf mich aufgepasst hat.“ Er hob die verletzte Schulter zur Verdeutlichung und das Lächeln auf seinen Zügen wurde etwas schräger. Das kompensierte er nun, indem er ihn vor der nächsten ‚Dummheit‘ bewahren wollte. Nur, dass sich ihre Definitionen ein wenig unterschieden.
Liam wirkte seltsam zerknirscht. Zumindest für die Verhältnisse, die sie kannte. Wobei. Er hatte bedeutend schlimmer ausgesehen, als sie sich das letzte Mal so unsagbar laut in die Haare bekommen hatten. Und dennoch. Die Nordskov wandte den Blick herum, als ihn ein leises Schnauben verließ und er mit nur wenigen Worten sämtliche Gedanken aus ihrem Kopf vertrieb. Es wäre ihm egal, was Alex zu sagen hatte. Was er über sie sagte. Skadi lächelte. Eine Spur zu erleichtert, als sie es zugeben würde, und doch als wäre sie die Sonne, die durch die Wolkendecke brach, die dunkel über ihnen hing. „Seh ich auch so.“, raunte sie ihm entgegen, kaum dass sich die vollen Lippen schlossen und ihre Blicke trafen. Ganz sicher würde sie sich von niemandem vorschreiben lassen, mit wem und wie sie ihre Zeit verbrachte. Dieser Zug war schon abgefahren, als sie ein Kind gewesen war. Nicht einmal ihr Vater hatte etwas daran ändern können. Und die einzige Partei, die diesbezüglich ein Mitspracherecht besaß, stand vor ihr. Mit klatschnassen Locken, die ihm wild im Gesicht klebten und einem Blick, den sie nicht recht zu deuten wusste. Dennoch brummte sie auf seine Worte. Löste langsam ihre Arme aus der Verschränkung und schob sich der Länge nach auf ihre Beine. Irgendwie konnte sie verstehen, wie Alex sich fühlte. Wieder etwas, das sie gemeinsam hatten. Wahrscheinlich waren sie sich weniger unähnlich, als sie sich eingestehen konnte. „Er hätte es wahrscheinlich auch dann nicht verhindern können, wenn er wie eine Glucke auf dir gesessen hätte.“ Und ganz gleich wie belustigend die Vorstellung war, zeichnete sich kein Lächeln auf ihren Lippen ab. Lediglich ein kleines Zucken begleitete ihre Mundwinkel, als sie den Kopf herum wandte. Die Augen auf Liam gerichtet. „Und selbst das ist ja wohl mein Part. Oder nicht?“ Nur langsam schob sich ein verhaltenes Grinsen auf ihre Züge, spiegelte sich im tanzenden Licht der Laterne in ihren Augen.
Die Sanftheit, die mit einem Male ihre Züge erhellte, überraschte ihn. Als hätte sie etwas anderes erwartet. Dabei kam sich Liam wirklich wie der letzte vor, der irgendeinem vorschrieb, wen er zu leiden hatte und wen nicht. Andersherum ließ er sich aber auch von Vorurteilen anderer nicht in seinem Denken beeinflussen. Da machte auch Alex keinen Unterschied. Außerdem wusste Liam nur zu gut, dass auch Alex im Grunde nicht so war. Er behielt seine Antisympathie nur für gewöhnlich nicht zurück. Skadi hatte ihm allerdings nichts getan. Er bezweifelte, dass das gerade groß Einfluss haben würde. Sein Lächeln wurde kräftiger, kaum dass die Schatten aus ihren Augen verschwunden waren. Innerlich stellte er sich allerdings die Frage, ob es fair gewesen war, Alex‘ Bedenken so frei nach außen zu tragen. Im Grunde war er selbst Schuld – er hatte ihn überhaupt erst in die Lage gebracht, ihn erklären zu müssen. Und alles andere wäre unfair gewesen. Sowohl ihm gegenüber als auch Skadi. „Das wissen wir beide.“, stimmte er ihr leise zu. „Aber er hatte nicht einmal die Möglichkeit, es zumindest zu versuchen.“ Er klang nicht danach, dass er sich die Laune weiterhin von diesem Thema vermiesen lassen wollte. Für ihn war es – vorerst – erledigt. Ob er es wieder aufgreifen müsste, entschied Alex ganz allein. Und als Skadi eine kleine Bemerkung nachschob, zeichnete sich auf seinen Lippen ein vielsagendes Grinsen ab. „Auch, wenn ich vermutlich in den meisten Situationen nichts dagegen hätte -“, stellte er mit einem warmen Blick in ihre Richtung klar, ehe er fortfuhr. „hoffe ich, dass du in brenzligen Situationen eher damit beschäftigt bist, uns alle da irgendwie rauszuboxen. Ich bezweifle nämlich, dass uns die Zukunft freundlicher gesinnt sein wird als das, was bereits hinter uns liegt.“ Nicht ohne Grund, das wusste er. Aber sie hatten sich dafür entschieden. Und er würde sich vermutlich ziemlich schwer damit tun, sich zu verzeihen, wenn Skadi etwas zustieß, bloß weil sie das Gefühl hatte, ihn beglucken zu müssen. Er war nicht so wehrlos, wie er sich gab.
„Schon klar.“, entgegnete die Nordskov mit einem ebenso breiten Grinsen auf den Zügen. Fuhr sich mit ausgestreckten Fingern von den Knöcheln über die Schienbeine bis zu den Knien hinauf, um letztlich von der Kiste auf ihre Füße zu gleiten. Irgendwie hatte sie das dringende Bedürfnis sich die Beine zu vertreten. „Dann sollten wir das Beste aus den guten Tagen machen, die uns noch geblieben sind, oder nicht?“ Eigentlich war es Liams Philosophie, weniger ihre eigene. Zu nehmen was kam und ohne ein schlechtes Gewissen zurück zu sehen. Doch gerade jetzt, wo sie eine Hand breit vor ihm stehen blieb, erschien es ihr die einzige und beste Möglichkeit. Um zu vergessen. Was war. Was kommen würde. „Bereit?“ Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihre Hand knapp vor seine Brust hob. Als würde sie ihn geradewegs um einen Tanz bitten. Zu einer Musik, die aus nicht mehr als dem Rauschen des Meeres und dem beständigen Plätschern des Regens bestand.
Das Lächeln auf seinen Zügen blieb, doch er kam nicht umhin, Skadi kurz überrascht zu mustern, ehe er den Blick fast schon sehnsüchtig auf den dunklen Horizont richtete. Optimismus war etwas, dem sie sich nur sehr ungern hingab, das wusste er. Sie bevorzuge es, die Dinge eher realistisch zu sehen, vielleicht sogar einen Hauch pessimistisch. Für den Augenblick aber wolle er den Hintergrund dieser plötzlichen Wandlung nicht hinterfragen. Für diese regnerische Nacht klang es zu perfekt. Die Realität konnte sie morgen wiederhaben. Skadi erhob sich und Liam warf fast automatisch einen Blick in die Richtung der Sanduhr am Steuerrad, weil er das Ende dieser Nacht teils befürchtete und teils herbeisehnte. Das düstere Deck der Sphinx überließ sie allerdings ihrer Zeitlosigkeit. Er nahm an, dass Skadi durchnässt genug war, um sich wieder unter Deck zurückzuziehen. Während er sich die Frage stellte, ob er sie begleiten würde oder sich noch ein bisschen Zeit hier oben genehmigte, nutzte Skadi die Zeit, um an ihn heranzutreten. Ihre Geste war eindeutig – für ihn zumindest, der erst ihre Hand und dann wieder ihre Züge mit einem positiv überraschten Ausdruck auf den Zügen musterte. *„Dafür immer.“* Vorfreude umspielte den leisen Ton in seiner Stimme, während er ihre Hand mit seinen Fingern umschloss und sie ein paar Schritte von der Reling fortführte, ehe er sie mit der anderen Hand an ihrer Hüfte zu sich heranzog. Es schien ewig herzusein. Doch die Erinnerung an ihren letzten Tanz verdrängte in diesem Moment die Gedanken an das, was danach geschehen war.
Schritt um Schritt schwebten sie über die Planken, während der Rest unter ihnen schlief und seinen Träumen erlegen war. Mit Ausnahme von Alex, der ganz sicher noch immer in seiner Hängematte lag und mit sich und seiner Teilschuld an all dem rang. Skadi konnte seine Gedanken beinahe hören, die unter ihren Sohlen knirschten, während sie sich von Liam in eine Drehung führen ließ. Doch was brachte es noch, an den Zug seiner Miene zurück zu denken. An dieses Lächeln, das für einen Moment unangenehm in ihrer Magengegend zwickte. Letztlich konnte er doch glauben, was er wollte. Es machte keinen Unterschied. Nicht für Liam, wie er beteuert hatte. Erst recht nicht für sie.
“Wie sind die anderen eigentlich?“
Sonderlich viel hatte die Nordskov von ihnen nicht mitbekommen – mit Ausnahme von James und Soula. Und das auch nur in so weit, dass sie mehr über deren Kampfkünste wusste, als das Leben, das sie zum Schiff und die Arme dieser Crew geführt hatte. Für alles andere war sie wenig empfänglich gewesen. Hatte sich in ihrer eigenen Welt vergraben und mehr Zeit mit Lucien verbracht, als es ihrer Gedankenwelt gut getan hatte.
