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Watching Words
Crewmitglied der Sphinx
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#1
Watching Words
bespielt von    Liam Casey   Trevor Scovell
13.04.1822
Sphinx
Watching Words
Später Nachmittag des 13. Aprils 1822 || Auf See, an Deck der Sphinx, Bug
Liam Casey & Trevor Scovell

Trevor saß im Schneidersitz auf den Planken der Sphinx und starrte auf eben die hinunter. Er hatte dafür den Kopf in die Hände gestützt und das Gesicht zu einer seltsamen Mischung aus Lächeln und Stirnrunzeln verzogen, die den meisten Menschen vermutlich Kopfschmerzen bereitet hätte. Trevor dagegen nannte sie begeistert seinen „Detektivblick“, oder hätte sie so genannt, wenn jemand gefragt hätte oder zumindest in Hörweite gewesen wäre, um es ihm einfach so zu erzählen. Hier am Bug der Sphinx war allerdings niemand. Trevor runzelte die Stirn noch ein bisschen mehr und unterstrich seine Mimik damit, dass er sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen tippte. Die bewegten sich unablässig, so als würde er etwas vor sich hinmurmeln, aber das war nicht Teil des Detektivblicks und er murmelte eigentlich auch gar nichts. Er hatte das bloß bei anderen Leuten gesehen, die etwas lasen. Und vielleicht, man wusste ja nie, war das das ganze Geheimnis, und er würde die Worte auf dem Papier vor ihm einfach von alleine aufsagen.

„Mein lie–“

Trevor verrückte das Tau ein bisschen, unter das er die beiden Briefseiten geklemmt hatte. Sie flatterten träge, als der Wind darunter fuhr, und kurz fürchtete er, dass sie davonfliegen würden und er über Bord springen musste, um sie wiederzuholen. Aber unter Deck hatte er sich den Brief schon drei Mal hintereinander von Rayon vorlesen lassen und dann solange im Halbdunkeln selbst auf das Papier gestarrt, dass Bobo bestimmt gesagt hätte, dass ihm gleich die Augen ausfielen, und es sich auch so anfühlte.

„–ber Trevor“, sagte die erste Zeile, so weit war er schon.
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Crewmitglied der Sphinx
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#2
Die gute Laune hielt noch immer und ließ ihm die Arbeit leichter von der Hand gehen. Auch die wiedergekehrte Enge, die die Sphinx eben mit sich brachte, machte ihm längst nicht so viel aus wie kurz vor den Festlichkeiten auf Milúi. Nicht einmal über das Schrubben des Decks beschwerte er sich zur Zeit – wobei er sich selten darüber beschwerte, diese ungeliebte Arbeit zu machen. Immerhin hatte er dabei seine Ruhe, niemand drängte ihn zur Eile oder beobachtete ihn derart genau, um sich darüber zu beschweren, dass er sich Zeit ließ. Mit Schwung leerte er das schmutzige Wasser hinter der Reling und stellte den Putzeimer an Deck ab, um sich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn zu wischen. Das Wetter war gut wie die letzten Tage auch und die Sonne hatte ihre Reise zurück zum Horizont längst begonnen. Vermutlich würde Rayon bald zum Essen rufen – jedenfalls hoffte der Lockenkopf, dass sein Zeitgefühl ihm bei dieser Einschätzung nichts vorgaukelte. Mit einem tiefen Atemzug sog er die frische Meeresbrise ein und musste mit Bedauern feststellen, dass noch kein Geruch erahnen ließ, was ihnen heute aufgetischt werden würde. Aber die Vorräte waren frisch, die Möglichkeiten – für ein Schiff zumindest – schier unendlich und sein Appetit willig, alles auszuprobieren, was ihr dunkelhäutiger Smutje dort unten für sie zauberte.

Gerade, als er den Eimer wieder unter Deck bringen wollte, fiel ihm ein leises Murmeln auf. Er verstand die Worte nicht und doch war sein Interesse geweckt, was es dort am Bug des Schiffes für Heimlichtuereien zu munkeln gab. Nicht, dass Liam wirklich interessiert an den Geheimnissen war, die manche an Bord so streng hüteten. Aber für eine kleine Überraschung war er gern zu haben. Ein erschrockener Blick vielleicht, dass man doch nicht so alleine war, wie man gehofft hatte. Er gab sich keine Mühe, die knarzenden Bretter an Deck auszulassen und seine Anwesenheit somit zu verschleiern. Als er zum Bug hinaufstieg, stellte er allerdings überrascht fest, dass es nur Trevor war, der dort vorn übergebeugt vor sich hin murmelte. Mit einem gut gelaunten Stirnrunzeln trat er näher und versuchte, einen Blick über die Schulter des Jüngeren zu erhaschen.

