Ein Moment der Ruhe

[Greo]

Er fragte sich kurz, wann sie das nächste Mal wieder anlegen würden. Er wollte gerne und zügig vorwärts kommen, wollte diese Welt hinter sich lassen und der Ferne entgegenjagen. Andererseits tat es gut, zwischendurch immer wieder mal festen Boden unter den Füßen zu haben, vernünftiges Essen zwischen die Zähne zu bekommen und andere Gesichter – oder einfach mal gar keine Gesichter – zu sehen. Auf dem Schiff ließ es sich schwer ausweichen. Manchmal fühlte er sich fürchterlich ausgeliefert. Den blinden Passagier hatte es in dieser Hinsicht schlecht erwischt: er war eingesperrt und konnte sich nicht dagegen wehren, wenn jemand bei ihm Wache hielt und ihm (Greo warf Shanaya einen langen Blick zu und unterdrückte ein Grinsen) seine Gesellschaft aufdrängte.

„Kannst ihn nicht leiden, huh?“

Ein leichtes Grübchen zeichnete sich auf seiner Wange ab, als er einen Mundwinkel hochzog und knüpfte dann abrupt an das andere Thema an.

„Wo… vermutet ihr ihn denn?“

Fragte er und klang lediglich milde interessiert. Er wollte es nicht direkt raushängen lassen, dass es ihn störte mit so wenigen Informationen abgespeist worden zu sein, nachdem er angeheuert hatte. Immerhin hatte er der Mannschaft mit seiner Unterschrift auf der Charta seinen Einsatz, seine Gesundheit und gar sein Leben versprochen. Er war noch nicht sicher, ob das ein Fehler gewesen war. Talin hielt sich zurück und weil er noch niemanden so gut kannte, wollte er nicht indiskret und ungeduldig erscheinen.

[Shanaya Árashi]

Shanaya seufzte lautlos über die eigenen Worte. Ihretwegen konnten sie den Dieb auch einfach über Bord werfen – das wäre kein Verlust. Aber sie wiederholte sich in ihren Gedanken, also erwiderte sie einfach den Blick des Dunkelhaarigen, auch wenn sich dabei eine ihrer Augenbrauen anhob. Es kam jedoch nur eine schlichte Frage, nicht das, was sie nach solch einem Blick erwartet hatte. Und so ließ die Antwort auch nicht lang auf sich warten.

„Ich wüsste keinen plausiblen Grund, wieso er hier sein sollte – außer er will uns in irgendeiner Art und Weise schaden. Ich bin ihm gegenüber also nicht ganz so... positiv eingestellt.“

Gut, was Vertrauen anging war sie sowieso nicht vorn dabei, aber gerade jetzt, gerade hier, war dieser Kerl ihr ein Dorn im Auge. Selbst, wenn er brav wie ein Hündchen in seiner Zelle saß. Wer wusste schon, was da noch kommen würde... Da gefiel ihr das nächste Thema deutlich besser, auch wenn sie in diesem Fall ein Schnaufen über Talin unterdrücken musste.

„Wenn wir mit den Informationen, die wir haben, richtig liegen – wovon ich ausgehe – ist er bei der Marine. Wo genau und wie wir an ihn ran kommen finden wir gerade heraus... und ich hoffe, dass Talin mehr weiß, als sie verrät, so wie sie sich verhält.“

[Greo]

Er verzog leicht den Mund, als er über ihre Antwort sinnierte und sich mögliche Gründe in seinem Kopf zusammenbastelte, die den blinden Passagier dazu gebracht hatten auf das Schiff zu kommen. Greo war ziemlich sicher, dass da ein gewisser Egoismus mitgespielt hatte und der Gefangene sicher nichts Gutes im Schilde führte. Andernfalls hätte er sich schließlich nicht aufs Schiff zu schleichen brauchen. Vielleicht hatte er nur was stehlen und dann wieder abhauen wollen – wie erbärmlich, dass man ihn erwischt hatte. Sie waren doch nur so Wenige an Bord, wie hatte ihm so ein Fauxpas passieren können?
Aber anstatt über den Narbenjungen herzuziehen legte er das Thema ad acta und verarbeitete das, was die Dunkelhaarige ihm da offenbarte. Nur ein winziges Lupfen einer Braue deutete eine Gefühlsregung bei ihm an. Marine klang nicht gut. Aber das brauchte sie nicht zu wissen.
Er sparte sich nachzufragen, weshalb sie den ominösen Bruder überhaupt erst befreien mussten, schob sich den Hut in den Nacken und linste zu den Segeln hinauf.