Besonders Momente wie diese ließen die Erinnerung an Milúi aufleben. An das Fest, die Musik, die Menschen, den Alkohol. Liam dachte gerne zurück, hörte förmlich die Melodien all dieser endlosen Abende. Dieser und fernerer Abende, die die Musik sie bis in die Morgenstunden hatte tanzen und spielen lassen. Im Gegensatz zu Skadi waren das die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge aufbauten. Kein Gedanke an Alex oder einen der anderen. Er schaffte es sogar fast, das taube Gefühl seiner Finger auszublenden, die Skadis Hand umgriffen hatten. Er ahnte nicht, dass ihr die Situation von eben doch noch nachhing. Dazu schätzte er den Augenblick viel zu sehr. „Hm, wer?“ Sie hatte ihn mit ihrer Frage aus der Ferne seiner Gedanken gerissen. „Wen meinst du?“ Im ersten Moment hatte er den Kopf kurzerhand zur Seite gedreht, um über seine Schulter zu spähen, doch dort stand niemand. „Ich muss gestehen, dass ich auf Silvestre nur wenig Zeit mit der Crew verbracht habe.“, fuhr er schließlich fort, als es ihm dämmerte. Außer dem Abend, den sich ein Großteil von ihnen in der Taverne angeschlossen hatte. „Soula macht einen recht freundlichen Eindruck. Ob ihr das Leben auf See liegt, wird sich noch zeigen. Und James… stellt sich das Ganze glaube ich romantischer vor als es ist.“, formulierte er diplomatisch.
Skadi schmunzelte. Zumindest waren sie sich wohl in diesem Punkt ähnlich, auch wenn sie nicht geglaubt hätte, dass sich der Lockenkopf bewusst von der Crew fern hielt. Nicht nachdem die Kopfgeldinsel bereits so lange zurück lag und allmählich Gras über die Sache wuchs. Zumindest für einige von ihnen. Ob sie sich dazu zählte? Sicherlich nicht. Denn noch immer verzichtete sie auf Alkohol, soweit es ging. Und nicht irgendeine treue Seele wie Liam dazu kam, die jegliche Bedenken über Bord zu werfen wusste.
“Hattest wohl keine Lust auf viel Gesellschaft?“, fühlte sie mit einem matten Lächeln auf den Lippen nach und ließ den dunklen Schopf ein paar Millimeter zur Seite kippen.
“Sie wird es wohl müssen, wenn sie bei uns bleiben will.“ Andernfalls würde sie entweder bald das Zeitliche segnen oder zwangsläufig gehen müssen. Über die Planke.
“Wie kann man sich eine Reise mit Piraten bitte romantisch vorstellen?“ Selbst wenn sie nicht bereits seit Monaten mit ihnen segeln würde, hätte die Nordskov keineswegs daran gedacht, dass auch nur irgendetwas von dem, was sie hier taten ehrenhaft oder in irgendeiner Weise schmeichelhaft für ihr Sein und ihr Ego gewesen wäre. Das hier war immerhin ein hartes Pflaster, das mit Schweiß und Blut bezahlt wurde.
Ein angedeutetes Kopfschütteln galt ihr. „Das habe ich nicht gesagt.” Im Gegenteil, mehr oder minder, aber nachdem das Bordell nun einmal ihr Versteck gewesen war, hatten sich die meisten oftmals dort aufgehalten. Ganz davon abgesehen, dass Alex und er einiges an Zeit nachzuholen gehabt hatten. Die Vormittage hatte er nicht selten in der Bibliothek verbracht, während er die Nachmittage oft in eines seiner Projekte investiert hatte. „Ich war meist in der Bibliothek. Oder eben in den Tavernen. ‚Wenig Gesellschaft‘ wäre also gelogen.“ Sie klang besorgt, als befürchte sie, er hätte sich ihretwegen rargemacht. Das stimmte nicht. Oder lediglich zum Teil, da er meist erst zurückgekehrt war, als Skadi und Talin bereits geschlafen hatten. „Wir sind gerademal ein paar Tage wieder auf See. Ob sie bleiben will, wird sich wohl erst noch herausstellen.“ Was James betraf, war Liam vorsichtiger. Er war kein großer Freund von schmierigen Anmachsprüchen, aber da sie ihm zum Glück nicht galten, musste es ihn auch nicht interessieren. „Naja. Gold und Frauen, alles Dinge, die man sich nehmen kann, wenn man sie will.“, half er Skadis Gedanken auf die Sprünge. „Von eintönigem Essen, Sonnenbrand, harter Arbeit und fehlender Privatsphäre ist in den Geschichten meist nicht die Rede. Genauso wenig, wie von verfrühten Toden oder unschönen Verletzungen“
“Du machst Witze?“ Augenblicklich schnellten die dichten Brauen hinauf, ehe die Nordskov in ein amüsiertes Grunzen verfiel. “ Hätte ich das früher gewusst… dann wäre seine Trainingseinheit noch ein bisschen härter ausgefallen, als so schon.“ Ein bübisches Grinsen überzog ihre Züge bei dem Gedanken daran, wie wenig ihm die Tatsache geschmeckt hatte, sich von ihr in der Kunst des Schwertkampfes unterweisen zu lassen. Ein Wunder, dass er nicht gleichsam umschmeichelnd unterwegs gewesen war, wie in Liams Gegenwart. Zumindest machte der Lockenkopf ganz den Anschein, als hätte der Ältere keine Sekunde ausgelassen, um sich mit einem eindeutigen Funkeln in den Augen der Damenwelt zu nähern. “Ich glaube dafür hat er sich eindeutig die falsche Crew ausgesucht.“ Und die falschen Frauen. An Talin würde er sich vielleicht etwas weniger die Zähne ausbeißen, wenn er überhaupt lebendig an Lucien vorbei kam. Bei Shanaya traf er auf Ironie und Selbstverliebtheit – außer Geflirtet würde da wohl wenig passieren. Und bei ihr selbst? Gott. Das war schon mit einem kurzen Blick absolut aussichtslos. “Vielleicht hat ja Alex für ihn ein offenes Ohr.“
„Mach‘ dir selbst dein Bild. Vielleicht war es auch einfach nur der Alkohol.“, erinnerte Liam sie und spürte bereits, wie das schlechte Gewissen in ihm zuckte. Er war der letzte, der schlecht über irgendjemanden reden wollte. Etwas, woraus seine Stimme kein Geheimnis machte. „Du sollst ihn nicht piesacken. Er soll nur lernen, zumindest ein paar Tage zu überleben.“ Liam lächelte, drehte sie abermals leichtfüßig im Tanz. Ihre Annahme kam nicht von ungefähr und das würde James wohl früher oder später einsehen müssen. Und auch, dass Frauen in den Häfen Piraten nicht vor die Füße vielen. Vermutlich würde er sich an Lucien hängen können, um die Bordelle der ersten Welt zu inspizieren. Skadis Vorschlag begegnete er mit einer fragend gehobenen Augenbraue. Den Seitenhieb in Alex‘ Richtung nahm er nicht wahr. „Alex? Ich glaube, das Einzige, was er tun wird, ist ihn aufziehen oder ihm Tipps geben, mit denen er sich besonders lächerlich macht.“
Sie bezweifelte, dass der Alkohol viel dazu tat. Ganz davon abgesehen, dass sie nicht so recht verstand, was er meinte. Offensichtlich waren sie wohl bei einem recht feuchtfröhlichen Abend zusammen unterwegs gewesen. Zumindest war es das, was sie aus den Worten des Lockenkopfes schloss und das Thema mit einem angedeuteten Schulterzucken für sich beendete. Letztlich würde sie sich ein eigenes Bild machen können – es blieb auf einem so kleinen Schiff wie diesem kein Tag, an dem sie ihm nicht über den Weg laufen würde. “Sag ihm das… ich bin nicht diejenige, die ein Problem damit hat, sich von einer Frau anlernen zu lassen.“ Und letztlich war es ein Fakt, dass James so seine Bedenken hatte. Was ihn am Ende nicht davon abgehalten hatte, ihr Folge zu leisten und zu zuhören. Vielleicht auch mehr des simplen Gedankens wegen, dass es noch weitaus schlimmer wäre sein Gesicht in Gegenwart Soulas zu verlieren.
“Du weißt schon, dass das irgendwie interessanter klingt als es sollte?“ Für einen Sekundenbruchteil fühlte es sich an, als könne sie sich ein positives Gefühl für den Fremden abringen, wäre da nicht diese Kampfeslust, die er in ihr hervor rief, wann immer er dieses schelmische Grinsen aufsetzte. Wie einer ihrer vermaledeiten Brüder. “Das wäre die beste Unterhaltung, sollten wir mal wieder in eine Flaute geraten.“
Was war das? Ein Wird-nicht-nötig-sein-Schulterzucken oder eines, das ihm versicherte, dass sie es tun würde? James war ihm zweifellos vorgekommen wie einer der Männer, die es nicht lassen konnten, ihren Charme zu versprühen wie Farn seine Sporen. Wie gut er damit ankam, konnte Liam nicht beurteilen, hatte aber auch nicht das Bedürfnis danach. Er gönnte jedem sein Glück. Das Schmunzeln auf seinen Zügen verriet dann allerdings doch, dass er sich trotz des kurzen Gesprächs mit Ihm durchaus vorstellen konnte, was Skadi damit meinte. Er wog den Kopf zur Seite, noch immer das schelmische Grinsen auf den Zügen. „... Wenn du nur halb so zärtlich zu ihm warst wie damals zu mir, würde ich es ‚vermöbeln‘ nennen.“, sagte er mit einem neckenden Unterton und bedachte sie abwartend. „Wenn du Glück hast, musst du sie bloß gemeinsam in eine Taverne bekommen und abwarten.“, gab er bedenkenlos preis. Einem kleinen Wettstreit würde sich Alex mit Sicherheit nicht entziehen.