„Was tust du da? Beschwörst du Dämonen? Hat dir das diese Lissa beigebracht?“, machte er auf sich aufmerksam, da Trevor unfassbar vertieft in das zu sein schien, was er da tat. „Ah, ist das dieser Brief, von dem du ununterbrochen redest?“

Er ging neben ihm in die Hocke, weil er es nicht mochte, von oben herab mit Menschen zu reden. Weder mit Kindern, noch mit Erwachsenen.
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Crewmitglied der Sphinx
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#3
Trevors Kopf ruckte in die Höhe, nach links, rechts, aber da war kein Körper, zu dem die Stimme gehören könnte. Bei allen Welten! Hatte es – hatte es funktioniert?! Sie klang zwar verdächtig nach Liam, aber woher wusste er schon, ob der Brief nicht wie Liam oder Liam wie der Brief redete?! Vielleicht –
Nein, es war Liam. Jetzt hockte er sich neben Trevor. Bevor sie sich wirklich zeigen konnte, vertrieb er die Enttäuschung mit einem breitem Grinsen.

„Nein, was ist ein Dämon? Können Dämonen lesen?“, fragte er neugierig und rückte ein Stück zur Seite, damit Liam im Beschwörungskreis Platz nehmen konnte.

„Lissa kann mit Sachen reden, einfach so, ohne Beschwörungen, oder zumindest reden sie einfach so mit ihr. Aber ich glaube, mein Brief ist ein bisschen schüchtern.“

Er zuckte mit den Schultern, ohne das Lächeln aufzugeben. Schon schüchterne Menschen erschlossen sich ihm nicht so wirklich und dieser Brief war ein einziges Rätsel.

„Vielleicht sollte ich ihn einfach gnadenlos vollquatschen, bei schüchternen Leuten funktioniert das immer. Oder – Liam! Nicht bewegen!“

Natürlich! Eilig zog er die beiden Papierseiten unter dem Tau hervor und strich sie liebevoll glatt. Viel brachte das nicht, besonders dort, wo die Blutflecken getrocknet waren, wellte sich das alte Papier etwas. Aber immerhin entfernte er so gleichzeitig auch etwas imaginären Staub. Feierlich reichte er seinen Schatz an Liam weiter.

„Du kannst doch lesen, oder?! Liest du ihn vor?! Bitte?“

Er war sich nicht vollständig sicher, vielleicht bewegte Liam ja ebenfalls einfach nur so die Lippen, wenn er sich über irgendetwas mit Buchstaben beugte. Aber er hatte ja immerhin schon mal die gleiche Stimme wie der Brief!

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#4
„Ach, nichts, was die Sphinx im Augenblick gebrauchen könnte.“, wiegelte er das Thema ab und hoffte, dass das, was auch immer ihn gerade so bannte, spannender war als die Frage nach Dämonen.

Die Frage konnten sie auch wann anders besprechen und zumindest Liam für seinen Teil war gerade interessierter daran, was den Chaoten derart vereinnahmen konnte, dass er still und heimlich am Bug über ein paar Pergamenten beugte. Eine Schatzkarte vielleicht, was ihn selbst unweigerlich an das Lederpäckchen erinnerte, welches seit Milúi in seiner Seekiste um Beachtung bettelte. Aber es war auch rasch wieder vergessen, kaum dass Trevor das Thema ‚Lissa‘ aufnahm und seine Annahme richtigstellte. Stimmt, das war es gewesen. Mit Dingen sprechen, ganz ohne Beschwörung. So unheimlich interessant es auch klang, sich von Gegenständen eine weite Reise berichten zu lassen – von ihrer Herstellung über die Käufer- und Schmugglerhände, durch die sie gingen – Liam bezweifelte leider, dass da etwas dran war. Eine schöne Geschichte war es dennoch. Und sie schaffte es, die Leute zu begeistern. In seinen Augen war genau das der Sinn hinter vielerlei Legenden und Mythen. Sein Blick huschte über die Seiten, die der Jüngere festgeklemmt hatte, damit sie nicht vom Wind über alle sieben Welten verteilt wurden. Er lachte kurz auf, als Trevor fortfuhr und schüttelte angedeutet den Kopf. Er bezweifelte, dass der Brief deutlicher ‚reden‘ würde, wenn er vollgequatscht wurde.

„Ich finde, er ist sogar sehr gesprächig.“, bemerkte er in Anbetracht der Länge des Geschriebenen, ohne wirklich darin zu lesen.

Er sah auf, als der jüngere Scovell ihn dazu aufforderte, sich nicht zu bewegen und hob demonstrativ die leeren Handflächen bereitwillig ein Stück in die Höhe. Was auch immer er vor hatte – Liam war gespannt, doch der Groschen fiel auch nicht direkt, als man ihm das Problem ziemlich deutlich vor Augen hob.

„Jep.“, lautete seine einfache Antwort, auf die Frage, ob er lesen konnte.