„So so. Kennst du ihn?“

[Shanaya Árashi]

Der Dieb war nicht unbedingt ein gutes Thema, denn im Prinzip war er der Schwarzhaarigen ein Dorn im Auge. Einen, den sie loswerden wollte. Sie fühlte sich von dem Dunkelhaargen nicht bedroht, keinesfalls, aber ihn dauerhaft da unten sitzen zu wissen erfüllte sie bis zu einem gewissen Grad mit Unbehagen. Da lag ihr das zweite Thema schon mehr, auch wenn sie gedanklich ein wenig auf der Stelle paddelte, nicht so recht wusste, in welche Richtung sie steuern sollte. Marine... das war ein weitläufiger Begriff... es konnte also alles heißen. Auf einem Schiff, in einer Marine-Festung... sonstwo. Vielleicht hatten sie ihn auch in eine andere Welt geschifft und es würde Jahre dauern, bis sie ihn erreichten? Shanaya hoffte, dass das nicht der Fall war. Für den Moment jedenfalls zuckte sie nur kurz mit den Schultern.

„Nicht wirklich. Im Prinzip ist er mir auch egal, ich mache das alles, weil ich Talin einen großen Gefallen schulde... Also rette ich mit ihr ihren Bruder und zweiten Captain, dann sind wir quitt und ich hab' ein reines Gewissen.“

Mit einem abschließenden Nicken lächelte sie Greo entgegen. Was sie dann erwartete, nun, das würde sie dann sehen.

[Greo]

Einen Gefallen? Kaum merklich runzelte Greo die Stirn, aber seine Züge glätteten sich sogleich wieder. Das ging ihn nichts an, also sparte er sich weiteres Nachfragen. Hätte sie darauf eingehen wollen, wäre sie sofort mit der Sprache rausgerückt, aber in manchen Dingen – soweit glaubte er sie schon zu kennen – hielt sie gerne hinterm Berg.
Das sollte ihm Recht sein, immerhin machte er es genauso. Himmel, er hatte diesen Leuten nicht einmal gesagt, wie er wirklich hieß.

„Ach komm schon, du hast bestimmt noch ein paar andere Dinge auf dem Kerbholz, die dir dein Gewissen belasten.“

Schmunzelte er und dachte gleichzeitig darüber nach, was die Befreiung eines anderen Kapitäns für sie bedeuten mochte. Das Unterfangen würde sicher nicht leicht werden. Und was, wenn sie es schafften? Das konnte ihnen Ärger und Kopfgeld einbringen. Vielleicht war der Typ auch total unsympathisch. Und zwei Kapitäne… das konnte Stress bedeuten, wenn der eine was befehligte, was dem anderen nicht passte.

„Bleibst du dann bei der Crew, oder ist dein Sold damit getan?“

[Shanaya Árashi]

Während Greo überlegte, dachte auch Shanaya kurz übeer ihre Worte nach. Ein reines Gewisseen. Dass solch ein Spruch gerade von ihr kam war... absurd. Sie und ein Gewissen. Aber Talin hatte ihr geholfen, sie hatte ihr versprochen, im Gegenzug dazu selbst zu helfen. Und das tat sie hiermit. Greos Antwort ließ sie leise auflachen, den Kopf etwas zur Seite neigen.

"In Wirklichkeit habe ich mein Gewissen vor einiger Zeit abgeschafft. Ich muss dich also leider enttäuschen."

Mit einer lockeren Bewegung wuschelte sich die junge Frau durch die Haare, beobachtete dabei die unterschiedlichen Augen ihres Gegenübers. Ein weiterer Fall von 'Jetzt müsste man Gedanken lesen können'. Greo wirkte nicht wie die Anderen, nicht wie jemand, der voller Überzeugung DIESES Leben angestrebt hatte. Wobei das in dieser Crew wohl nur... die wenigsten hatten. Unter ihnen zwei Frauen. Jedem hoch angesehen Captain drehte sich bei diesem Gedanken wohl der Magen um. Die Schwarzhaarige unterdrückte wieder ein Lachen, als Greo eine Frage stellte, bei der sie nun doch leicht nachdenklich die Lippen verzog. Hmm... ja. Das war noch nicht ganz geklärt.

"Mal sehen. Das hängt vermutlich davon ab, wie die beiden sich als Captain anstellen. Es gibt genug Crews, wenn es mir hier also nicht mehrpasst steht mir frei, mir eine andere zu suchen. Ich lasse mich also einfach überraschen."

Das klang nach einem perfekten Plan – und was sollte schon schiefgehen?