Sie konnte es nicht kontrollieren. Das sanfte Kitzeln an ihrem Zwerchfell, das Liam just verursachte und sie zum Lachen brachte. Ganz sicher würde sie in absehbarer Zeit zu niemandem derart „zärtlich“ sein, wie er andeutete. Ganz gleich ob vor oder nach der Explosion der Morgenwind. “Ich hätte dich nicht für derart nachtragend gehalten.“, gab sie ihm mit einem süffisanten Schmunzeln auf den Zügen zurück und lehnte sich in der nächsten Drehung gegen ihn. Die freie Hand von seiner Schulter auf seine Brust gleitend, um nicht unnötig Druck auf seine verheilte Wunde aufzubauen. “Aber wenn Alex die Arbeit für mich übernimmt, genieße ich dieses Schauspiel gern aus der Ferne.“ Allein um sich wichtigeren Dingen zu widmen. Die Energie aufzusparen – für was auch immer die Götter planten. “Wie unverschämt wäre es, Wetten auf die beiden abzuschließen?“
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#3
„... Eher beunruhigt, weil ich weiß, wie weit er dafür gehen würde.“, gestand Liam mit einem schrägen Lächeln. Skadi hatte inzwischen vermutlich mitbekommen,  dass Alex‘ Sturheit hier und da der eines Esels gleichkam. Seine Entschlossenheit allerdings war noch weniger zu unterschätzen. Wenn James nur ansatzweise ähnlich vorging, musste eine derartige Situation zwangsläufig eskalieren. Vor ein paar Monaten noch hätte der Lockenkopf das für einen lustigen Zwischenfall gehalten. Inzwischen aber rechnete er damit, dass es mehr Probleme bringen würde, als sie ohnehin bereits hatten. Letztlich aber... würde er es kaum verhindern können, sollten die beiden tatsächlich jemals auf den dummen Gedanken kommen, sich in einen Wettstreit zu werfen.
Scheinbar hing Skadi dem Thema gedanklich derart nach, dass der nächste Schritt sie ein wenig überrumpelte. Liam blinzelte nach einer unbestimmten Zeit, als sich Skadis Blick noch immer eigenartig konzentriert in seinen bohrte. Im Grunde war er niemand, der groß über derlei Dinge nachdachte. Er nahm die Dinge, wie sie kamen und ließ sie geschehen, wie sie vorbeizogen. Doch ausgerechnet jetzt, als er sie langsam wieder nach oben führte, kam ihm in den Sinn, wie scheu sie anfangs in Anbetracht ihrer Nähe gewesen war. Nähe, die nicht rein dem körperlichen Vergnügen galt. Es war ein Privileg. „Alles okay?“ Ein Privileg, dass er vor kurzem bereits fast verloren hätte. Hatte er wieder etwas falsch gemacht?
Diese Unsicherheit im Umgang mit ihr - mit jemandem - war ihm insgesamt neu. Er löste die Hand um ihre Finger und trat ein kleines Stück zurück, als befürchtete er, dass ihr tatsächlich das plötzlich zu viel geworden war. Er wollte sie verstehen. Ihre Launen, ihre Ängste. Und musste sich gleichzeitig damit arrangieren, dass sie nicht so offen damit umging, wie er es pflegte. „Mrs. Nordskov.“ Mit einer kleinen Verbeugung - gleichzeitig aber auch überspitzt genug, um die Unernstigkeit offen darzustellen - bedankte er sich ganz den Gepflogenheiten entsprechend bei seiner Tanzpartnerin.
Es klang als würde der dunkelhaarige Lockenkopf über Leichen gehen, so wie Liam es ausdrückte. Und Skadi war sich sicher, dass er es tat – wenn auch in einem vollkommen anderen Zusammenhang. Wirklich schlau war sie bisher aus dem Fremden nicht geworden. Einzig und allein die Erzählungen von Liam hafteten an ihm. An der Art wie er sich gab und sie regelmäßig auf die Palme brachte. Als wäre es für ihn ein leichtes ihre wunden Punkte zu treffen. Mit verbundenen Augen. Einzig und allein ihrem Geruch folgend wie ein Bluthund. Ob Liam ein Problem damit haben würde? Ob er irgendwann wegen all dem ein Problem mit ihr haben würde?
Fast im selben Moment strauchelte sie, verlor den Halt in der unvorhergesehenen Bewegung ihres Gegenübers. Für einen Bruchteil von Sekunden, in denen sie ihren Fuß zu spät nachzog und Liam ein paar Zentimeter mit sich schob. Blinzelnd starrte die Nordskov erst in Liams Miene, dann auf ihre Hand.  “Mhm.“, entgegnete sie nickend auf seine Frage und presste die Lippen zusammen. Räusperte sich, kaum dass die feste Wolke an Gedanken zu einem leichten Nebelschleier verpufft war. Und griff mit der freien Hand ins Leere – dort wo noch vor wenigen Atemzügen seine Finger die ihren umschlossen gehalten hatte. Die plötzliche Lücke zwischen ihnen hinterließ etwas Seltsames – ein Gefühl von ungewohnter Schwere. Einer Last, die Skadi nicht recht einzuordnen wusste. Schweigend kreiste ihr Blick über die Bewegung des Lockenkopfes. Von seinen Füßen, bis hinauf zu seinen Schultern.  Spiegelte nur schmal das Lächeln auf seinen Zügen und drängte mit jeglicher Gewalt das hinab, wovor sie sich all die Jahre gefürchtet hatte. Mit Enrique hatte dieses Chaos begonnen. Und keiner wusste genau, wohin es mit Liam führen würde.
“Du bist schon ein echter Barde.“ Allmählich kehrte Leben zurück in ihre Zehen. Eine Wärme, die bis zu ihrem Hals hinauf strahlte und sich in einem pulsierenden Knoten verfestigte, den die Nordskov nicht einmal beim zweiten Schlucken hinab bekam. Stattdessen trat sie einen Schritt voraus. Wartete, bis Liam sich zur vollen Größe aufgerichtet hatte und spannte ihre Arme fest um seine Brust. Vergrub erst das Kinn in seiner Schulter, ehe ihre Nasenspitze den Saum des Hemdkragens erreichte.
Sein Mienenspiel verriet, dass sie es abermals schaffte, ihn zu überraschen. „Ein Barde?“, lachte er, bevor seine Erinnerung die Brücke gespannt hatte, die sich dumpf im Nebel auftat. Der Gedanke gefiel ihm jedenfalls besser als manch andere Bezeichnung, die man ihm hätte geben können. Aus manch anderem Mund auf diesem Schiff wäre es vermutlich eher eine Beleidigung gewesen und Liam musste zwangsläufig an Aspen denken. Die Tatsache, dass sie den Scherz in ihren Worten wiedergefunden hatte, beruhigte ihn allerdings. Für einen Moment hatte Skadi gewirkt wie damals, als sie sich mehr zufällig auf Milúi über den Weg gelaufen waren. Unnahbar, verletzlich und so unheimlich zerbrechlich, dass es Liam in jener Nacht bei all dem Alkohol gar nicht aufgefallen war. Inzwischen aber kannte er den Ausdruck auf ihren Zügen. Und rechnete trotzdem – oder gerade deswegen - nicht mit dem, was als nächstes passierte. Das, was zeigte, dass nicht alles okay war. Während er eben noch um jede Sekunde ihres Tanzes gebangt hatte, weil ein Ende auch wieder Distanz bedeutet hätte, räumte ihm die Nordskov nun das Gegenteil davon ein.
Man merkte ihm die Überforderung im ersten Moment vermutlich an, ehe sich seine Arme um ihre Gestalt schlossen und er das Gesicht angedeutet in ihren Haaren vergrub. Mit einem Mal kehrten all die Emotionen zurück, die er damals, vor ein paar Wochen in ihrem Zimmer im Bordell verspürt hatte. Sorge, Angst und gleichzeitig der Ärger darüber, dass sie ihn nicht verstehen wollte und ihm stattdessen Vorwürfe machte. Trotzdem hoffte er in diesem Moment, er würde ewig währen. Weil sie nah war. Weil er sie spüren konnte, riechen konnte. Weil sie ihn ausblenden ließ, was die letzten Wochen gewesen war, statt es Tag für Tag auf dem Gesicht stehen zu haben. „Vergeben und vergessen, aye?“, flüsterte er schließlich. Ehrlich und aufrichtig.
Er roch nach Salz und Meer. Einem Hauch frisch geschlagenem Holz und süßlichem Alkohol, der sich in den Fasern seines Hemdes verlor. Skadi schloss die Augen, während sie sich tief in Liams Arme sinken ließ. Den Kopf im Schatten seines Gesichts verborgen und dem Rascheln lauschend, das sich im Schwappen der Wellen am Bug verlor. “Vergeben und vergessen.“ sagte sie und wusste doch, dass sie ihm Antworten auf Fragen schuldig blieb, die er nie stellen durfte. Um seinetwillen. Oder den Ihrigen. Es  machte kaum mehr einen Unterschied. “Können wir einfach so bleiben, bis wir Land erreichen?“Die Nordskov murmelte es leise gegen seinen Hals.  Ein hörbares Lächel auf den Lippen und die Finger eine Spur tiefer im Stoff seines Hemdes vergraben. Bereitwillig würde sie sich kaum mehr einen Millimeter von der Stelle bewegen. Wahrscheinlich noch an ihm kleben bleiben, wenn er sich versuchte zur Seite zu drehen oder ihrem Griff zu entkommen. Sie fühlte sich nicht nach Distanz, einer klaffenden Leere, die sich weder mit Gedanken noch jemand anderem füllen ließ. Alles was sie in diesem Moment wollte, war Liam bei sich zu haben. So nah wie irgend möglich. “Ich trete auch freiwillig mein Frühstück an Shanaya ab.“ Ein Angebot, das die Jüngere wohl kaum ausgeschlagen hätte – wenn der Nordskov überhaupt groß nach Mahlzeiten zu Mute gewesen wäre. Seit den Ereignissen auf der Kopfgeldinsel war ihr Verhältnis zum Essen verkorkst. Meist musste Enrique sie daran erinnern. Oft aß sie nur in Gesellschaft von Talin oder dem ehemaligen Offizier. Selten verspürte sie Appetit – war lustlos und unruhig zugleich. Doch jetzt? Gott. Sie konnte ein halbes Schwein verdrücken.
Es lockerte den Knoten in seiner Brust. Weil er ihre Worte ernst nahm und das Vergangene vergangen sein lassen wollte und sich darauf verließ, dass sie es ihm gleichtun würde. „Meinetwegen auch länger.“, lächelte er hörbar und wusste doch, wie unmöglich ihr Vorhaben war. Aber niemand konnte ihnen verbieten, zu träumen, nicht heute, nicht hier. „Aber ich bezweifle, dass Rayon uns einfach verhungern lassen würde.“ Die Palpitation konnte er inzwischen bis in die Fingerspitzen spüren, während er versuchte, sich rein auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sein Blick ruhte gegenstandslos auf einem Punkt auf ihrem Hinterkopf, während seine Hand einmal sanft über ihr Haar strich. Es gab so vieles, was unausgesprochen und doch so klar zwischen ihnen lag. Was nicht gesagt werden musste, nicht gesagt werden konnte und auf eine gewisse Weise auch nicht gesagt werden wollte. Es fühlte sich falsch und richtig zugleich an und Liam verfluchte dieses Gefühl; liebte und hasste es gleichzeitig und wünschte sich doch, dass es blieb. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann einmal annähernd nachvollziehen könnte, was mein Vater damals meinte.“ Er wusste selbst nicht, ob er mit sich selbst redete oder es tatsächlich für Skadi bestimmt war.
Rayon. Ein Mann der irgendwie alles war – nur nicht das, was Lucien, Zairym oder sie selbst an Gewaltbereitschaft verkörperten. Ein Seefahrer, der mit nur einem Blick das Innerste nach außen kehrte und eine Gänsehaut hervor rief, die nichts mit Erregung oder Panik gemein hatte. Schon einmal hatte sich die Nordskov gefragt, wie viel er bereits in den wenigen Augenblicken ihrer Begegnung aus ihr hatte lesen können. Wie viele Facetten dieses Bildes der Realität entsprachen. Ob ihre natürliche Vorsicht berechtigt war, die sie stetig bei Talin und Liam walten ließ. Denn Freundlichkeit – und das hatte sie auf ihre ganz eigene Art und Weise gelernt - war nichts, das man einem leichtsinnig schenkte. Dennoch schmunzelte sie. Bei   der Vorstellung, wie der Berg von einem Mann mit zwei winzigen Schüsseln in den Händen an Deck kam und sie wortlos neben sie stellte. Mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen, dass ihr augenblicklich Hitze in die Wangen trieb.  “Macht wahrscheinlich schon der Berufsethos.“ Ein Lachen hockte kurzweilig zwischen Magen und Brust, traute sich jedoch nicht vollständig nach oben. “Und so oft, wie er uns schon fast erwischt hat.“ Langsam lösten sich die langen Finger aus Liams Rücken. Umkreisten die gegenüberliegenden Seiten und zogen die spürbaren Linien seiner Rippenbögen nach. Mit jeder verstreichenden Sekunde entspannte sich die Jägerin spürbar. Lehnte wie ein Puzzlestück gegen seine Brust und blinzelte den Holzkisten entgegen, die irgendwo in ihrem Blickfeld verschwammen. Liams Worte überraschten sie nicht. Der Ton seiner Stimme. Die Gelassenheit die durch seinen ganzen Körper strömte, vibrierte auf ihrer Haut. An jedem kleinen Punkt, den sie berührte. Mit den Fingerspitzen oder an der Wange, die nun dicht bei seinem Schlüsselbein ruhte. “Was nachvollziehen?“
Das Schmunzeln zog sich bereits breit über seine Lippen, bevor Skadi ihren Satz beendet hatte. Vermutlich war Rayon an Deck tatsächlich derjenige, der am meisten wusste. Nicht nur über sie, sondern über jeden von ihnen. Er war ein Zuhörer, der gleichzeitig aber nicht davor scheute, sich ebenso zu öffnen. In den letzten Monaten hatte Liam den Dunkelhäutigen sehr zu schätzen gelernt. Und angenommen, er hätte irgendetwas dagegen gehabt, dass man sie erwischte – bei Rayon hätte es ihn am wenigsten gestört. Im Grunde hätte es ihn sogar gewundert, würde der Dunkelhäutige nicht wissen, dass da mehr war. Er hatte einen Blick dafür. Für alles, was den Menschen um ihn herum wichtig war. Und da gab es nichts mehr, was Liam leugnen konnte.
Vermutlich bemerkte er erst, dass er seine Gedanken wirklich ausgesprochen hatte, als Skadi nachfragte. Im Grunde wartete er auf diesen flüchtigen Moment, der ihn dazu bringen wollte, ihre Frage mit einem beiläufigen Kommentar abzutun, doch er blieb aus. Vielleicht, weil er bezweifelte, dass die Gelegenheit, so offen zu sprechen, bald schon wieder auf sich warten lassen würde. Vielleicht hatte aber auch die geringe Menge an Schnaps die Finger im Spiel – wie dem auch war: er hatte nicht vor, auszuweichen und genehmigte sich dennoch einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. „Wie sich Zuhause anfühlen kann.“ Wie es war, jemanden gefunden zu haben, auf den man nicht sauer sein konnte. Jemanden, mit dem sich die Ewigkeit für einen Moment erträglich anfühlte. Jemanden, der die Angst fürs erste zurückdrängte.
Liam wusste, was er sich damit eingestanden hatte. Skadi hingegen kannte seine Eltern nicht. Kannte die Reinheit nicht, die ihre Beziehung gehabt hatte. Und er würde es ihr nicht auf die Nase binden. Sie durfte sich selbst aussuchen, was sie verstehen wollte und was nicht. Sein Herz klopfte gefühlt an irgendeinem undefinierbaren Punkt in seinem Oberkörper, deutlich und stark. Er erwartete keine Antwort, selbst wenn sich etwas in ihm nach einer Reaktion sehnte. Doch statt ihr die Gelegenheit zu lassen, hob er den Kopf, schob ihr Kinn mit der Hand etwas empor und küsste sie.
Augenblicklich verkrampfte sich etwas tief in ihrer Brust, noch während Liam einen Arm von ihr löste, um die langen Finger unter ihr Kinn zu legen. Benommen und vollkommen überfordert starrten die dunkeln Augen der Nordskov in seine – unfähig ein Wort heraus zu bringen. Wie sich Zuhause anfühlen kann. Es hallte wie ein Echo in ihrem Kopf nach und hinterließ feine Verbrennungen in ihrem Verstand. Sie zweifelte keine Sekunde daran, wie diese Worte gemeint waren. Wie tief all das mittlerweile ging, was sie beide so fein säuberlich unter einem Mantel aus Schweigen versteckt gehalten hatten. Und die Nordskov fürchtet sich vor den Konsequenzen, die all dies mit sich brachte. Augenblicklich dachte sie an Enrique. Den Abend, an dem er weinend in ihren Armen gelegen und sie gleichsam mit dieser kindlichen Furcht und Panik zurück gelassen hatte, die sie nun in diesem Moment spürte. Es stand außer Frage, dass sie ihr Leben für diese beiden Männer geben würde. Ohne zu Zögern. Doch was, wenn sie verschwanden? Durch die Hand der Anderswelt. Oder weil ihnen die Weite dieser Welt und ihrer Möglichkeiten bewusst wurde und es keinen Platz mehr für sie in ihrem Leben gab? Skadi schluckte. Unterdrückte das kurzweilige Zittern tief in ihren Eingeweiden und umfasste den feinen Stoff seines Hemdes mit geballten Fäusten. Sie wollte nicht, dass Liam ging. Und wusste doch, dass es Teil seiner Natur war. Dessen, was sie so sehr an ihm schätzte. Doch mehr als das war ihr schmerzlich bewusst, dass es zu spät war, um umzukehren. Zurück zu dem Abend, an dem sie sich zum ersten Mal  fern ab des Schiffes und der anderen begegnet waren. An dem aus zwei Fremden, Bekannte, Freunde und Liebende wurden.
“Ich hoffe… “, hauchte sie ihm gegen die Lippen. Spürte dem starken Klopfen hinter ihrer Brust nach und stieß ein amüsiertes Schnauben aus. “Ich hoffe dass du dir das gut überlegt hast.“ Es brauchte einen tiefen Atemzug ehe sie von seinen Lippen zu seinen Augen hinauf sehen konnte. “… ich verlasse mein Zuhause nur sehr ungern wieder.“
Sein Glück war, dass er so sehr mit all dem beschäftigt gewesen war, was ihm selbst durch den Kopf geisterte, dass ihm der flüchtige Ausdruck auf Skadis Zügen nicht mit voller Wucht traf, ehe seine Lippen ihr die Möglichkeit zu antworten raubten. Dieser Ausdruck, der an ein junges Reh erinnerte, das zu spät bemerkt hatte, in welch missliche Lage es sich gebracht hatte. Ein Moment, in dem der Musiker ansonsten womöglich versucht hätte, die Situation ungalant zu retten, sie beide peinlich berührt gelacht und ihrer Wege gegangen wären – mit dem gleichen Gefühl in der Magengegend, das ihn die letzten Wochen begleitet hatte. Doch obwohl die Nordskov gerade jetzt, wo er so feinfühlig auf eine Reaktion wartete, die ihn weiterbrachte, für ihn kaum einzuschätzen war, hatte er nicht vor, zurückzurudern. Weil – in seinen Augen – nichts schlimmes an seiner Aussage lag. Er war ein Mensch der Wahrheit, der Ehrlichkeit und der Direktheit, wenn man ihn ließ. Eben weil er dieses Versteckspiel nicht mochte. Diese Ungewissheit, wenn man nicht wusste, woran man war. Diese fremde Unsicherheit im Umgang mit jemandem, dem man eigentlich nah war.
Je länger es still blieb, desto mehr kroch allerdings auch ihm wieder die Nervosität unter die Haut. Unter dem verändernden Zug an seinem Hemd durch ihre Finger glaubte er zu spüren, wie ihre Gedanken rotierten. Er blinzelte. Ein Hauch von Unsicherheit hatte sich längst im dunklen Braun seiner Augen niedergelassen. Erst, als die Nordskov tatsächlich leise die Stimme erhob, huschte sein Blick von ihrer Nasenspitze wieder gezielt zu ihren Augen zurück. Und dann folgte Schweigen. Dieses Mal von seiner Seite, bis wenige Herzschläge später ein Zucken in seine Mundwinkel kroch, das recht bald zu einem Schmunzeln heranwuchs. Einem Schmunzeln, wie man es eigentlich von ihm kannte. Verschmitzt, sorglos und unerschütterlich. „Du denkst zu viel.“, kommentierte er wohlwollend. „Was kümmert uns gestern. Was kümmert uns morgen, wenn wir die Gegenwart haben?“ Er hatte ihr Gegenüber in diesem Moment einen gewaltigen Vorteil: Er konnte die Tragweite gar nicht abschätzen. Weil er es nicht kannte. Weil es eine absolut neue Erfahrung für ihn war, der er sich stellen wollte.