[Greo]

„Wieso wundert mich das nicht?“

Milde interessiert verfolgte er ihr Mienenspiel. Mei o mei, was ging wohl in diesem Kopf vor. Er konnte es nicht leugnen, dass ihr ständiges Grinsen und Lachen ihn bisweilen irritierte oder misstrauisch machte. Gab es tatsächlich Menschen, die auf ehrliche Art und Weise derart oft fröhlich waren, oder war sie einfach nur darauf bedacht, sich gut zu inszenieren? Vielleicht beides?
Andererseits war es angenehm zumindest mit Shanaya nicht von ständig schlechter Laune umgeben zu sein, und das fand er immer noch nett.

„Charta hin oder her?“

Blöde Frage, er gab selbst nicht viel Wert auf seine eigene Unterschrift. Wenn sich die Gelegenheit bot…

[Shanaya Árashi]

Shanaya wog den Kopf noch etwas zur Seite, hob dabei fragend eine Augenbraue an.

„Versuchst du etwa gerade mich analysieren?“

In ihrer Stimme schwang deutliche Belustigung mit – zu gerne hätte sie gewusst, wie der Dunkelhaarige sie einschätzte, was er glaubte, was in ihrem Kopf vor sich ging. Da ging es ihr ja nicht anders, auch wenn sie bei sich selbst wusste, was in ihrem Kopf vor sich ging. Meistens zumindest. Vielleicht sollte sie da jedem Mitglied dieser Crew Mal auf die Pelle rücken, um heraus zu finden, was sie dachten? Vermutlich nicht all zu viel Gutes.
Greo selbst riss sie aus diesem – für sie – amüsierenden Gedanken. Seine Worte ließen sie kurz blinzeln. Wie sollte die Carta sie daran hindern, ihren Weg zu gehen? Shanaya Kopf neigte sich zur anderen Seite. Sie war verwirrt.

„Was meinst du? Es gibt da keinen Punkt, der einem verbietet, die Crew zu verlassen.“

[Greo]

„Damit käme ich nicht weit.“

Stellte er fest und runzelte kurz die Stirn. Er stieß sich ab, schnappte sich einen grob genähten Sack aus Leinen, in dem allerlei Kleinkram scheppernd gegeneinander knallte und warf ihn sich über die Schulter. Sich den Hut zurechtrückend warf er einen Blick auf die Dunkelhaarige, blinzelte noch einmal zu den Hühnern und kratzte sich kurz an der Nase.

„Mag sein. Gibt Mannschaften, die sehen das anders. Unterschrift verpflichtet.“

Er drehte sich weg, offenbar plötzlich in andere Gedanken versunken. Etwas zerstreut tippte er sich an die Krempe.

„Wie dem auch sei. Wir haben zu tun, nicht?“

[Shanaya Árashi]

Zack, Treffer versenkt. Shanayas Grinsen wurde bei den Worten des Mannes deutlich breiter, belustigter. Aha. Er wollte sie also nicht analysieren, weil er eh keine Chance hatte? Das war unfair gespielt, sie hätte sich so gern darüber amüsiert, was er dachte.

„Sowas macht ein Gentleman aber nicht... Mich so hängen zu lassen.“

Sie wollte weiter sprechen, aber dem Dunkelhaarigen schien spontan etwas Anderes einzufallen. Er griff nach einem Sack, in dem es klimperte. Er warf ihn sich über die Schulter und in diesem Moment kippte der Kopf der Dunkelhaarigen ein wenig zur Seite, fragend. Er sah auf, als wolle er aufbrechen – wohin war nur die Frage. Mitten auf dem Meer. Vielleicht wollte er ja auf dem Sack davon schwimmen? Sie glaubte nicht wirklich daran, aber für einen Moment erfreute sich die Schwarzhaarige an dem Bild, das sich vor ihrem inneren Auge bildete. Bei seinen nächsten Worten schnalzte die junge Frau kurz mit der Zunge, hob die Schultern etwas an.

„Meine Treue muss sich diese Crew erstmal verdienen, dann sehe ich weiter.“

Vollkommen überzeugt nickte Shanaya, betrachtete dann aber wieder ein wenig skeptisch den Mann, der nun behauptete, sie hatten etwas zu tun. Er hatte sich abgewandt, was die junge Frau die Augenbrauen leicht zusammen ziehen ließ.

„Natürlich. Und was hast du mit deinem Sack vor?“

Gut, sie gestand, gerade wusste sie keine wirkliche Arbeit. Sie konnte das Deck schrubben, Aspen ein wenig auf der Nase herum tanzen. Aber der Dunkelhaarige wirkte, als wüsste er genau in diesem Moment, was er tun musste. Wie ein innerer Drang, da bekam sie ja fast ein schlechtes Gewissen. Aber eben auch nur fast.