Sie verengte die Augen. Musterte das spitzbübische Funkeln auf Liams Miene und hätte ihm zu gern gefühlvoll in die Seite gekniffen. Natürlich dachte sie zu viel über all das nach. Denn für sie war das was sie hier taten kein vergnüglicher Zeitvertreib, den man schnell zur Seite legte, wenn es nicht  mehr zu einem passte. Vielleicht, und das konnte die Nordskov nur mutmaßen, kannte der Musiker diese Art der Beziehung nicht. Es hatte ihn nie lang genug an einem Ort gehalten, um sich länger an eine Sache oder jemanden zu binden. Auf romantische, nicht freundschaftliche Arte und Weise wie er sie mit Alex hegte. “Ich bin ein gebranntes Kind… was morgen sein wird, hat für mich genauso viel Bedeutung, wie das was gestern war und heute ist.“ Langsam zog sie ihre Hände über seinen Rücken zurück auf seine Hüften. Umfasste sanft die spürbaren Knochen und seufzte. Unter einem tiefen Atemzug hinweg, der ihren Blick von seiner Miene in Richtung Meer zog. “Diese Entscheidung treffe ich nicht leichtfertig, um sie morgen wieder zu ändern. Dafür ist sie viel zu wichtig…“ Und schmerzhaft. Doch das würde sei Liam nicht auf die Nase binden. Nicht nachdem diese Leichtigkeit zwischen ihnen zurückgekehrt war und sie sich in seiner Gegenwart weniger wie ein dunkler Schandfleck fühlte.

Für einen kurzen Moment senkte er den Blick und wich der Forderung seiner Gegenüber so unbewusst aus. Er war niemand, der groß Pläne schmiedete und durchdachte, was der nächste Tag bringen konnte. Er lebte in den Tag, nahm das, was kam und machte das Beste draus. Weil er nur zu gut gelernt hatte, wie man verdrängte, was dort auf einen lauerte. Eigentlich war die Antwort auf ihre Frage nicht schwer. Natürlich hatte er sich nicht überlegt – nicht so jedenfalls, dass er Skadi gegenüber an diesem Punkt guten Gewissens mit ‚Ja‘ antworten konnte. Weil er bezweifelte, dass all die Gedanken, die ihn die letzten Tage, Wochen begleitet hatten, reichten. Sie hatten sich nie um morgen oder gar übermorgen gedreht – das Einzige, was wichtig gewesen war, war Skadi, ihre Freundschaft und das, was dort im Unbekannten brodelte und dennoch nicht zu greifen gewesen war. Dass er ihre Stimme hören wollte, ihre Nähe genießen – ganz gleich, wie lange es wohl dauern würde. Liam wusste, dass sein Schweigen bereits zu lange anhielt, um durchdacht zu wirken. Aber er war zu ehrlich, als dass er nun versucht hätte, ihr etwas vorzumachen. Allein schon, weil sie es nicht verdient hatte. Und weil es ihr wichtiger war als Liam es empfunden hatte. Wie lange machten sich Menschen üblicherweise über so etwas Gedanken? War das schon der Punkt, an dem man zurück in den sicheren Hafen ruderte und das Abenteuer Abenteuer sein ließ? War es das, was sie nun von ihm erwartete?
„Skadi.“, begann er nach einem tiefen Atemzug. Das Lächeln auf seinen Lippen begleitete ihn nachwievor, auch wenn die Nervosität es verzerrte. Man sah ihm an, dass er nachdachte und die Worte, die er suchte, nicht leichtfertig über seine Zunge kamen. „Du kennst mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich dir nichts versprechen kann, was ich nicht sicher halten kann.“ Weil es nicht in seiner Hand lag. Weil er die Zukunft nicht kannte. Die Zukunft, die weiter weg lag als das Morgen. „Aber -“, betonte er. „Ich würde hier nicht stehen, wenn mir nichts an dir liegen würde. Ich war an so vielen Orten, habe so viele Menschen kennengelernt. Und in all den Jahren war ich fest davon überzeugt, dass es in meinem Leben keinen Platz dafür gibt, für irgendjemanden mehr zu empfinden als Freundschaft. Und jetzt stehe ich hier und bin bereit, mit dir ins kalte Wasser zu springen.“ Seine Hände lagen sachte auf ihren warmen Wangen. Er erwiderte ihren Blick so entschlossen, wie er seine Worte meinte. „Wenn dir das reicht, spring mit mir. Wenn nicht, bin ich der letzte, der es dir übel nimmt.“
Liam schwieg. Länger als Skadi bewusst wurde, dessen Blick zur Seite gerichtet und gleichsam abwesend war. Die Stille zwischen ihnen hatte an Kraft verloren. Am bitteren Beigeschmack, der die letzten Wochen intensiver und nachhaltig an ihrem Gaumen geklebt hatte. Zurück war nur ein sanftes Rumoren geblieben, das sich irgendwo in den tiefen ihres Magens verlor. Erst beim Klang ihres Namens kehrte Leben in die Szenerie. Skadi hob den Kopf. Blinzelte Liam entgegen, der offensichtlich alle Mühe hatte seine Gedanken in Worte zu fassen. Abwartend und mit einer gesunden Skepsis in der Brust musterte sie ihn. Die Hände nach wie vor auf seiner Hüfte ruhend, weil alle Konzentration auf sein Gesicht gerichtet war. Dann folgte ein Zucken. So klein und schmal, dass es kaum über ihre Mundwinkel hinaus ragte. Sie hatte ihm kein Versprechen abringen wollen – und das hatte weniger mit seinen Eigenarten als mit dem Schicksal zu tun, das ihr Leben oft genug auf den Kopf stellte. Doch es setzte eine Wärme in ihrem Körper frei, die sich mit jedem weiteren seiner Worte in angenehmer Röte auf ihrer Haut abzeichnete. “Wie gut, dass ich schwimmen kann.“, entgegnete sie mit dem Anflug eines Lachens in der Stimme. Presst die Lippen unter einem halben Grinsen fest aufeinander, nur um einen Augenblick später die Hände über seinen Bauch zu seiner Brust hinauf zu führen.
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#4
Er hoffte inständig, das Skadi ihn nicht allzu lange mit ihrer Entscheidung auf die Folter spannte - wie auch immer sie ausfallen würde. Die Zeit, bis ein verdächtiges Zucken ihre Mundwinkel in Bewegung brachte, kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Und die Schwere, dass nichts in seiner Hand lag, hatte unangenehm auf seinen Lungen gelastet, während sein Herzschlag noch immer in seinem gesamten Körper pulsierte. Augenblicklich spiegelte sich ihr Grinsen auf seinen Zügen wieder, kaum dass ihn die Anspannung mit einem freieren Atemzug entwich. Sein Daumen strich ihr flüchtig über die Wange, ehe er die die Hände langsam über ihre Schultern sinken ließ. „Ich freu‘ mich drauf.“ Der Höhenflug hinterließ eine seltsame Leichtigkeit in seinem Körper. Euphorie, die er bis dato so nicht gekannt hatte. Seine Finger fanden sich schließlich auf ihrer Hüfte ein, drückten ihren schmalen Körper an sich, der noch immer ausgemergelt wirkte. Ein Umstand, der Liam gar nicht so bewusst auffiel wie manch anderem an Board. „Wir -“, begann er, wurde allerdings jäh von einem Geräusch unterbrochen, der vom Gefühl her nicht von seinem Magen gekommen war. „Hast du Hunger?“, fragte er und spähte überrascht von oben zu ihr herab. „Bist du eigentlich nur hier, weil sich in meiner Gegenwart meist was Essbares finden lässt?“ Skeptisch schob sich eine Augenbraue in die Höhe, sein neckender Tonfall allerdings sprach Bände.
Der Regen setzte ein. Im selben Moment, als Liam zu grinsen begann und Skadi für einen kleinen Moment nicht wusste, ob sie nicht geradewegs einen Fehler begangen hatte. Sie würde diesen Menschen immer wieder von den Füßen reißen - weil sie so grundverschieden wie ähnlich waren. Sicherlich. Der Lockenkopf hatte sich bewusst dafür entschieden und wirkte bei allen Göttern nicht, als wüsste er nicht bereits, dass es schwer mit ihr sein konnte. Doch war es wirklich richtig ihm das im vollen Bewusstsein anzutun, nur weil sie es wollte? Wie viel Egoismus konnte sie sich leisten, bevor es wie ein Rückstoß auf sie zurück fiel? Ihr Magengrollen riss sie jäh aus den Gedanken. Perlte wie die feinen Regentropfen an ihrem Körper hinab und ließ sie halb blind vom Wasser auf den Wimpern blinzeln. „Du… was Essbares?“ Sie schnaubte amüsiert. Wenn sie wirklich etwas brauchte, dann wären Shanaya und Rayon ihre Anlaufstellen. Die Unersättliche und der Smutje. Aber nicht der Luftikus Liam, der mit Musik und Unterhaltung aufwartete. „Nimm es mir nicht übel… aber deine Spezialitäten liegen eher im Trinken und Spaß haben.“ Ein verschmitzter Ausdruck schlich sie auf ihre Züge. Sie wusste, dass Spaß haben durchaus dehnbar zu verstehen war - eben wie sie es auch meinte. “Aber gegen etwas Dörrfleisch würde ich nichts sagen.“ Oder ein Spanferkel frisch vom Feuer. Nein. Zwei. Inklusive Kartoffeln und einer Portion Beeren.
Unscheinbar war das Lächeln auf seinen Zügen. Wie das eines braven Jungen, der insgeheim die größten Abenteuer erlebte, ohne es jedem unter die Nase binden zu müssen. Diese Einschätzung passte nicht nur buchstäblich zu ihm, sondern scheinbar auch metaphorisch. Er zuckte beiläufig mit den Schultern, als wäre er ganz zufrieden mit Skadis Vermutung, selbst wenn sie seinem Empfinden nach nicht ganz zutraf. Ein „Hm.“ begleitete seine Geste, während seine Augen ein offenes Geheimnis daraus machten, dass er diesbezüglich wohl etwas zu verbergen hatte. Etwas, woraus er eigentlich kein Geheimnis machte – nur eben auch keine große Sache. „Nur, weil ich es nicht immer an die große Glocke hänge.“ Der Regen fiel ihm im Grunde erst auf, als er die ersten Strähnen an Skadis Stirn klebte und die Dunkelhaarige unangenehm in den Regen hinaufblinzelte. Er mochte das Gefühl von Regen, von Regennächten ganz besonders. Im Grunde hatte er hier oben ja nur darauf gewartet, dass die Front sie erreichte. „Ohne eine gute Grundlage mach Trinken nämlich nur halb so viel Spaß.“ Kostete vermutlich auch nur die Hälfte, weil man den Pegel schneller erreicht hatte, aber für was sollte man sein Gold sonst ausgeben, wenn man nichts mitnehmen konnte? „Dann lass uns runtergehen und sehen, was wir finden.“ Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sie sah nicht ganz so glücklich mit dem Wetter aus. „Für ein paar Minuten kommt die Sphinx auch ohne Wachposten aus.“ Auch, wenn sich das Wetter dazu anbot, sich heimlich an jemanden heranzuschleichen, aber sie hatten seit sie auf See waren, kein Schiff mehr gesehen. Die Wetterfront machte das Meer heimlich und heimtückisch zugleich.
Alkohol und seine berauschende Wirkungen genoss man eigentlich nur in guter Gesellschaft. Mit Menschen, denen man weit genug über den Weg traute, um am nächsten Tag nicht als Fischfutter zu enden. Denn gegenteilige Auswirkungen hatten sie vor einer Weile deutlich zu spüren bekommen. “Ich halte das zwar für eine schlechte Idee…“ Aber andernfalls hatte der Lockenkopf Recht. Sie hockten seit einer Ewigkeit an Deck. Den Blick aufs offene Meer gerichtet und hatten bisher keine fremden Schiffe oder seltsame Vorkommnisse beobachtet. Allerdings gab es Theater, wenn sie sich zu lang dort unten aufhielten. Besser sie nahmen alsbald die Füße in die Hände. “Ich frage mich allerdings wieso du heimlich Essen versteckst.“ Um immer etwas zur Besänftigung der Gemüter an Board zu haben? Vielleicht sollte sie ihm vorschlagen eine Sonderportion Kaffe mitzuführen, damit Talin nicht öfter als ihnen lieb war mit schlechter Laune durch den Tag schritt. Federleicht wandte sich die Nordskov auf den Zehenspitzen herum. Umfasste in der Drehung Liams freie Hand mit ihrer eigenen und wartete einen knappen Herzschlag, bis er sich in Bewegung setzte.
Wie bezeichnend dafür, dass sie aus verschiedenen Welten kamen. Für Liam war nichts dabei, den Posten kurz zu verlassen, um nach etwas Essbarem zu sehen. Nicht, weil er die Aufgabe nicht ernst nahm – viel mehr, weil er der kurzen Zeit keine sonderlich große Bedeutung zumaß. Wie viel Pech musste man haben, wenn ein feindliches Schiff genau den Moment abgepasst bekam, in dem die Sphinx lichtlos und unbewacht auf den Wellen schaukelte? Man sah ihn nicht – ob er hier war oder kurz in der Vorratskammer. Skadi hingegen war verantwortungsbewusster und nicht ganz so optimistisch auf ihr Glück zu sprechen nach alledem, was passiert war. „Es sind nur ein paar Minuten.“, versicherte er ihr im festen Glauben daran und schmunzelte, als sie ihm unterstellte, wie ein Eichhörnchen Essen zu verstecken. „Ich verstecke kein Essen. Mich fragt nur niemand, weil alle bei Shanaya ihr Glück versuchen.“ Er zuckte mit der Schulter. Es musste ja Vorteile haben, wenn man mit dem Smutje befreundet war. Trotz ihrer Bedenken wandte sich die Nordskov bereitwillig zum Abstieg. Er folgte ihr – nicht zuletzt, weil sie seine Hand mit sich nahm. Eine Geste, die ihm zwar nicht neu war, aber trotzdem irgendwie mit einer anderen Bedeutung daherkam. Bevor sie sich zur Treppe wandten, hielt er inne und griff nach der kleinen Kerze, die ihr Licht im Regen mittlerweile verwirkt hatte.
Als sie durch die Tür ins Trockene traten, ließ er sie hinter ihnen leise zurück ins Schloss fallen. Ein paar Streichhölzer hatte er tatsächlich noch in der Tasche. Er reichte den Kerzenständer Skadi und entzündete eines der Hölzer, damit sie sich nicht völlig blind die Treppe hinuntertasten mussten. „Welcher Tag ist heute eigentlich?“ Ihm war gerade in den Sinn gekommen, dass er am Morgen daran denken musste, den Tag in seinem provisorischen Kalender abzustreichen. Vielleicht konnte Skadi ihm helfen, sicherzustellen, dass er sich nicht verrechnet hatte. Im Normalfall war ihm das Datum nämlich relativ egal.
Sie wandte sich herum. Hörte die atmenden und schnarchenden Schemen mehr, als dass sie sie im ersten Moment in der plötzlich eintretenden Dunkelheit sah. Eine befremdliche Stille, die gefüllt war mit gleichmäßigen Klängen schwer oder schwach atmender, dafür leise wispernder Leiber. Sie vermutete nur wenige Meter weiter vor sich Trevors aufgeregtes Flüstern. Ein Wirrwarr zusammenhangsloser Worte, die kaum zu verstehen waren.. Wie in jeder Nacht, in der der Mond gleißend hell am Himmel stand und Skadi selbst jeglichen Schlaf raubte. Irgendwo in einer der hinteren Ecken hörte sie sogar Ceallagh, dessen Atemstöße einem verächtlich Schnaubenden gleich kamen und dieses Mal wohl nicht mit triefendem Sarkasmus an Alex gerichtet waren. Oder doch? Ein kurzes Schmunzeln ruhte auf ihren Lippen. Dann spürte sie Liams Hand an ihrem Oberarm und wandte sich, erst mit dem Kopf, dann dem Rest ihres Oberkörpers herum, um halb blind die Kerze entgegen zu nehmen. „Keine Ahnung.“, antwortete sie flüsternd und zuckte mit den Schultern. Auf diesem Schiff begann sie immer mehr ihr Zeitgefühl zu verlieren. Erst Recht wenn sie auf See waren und sie selbst nie wirklich wusste, wohin es sie verschlug. „Wieso?“ Ein Zischen durchfuhr die Stille. Gefolgt von gleißendem Licht, das sich knisternd auf dem noch feuchten Docht der Kerze zwischen ihren Fingern niederließ. Ob Liam ihr geantwortet hatte, wusste die Nordskov nicht mehr, als sie einen Herzschlag später noch immer seiner Silhouette folgte. An den Hängematten vorbei, die sie nur noch beiläufig aus dem Augenwinkeln wahrnahm. Darauf bedacht keinen Blickkontakt mit Alex zu haben, der mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einem Raubtier gleich über den Rand seiner Hängematte lugte.
Die nächtlichen Geräusche auf dem Schiff waren ihm mittlerweile so vertraut, dass er sie nur noch in ihrem vollen Umfang wahrnahm. Monotones Schnarchen, durchsetzt mit dem ein oder anderen Ausreißer oder einem tiefen Seufzen eines Schlaflosen, der das Pech gehabt hatte, nicht vor dem Aufbäumen des nächtlichen Orchesters eingeschlafen zu sein. Statt die Geräusche einem bestimmten Gesicht zuordnen zu wollen, war er Gedanklich bereits wo anders, ärgerte sich insgeheim darüber, es wieder vergessen zu haben und womöglich doch noch einmal Enrique fragen zu müssen, als Skadi ihm keine wirkliche Gedankenstütze liefern konnte. „Ach, nichts bestimmtes.“, log er mit einem unschuldigen Schmunzeln auf den Lippen und winkte mit einer beiläufigen Handbewegung ab. „Schaust du, was sich Essbares finden lässt, ohne Rayon zu wecken? Ich komm‘ gleich.“, fuhr er direkt fort, um sie vom Thema abzulenken und sich die kleine Überraschung für den richtigen Augenblick aufheben zu können. Unten angekommen wandte er sich statt in Richtung der Kombüse den Schlafplätzen zu und tastete sich vorsichtig durch die Dunkelheit. Irgendein Leib drehte sich mit einem Seufzen in seiner Hängematte, doch es blieb still. Liam versuchte, möglichst leise seine Truhe zu öffnen, bis er die Hand durch einen Spalt hineinschieben konnte. Er musste kurz kramen, zog dann aber ein unordentlich zusammengelegtes Stück Segelstoff aus der Unordnung. Leise fiel der Deckel der Truhe wieder zu und er kehrte möglichst ohne Berührung mit einer der übrigen Händematten zurück in den schwachen Schein der Kerze, die er Skadi überlassen hatte. Als ihr Licht reichte, um sich zu vergewissern, dass er das richtige aus seiner Truhe gezogen hatte, breitete er die Plane in seinen Händen unfertig aus und klemmte sie sich unter den Arm. Es war die Plane, die Alex und er oftmals nachts als Unterschlupf genutzt hatten, weil sie mäßigem Wind und Wetter standhielt. .
Liams Schmunzeln war kaum im schwachen Licht der Kerze auszumachen. Doch der Ton, der in seinen Worten mitschwang, machte deutlich was Skadi nicht sehen konnte: kindliche Vorfreude. Beinahe hätte sie in einem ersten Impuls tief ausgeatmet. Doch das Flackern der kleinen Flamme wenige Zentimeter unterhalb ihres Gesichts hielt sie davon ab. Jetzt im Dunkeln zu stehen mochte vielleicht schlimmer sein, als seine Geheimniskrämerei. „Renn du lieber nicht gegen irgendwelche Hinterteile.“ , gab sie ihm zurück und wandte sich bereits ab, kaum das Liam zwischen den Hängematten verschwand. Womöglich war es von Vorteil seit mehreren Monaten auf diesem Schiff umher zu geistern – zumindest umging die Nordskov einige Bohlen und Ecken des Raumes, in denen es für ihre Zehen oder den Schlaf der anderen gefährlich werden konnte. Erst Recht, da Rayon unmittelbar neben der Kajüte schlief und Skadi, wann immer sie Nachtdienst hatte, glaubte, dass der Smutje heimlich ein Auge auf alles richtete. Über den Rand seiner Decke hinweg und mindestens genauso lauernd wie Alex. Seufzend kehrte sie einen Augenblick später aus der Kammer heraus. Lediglich mit zwei winzigen Streifen Pökelfleisch in den Händen. Viel war nicht zu holen gewesen. Die Reparatur des Schiffes hatte deutlich an ihren Reserven gezehrt und die Rationen waren bis auf den letzten Krümel abgezählt. Und es sich mit dem hochgewachsenen Smutje zu verscherzen, der vielleicht augenscheinlich friedlich und besonnen wirkte, war etwas, dem Skadi gern entgegen wirkte, so sie denn konnte.
Noch bevor er wieder zum Aufgang aufgeschlossen hatte, hielt er inne und machte kurzerhand noch einmal kehrt, um zu seiner Hängematte zurückzukehren. Mit einem schnellen Griff zog er die Decke heraus, klemmte sie zur Plane und tastete sich durch die Dunkelheit zurück dem Licht entgegen. „Fündig geworden?“, fragte er und wandte sich bereits wieder der Treppe zu, die sie zurück auf ihren Posten führen würde. Die Ausbeute schien mau, doch Liam war gut genug mit Rayon befreundet, um zu wissen, wie eng kalkuliert die Rationen waren. Vor allem, wenn man eine plündernde Shanaya mit einrechnen musste. Die Regenfront über ihnen schien sich inzwischen eingeregnet zu haben. Aus dem Nieselregen waren etwas schwerere Tropfen geworden, die mit einem leichten Rauschen um sie herum ins Meer und auf Deck fielen. Liams Augenbrauen zogen sich kurz zusammen, als er den Arm hob um seine Augen vor dem Regen schützte, ehe er sich an Skadi wandte, die noch in der Tür stand. „Scheint, als wäre es erstmal vorbei mit der gemütlichen Nachtschicht. Aber immerhin ist die Sphinx dadurch so gut wie unsichtbar.“ Er trat gänzlich hinaus in den Regen und ließ den Blick  über den dunklen Horizont schweifen, während er wieder auf die Fässer zuging. Er ließ die Decke fallen, breitete die Plane aus und klemmte sie kurzerhand hinter die Fässer, zog sie nach vorne und schütze die dadurch entstandene Nische so vor Wind und Wetter. Die Decke diente als Polter. Holzdielen wurden mit der Zeit eben doch sehr unbequem. „So.“, offenbarte er schließlich sein Wert mit einem kindlichen Schmunzeln. „Vielleicht nicht die schönste Deckenburg, die du je gesehen hast, aber hoffentlich wenigstens zweckmäßig.“
„Wie man es nimmt.“ Liam war endlich zurückgekehrt und wirkte deutlich sperriger bepackt als zuvor. Skeptisch musterte sie die Bündel unter seinem Arm, während sie ihm die Treppe hinauf folgte und beim Anblick des Regens einen Moment stehen blieb. In winzigen Sturzbächen rauschte das Wasser vom Himmel herab. Ein Wetter, dass sie vielleicht nicht scheute, doch das auf offener See einfach nur unangenehm war. “Du findest auch in jeder Situation irgendetwas positives, oder?“ So war Liam nun einmal. Seitdem sie ihn eigentlich wirklich kannte – nicht nur den Kampf scheuenden Fremden, der ihr eine Kopfnuss verpasst und ihre Nase zum Bluten gebracht hatte. Manchmal beneidete sie ihn ein wenig um dieses Talent. Es machte so vieles einfacher, als sich ständig über jedes kleinste Detail den Kopf zu zerbrechen. Mit einem schwachen Kopfschütteln folgte sie ihm, ein schmales Lächeln auf den Lippen. Beobachtete seine Bewegungen und beäugte das Konstrukt aus Fässern und Stoff mit zur Seite geneigtem Kopf. „Wieso haben wir das nicht schon vorher gebaut?“ Ein Lachen klang in ihrer Stimme mit. Verhallte, während sich die Nordskov auf die Knie sinken ließ und unter die Plane krabbelte. „Du bist immer wieder für Überraschungen gut.“
Das Schmunzeln auf seinen Zügen verriet, dass er die Skepsis in ihrem Blick für den Moment tatsächlich genoss. So simpel, wie seine Idee eigentlich war – die Nordskov schien sich vorerst nichts unter den Utensilien vorstellen zu können, die er dabei hatte. „Das Negative ist meistens offensichtlicher, aber niemals alleine.“ Wäre er allein gewesen, hätte er vermutlich im Regen gestanden, bis die Schiffsglocke die nächste Schicht zu ihren Pflichten gerufen hätte. Er mochte Regen, mochte die Stille und Ruhe, die er mit sich brachte. Die meisten Menschen allerdings flohen lieber in ihre Häuser, wenn sie nicht zwangsläufig draußen arbeiten mussten. Da war es doch das Mindeste, Skadi zumindest eine kleine Hütte zur Verfügung zu stellen. „Weil wir dann die Aussicht hätten aufgeben müssen.“, antwortete er. „Ich habe leider noch nicht herausgefunden, wie man bei dieser Bauweise geschickte Fenster hinbekommt.“ Er ging in die Hocke und ließ der Nordskov den Vortritt in ihr sporadisches Wachhäuschen, ehe er hinterher krabbelte und sich neben sie setzte. „Diese Plane hat uns schon so manche nasse, stürmische Nacht gerettet. Einmal nur hat sie nicht gehalten und ist davongeweht worden. Wir saßen also solange im Regen, bis der Sturm nachließ und wir uns endlich am Feuer trocknen konnten. Und wie der Zufall es so wollte, haben wir sie danach trotzdem unversehrt wiedergefunden.“
„Zur Not bauen wir sie den Unterschlupf auf dem Achterdeck. Von dort hat man überall hin eine gute Aussicht.“, wandte Skadi ein und zog die Knie bis an die Brust heran. Nur die Spitzen ihrer Schuhe ragten unter der Plane hervor, auf dessen Oberfläche die Wassertropfen geräuschvoll aufschlugen und dort das Leder dunkel färbten. “Wenn ihr es nicht einmal in eine Höhle, ein Haus oder Dickicht geschafft habt, müsst ihr an seltsamen Orten unterwegs gewesen sein.“ Zumindest die Nordskov konnte sich kaum eine Landschaft ausmalen, in der nicht zumindest eine große Reihe an hoch gewachsenen Bäumen stand. Abgesehen vielleicht dort, wo sie als Kind Rúnar begegnet war. In der ewigen Kälte aus Eis und Schnee. “Wie geht’s dir eigentlich damit, dass er wieder da ist?“ Sie schenkte Liam einen knappen, aber deutlichen Seitenblick .
„Dort ist die Sphinx aber auch deutlich hellhöriger, wenn alle schlafen.“, bemerkte er und sein Blick wanderte in die Richtung des Aufbaus, unter dem zusätzlich noch die Kapitänskajüte verborgen war. Und Liam brachte die Zeit gerne damit herum, auf seinen Instrumenten leise vor sich hinzuspielen. Das letzte, was er dabei wollte, war, die anderen um ihren wohlverdienten Schlaf zu bringen. Allein schon, weil er seine Geige nicht zum Opfer irgendeiner schlaflosen Wut machen wollte. „Es war mitten in der Nacht und irgendwann ist leider auch das dichteste Dickicht durchnässt im Sturm. Ich meine, wir hatten Glück. Es ist nichts kaputt gegangen und alles trocknet bekanntlicher Weise irgendwann. Wir sind eben quer durch die Wildnis marschiert.“ Liam runzelte die Stirn und überlegte, wo genau sie dort gewesen waren. Wenn er sich nicht völlig täuschte, waren sie kurz darauf Ceallagh über den Weg gelaufen, während ihn die zurückliegende, kalte und nasse Nacht in die Knie gezwungen hatte. „Das müsste auf Calbota gewesen sein.“ Oder sie waren zumindest zeitnah nach Calbota übergesetzt. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel bei den Erinnerungen, ehe Skadi seine Gedanken wieder in andere Gefilde holte. Weniger schöne, weil sie unweigerlich wieder Konflikte mit sich bringen würden, von denen der Lockenkopf vorerst eigentlich genug hatte. „Alex?“, fragte er und schindete damit etwas Zeit. Dann seufzte er, lehnte den Hinterkopf an das Holz der Reling und schielte seitlich zu Skadi hinüber, deren Kontur im Schein der Kerze deutlich zu erkennen war. „Er ist wie ein Bruder für mich, Skadi. Und ich weiß bei ihm, dass er alles daran setzen würde, meinen Vater zu finden, sollte mir etwas zustoßen. Um ihm Gewissheit zu bringen.“ Diese Aussage ging ihm nur halb so schwer von den Lippen, wie sie sich vermutlich anhören musste. Er klang sachlich, abgeklärt. „Ich weiß, dass er nicht immer einfach ist. Aber er ist einer von den Guten. Auch, wenn er das selbst vermutlich am wenigsten hören will.“
Es war nicht worauf sie hinaus gewollt hatte. Eigentlich hatte sie sich kaum etwas bei ihrer Frage gedacht. Wollte vielmehr wissen, wie es Liam ergangen war in den Wochen, in denen sie ihn rigeros gemieden und umgangen hatte. Sicher. Liam hatte ihr bereits berichtet, dass sie viel unterwegs gewesen waren. Womöglich ähnlich entspannt und losgelöst wie zu guten alten Zeiten. Doch nur, weil es leicht aussah, musste es nicht bedeuten, dass es das für den Musiker auch war. “Das war zwar nicht, was ich meinte, aber klingt zumindest, als würdest du dich gut dabei fühlen, dass er zurück ist.“ Ein kurzes Schmunzeln überzog ihre Lippen. Dann wandte sie den Kopf zurück in Richtung des Schiffes. “Meinst du wir treffen auf unserer Route auch Lubaya?“
Die Ehrlichkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er blinzelte, beugte den Kopf ein Stück nach vorne und blinzelte Skadi an. Er wollte nicht, dass sie dachte, dass er ihren Fragen auswich oder sie absichtlich missverstand. „Was meintest du dann?“ Besonders nicht jetzt, nicht heute, wo Normalität wieder in greifbare Nähe gerückt war. Liam wusste, dass Skadi zu scheu war, von jetzt auf gleich hinter sich zu lassen, was die letzten Wochen zwischen ihnen gestanden hatte. Egal was er sagte oder tat; egal, worauf sie sich einigten und wie offen sie miteinander waren. Ihre Scheu blieb. Und er wollte nichts in aller Welt tun, um sie zu nähren. „Wir werden sehen, was die Zeit bringt. Und ob es uns in die dritte Welt führt oder sie wieder mit ihrem Bruder auf See.“
“Mh…” Eine kurze Pause zog sich zwischen seine Frage und ihre Antwort. Ehrlich gesagt hatte sie kaum damit gerechnet, dass Liam nachhaken würde. Weil es theoretisch nicht schlimm war und keinen wirklichen Unterschied machte. “Ich meine… ihr habt euch so lange nicht mehr gesehen. Und es ist so viel passiert. Bei dir, wie sehr wahrscheinlich auch bei ihm. Das kann Dynamiken verändern. Ob man das will oder nicht. Und … na ja…” Wieder wandte sie den Kopf von den dunklen, nassen Planken ab, direkt auf Liams Gesicht. “… weil wir so lange nicht gesprochen haben und ich mir selbst kein Bild von euch machen konnte… wollte ich einfach wissen, wie es dir damit geht.“
Liam unterbrach sie nicht. Anfangs, weil er das ungute Gefühl nicht loswurde, dass nun irgendetwas kommen würde, bei dem er vorsichtig antworten musste. Dann, weil er erleichtert war und ihm das Interesse Skadis durchaus schmeichelte. Das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück und er hatte keinen Grund, ihrer Sorge zu misstrauen – auch nicht, obwohl er wusste, dass Alex und sie nicht unbedingt in den nächsten Tagen und Wochen zu besten Freunden wurden. „Aber Familie bleibt Familie.“, meinte er leichtfüßig, weil er bislang noch keine anderen Erfahrungen in seinem Leben gemacht hatte. Er vertraute Alex. Er vertraute ihm im Zweifel auch sein Leben an. Jetzt wie vor einem halben Jahr. Er hob die Hand und legte sie beruhigend auf Skadis Bein an seiner Seite. Weil er nicht wollte, dass sie sich nun erneut darüber Gedanken machte. Vergeben und vergessen. „Es ist schön, wieder ein gemeinsames Ziel zu haben und sich die Abende und Nächte zusammen um die Ohren schlagen zu können. Auch, wenn es uns nun nicht in die eigentlich geplante Richtung bringt.“
Familie blieb Familie. Ob jene, die man sich aussuchte, oder die, in die man zwangsläufig hinein geboren wurde. Wieso sich die Nordskov augenblicklich unwohl fühlte, war ihr selbst nicht wirklich klar. Vielleicht weil ihr klar wurde, welchen Stellenwert Alex in Liams Leben besaß. Ganz gleich wie weit entfernt er auch war. Und sie sich in diesem Augenblick, unter all den Umständen und Geschehnissen der letzten Tage mehr denn je wie ein Fremdkörper darin vorkam. Es wunderte sie nicht, dass der Dunkelhaarige nichts mit ihr anfangen konnte. Sie würde es wohl selbst nicht. An seiner Statt. Doch Liam vergönnte ihr einen weiteren Gedanken daran. Legte seine Hand auf den klammen Stoff ihrer Hose und brachte die Nordskov mit einem tiefen Seufzen in Schieflage. Langsam bettete sich ihr Kopf an seiner Schulter. Wandte sich herum, bis ihre Stirn die warme Stelle berührte, unter der seine Haut pulsierte. Schloss die Augen und fuhr mit den Fingerspitzen die spürbaren Adern auf seinem Handrücken nach. „Aber wer wärt ihr schon, euch an Pläne zu halten, nicht wahr?" Sie klang belustigter, als sie aussah. Doch das konnte Liam nicht sehen. "Hoffentlich treffen wir irgendwann noch auf Lubaya... ich habe ihm Gefühl, dass ich mich mit ihr besser verstehen werde."
Die Schwere, die in Skadis Stimme mitschwang, bezog Liam nicht direkt auf Alex, sondern viel mehr auf das, was sie in sich verschlossen hielt. Komisch war sie auch schon gewesen, bevor er auf Alex getroffen war. Demnach schrieb er seinem Freund im Augenblick nicht sonderlich viel Bedeutung zu. Innerlich rechnete er aber trotzdem damit, dass dieser Hauch von Normalität nicht lange andauern würde. Ein Grund mehr, weshalb er sich vornahm, es zu genießen, Kraft daraus zu ziehen und die nächsten Tage und Wochen besser mit ihren Höhen und Tiefen umzugehen. Dass sie keinen Abstand wollte, hatte sie ihm nun immerhin deutlich gesagt – was es sonst war, galt es noch herauszufinden. Aber nicht heute, nicht jetzt. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, ihrer Atmung zu lauschen und ihre Finger zu spüren, die sanft über seinen Handrücken strichen. „Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir auch nur einmal auf einem direkten Weg waren.“, lächelte er leise, aber zufrieden. „Andererseits würde das auch implizieren, dass wir ein wirkliches Ziel hatten.“ Ihr Ziel allerdings hatten sie durchgehend unter den Füßen gehabt statt vor Augen. Es war kein Ort. Es war ein Leben. Als sie ihn an Lubaya erinnerte, verlor sich sein Blick für einen Moment auf ihrer beider Hände. „Das wäre schön, ja.“, stimmte er ihr zu. Wie es Lubaya wohl ging? Wo sie war? „Ich glaube auch, dass ihr euch gut verstehen würdet. Ganz zu Alex‘ Leidwesen.“ Ein hörbares Grinsen mischte sich in seine Stimme. „Ihr Optimismus und ihre Sturheit hat ihn regelmäßig zur Weißglut getrieben, aber letztlich hat sie immer bekommen, was sie wollte.“
Allein die Vorstellung wie Alex schäumend vor Ungeduld und Frust die bittere Pille schluckte, die Lubaya ihm in den Rachen drückte, hinterließ so etwas wie Genugtuung in der Nordskov. Immerhin gab es noch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Was sie zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht ahnte - dass das Schicksal sie an Alex und seine Verschwiegenheit binden würde. In naher Zukunft, in der nichts mehr von dieser friedlichen Ruhe übrig blieb, die sie immer wieder in Liams Nähe fand. „Jetzt kann ich es noch weniger erwarten, sie kennenzulernen.“, perlte es hörbar amüsiert über ihre Lippen. „Wer Alex die Sporen geben kann, muss so etwas wie magische Fähigkeiten besitzen.“ Ihr war klar, dass das albern war. Doch letztlich zeugte es von irgendeiner Art Können, dass er sich freiwillig ergab. Alex schien nicht der Typ Mann, der sich gern sagen ließ, was er zu tun hatte. Erst Recht, wenn er es nicht wollte. Sie musste ihm also irgendwie genug ans Herz gewachsen sein, dass er sich breitschlagen ließ. Und irgendwie, waren sie und Alex sich da nicht gänzlich uneins. „Was hältst du davon, wenn wir beim nächsten Landgang einen kleinen Ausflug machen? Raus aufs Land?“ Nur zu zweit. Ohne die anderen. Um Abstand zu gewinnen. Um aufzuholen, was sie durch ihre Zwangspause verpasst hatten.
Liam seufzte leise. Nicht unglücklich, aber er empfand noch immer leises Unverständnis für die Fronten, die sich zwischen Alex und Skadi aufgebaut hatten. In erster Line dank Alex – er kannte ihn immerhin – Und scheinbar hatte er sich bislang schon genügend Mühe gegeben, um auch Skadi auf Abwehrkurs zu bringen. Er erinnerte sich gar nicht mehr so genau daran, wie es damals bei Lubaya gewesen war. Vielleicht wollte er sich gerade aber auch gar nicht daran erinnern. „Er ist einer von den Guten.“, nahm er ihn abermals leise in Schutz und senkte den Blick. „Auch, wenn er das selbst nicht gerne wahrhaben will.“ Ob Skadi ihm das glauben konnte, wagte er zu bezweifeln. Immerhin gab sich der Ältere alle Mühe dabei, das Gegenteil zur Schau zu stellen. Bei Skadis Vorschlag sah er auf und musterte ihre erhellten Züge einen Moment ein wenig überrascht. Dann aber wandelte sich die Überraschung zu einem schwachen Lächeln. „Wandern meinst du? Oder was schwebt dir vor?“, fragte er mit leiser Vorfreude in der Stimme. Es war ewig her, dass er wirklich wandern gewesen war. „Wenn uns dort keine Kopfgeldjäger, Schläger oder Marinesoldaten empfangen, bin ich für alles zu haben.“ Liam schmunzelte, was seiner Aussage gewiss die Schärfe nahm, ehe er den Kopf zur Seite drehte. „Und wenn du auf die andere Seite der Insel laufen willst, wo uns die anderen abholen können.“, hauchte er in Skadis feines Haar. Er würde den Teufel tun, und diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.


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