Die Bitte, die daraufhin folgte, erinnerte ihn schließlich daran, dass Lesen nicht für jeden so selbstverständlich war wie für ihn. Das flüchtige, fragende Stirnrunzeln wandte sich in einen gut gelaunten Ausdruck. Keine Frage. Es gab keinen Grund dazu, ihm diesen Gefallen nicht zu erfüllen. Mit einem Lächeln nahm er die Zeilen entgegen, ließ sich gänzlich auf die Planken sinken und überflog die Handschrift, ehe er begann, den Brief Wort für Wort vorzulesen.
Als er geendet hatte, blieb sein Blick noch für einen Augenblick auf das Papier gesenkt, während er es in der Hand wendete und sich still fragte, was dieses mitgenommene Stück Pergament wohl bereits mitgemacht hatte. Als er bemerkte, dass sein Zeigefinger die ganze Zeit auf einem getrockneten Flecken Blut gelegen hatte, schob er ihn mit einem kurzen, angewiderten Zucken in den Mundwinkeln zur Seite, ehe er zu Trevor aufsah.

„Jetzt weiß ich, woher du deine Abenteuerlust hast.“ Ein freundliches Lächeln galt Trevor. „Wusste gar nicht, dass das bei euch offenbar in der Familie liegt. Klingt, als wären sie fern der ersten Welt unterwegs, hm?“
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#5
Trevor hing an Liams Lippen. Seine eigenen sprachen lautlos die Worte mit, die er inzwischen so oft gehört hatte, dass er sie beinahe auswendig kannte. Liam dagegen sah den Brief zum ersten Mal und wusste trotzdem ganz genau, was er sagte. All die Zeit war Trevor Lesen wie die langweiligste aller Zeitverschwendungen vorgekommen – dabei war sie pure Magie!

Die Details des Briefes kreiselten noch in seinem Kopf und er brauchte einen Herzschlag, um auf Liams Frage zu reagieren.

„Seit Generationen!“

Er strahlte, der Stolz stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er ließ das Tau fallen, mit dem er unterbewusst seine Hände beschäftigt hatte, und nahm Liam ehrfürchtig die beiden Papiere wieder ab.

„Wir sind und waren schon immer Piraten, Entdecker, halbtags Fischer und nachts Schmuggler, außer mein Großonkel zweiten Grades väterlicherseits, der hat Ziegen gezüchtet. Aber meine Tanten sagen, das war bloß Fassade, eigentlich hat er sie zu Meisterdieben ausgebildet. Ziegen sind ziemlich intelligent.“

Er hielt inne, erst, um Liam ein schiefes Grinsen zuzuwerfen und dann, weil sein Blick auf das Papier in seinen Händen gefallen war und er sich wieder daran erinnerte, dass da ein Loch in seiner Familie klaffte.

„Sie sind nicht in der ersten Welt“, bestätigte er mit einem Nicken, „aber das wusste ich vorher schon, wir haben hier jeden Stein auf dem Meeresgrund umgedreht. Und nicht in der zweiten, da ist es nämlich kalt und die Luft nicht trocken, außerdem nicht in der fünften Welt – wäre ja nicht seltsam, ein Schiff aus der fünften Welt in der fünften Welt zu finden, oder? – und vermutlich auch nicht in der vierten oder sechsten Welt, aus demselben Grund. Und auch nicht in der achten, denn dann würde Aranne bei allen acht Welten beten und nicht bei allen sieben, obwohl das auch nur Gewohnheit sein könnte, sie sagt das ziemlich oft, aber auf jeden Fall wären sie dann ja tot, aber sie sind nicht tot, denn Tote schreiben keine Briefe.“

Er holte tief Luft und sah auf seine Finger hinab. Diese Rechnung hatte er jetzt schon so oft im Kopf hin- und hergeworfen, dass er die eigentlich gar nicht mehr brauchte.

„Bleibt die dritte oder die siebte Welt.“

Er seufzte, und dieses eine Mal war die Theatralik nicht gespielt.

„Ich wette, es steht auf der zweiten Seite! Die fehlt, ist es dir aufgefallen? Wenn ich mal einen Brief schreibe, schreib ich gleich in die erste Zeile, wo ich bin. Na ja, in die zweite, in die erste gehört ja das ‚Mein lieber …‘“
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#6
Weder Gregory noch Trevor hatten je viel von ihrer Familie gesprochen, wenn er sich recht entsann. Auf der Sphinx fiel das allerdings kaum auf. Liam frage nicht. Zum einen, weil die wenigsten wirkliches Interesse an mehr hatten als oberflächlichem Geplänkel. Und zum anderen, weil er das Gefühl nicht los wurde, dass nur die wenigsten von ihnen eine Familie hatten, an die sie gerne dachten. Umso spannender war es, als Trevor ihm grob und in einem atemberaubenden Tempo seine Familiengeschichte aufführte, die alle möglichen Tätigkeiten beinhaltete. Aus irgendeinem Grund war ihm nie der Gedanke gekommen, dass Trevor aus einer richtigen Piratenfamilie stammte. Vielleicht, weil er sich eine derartige Kindheit irgendwie weniger schön vorstellte, wenn man bereits früh damit konfrontiert wurde, andere überfallen zu müssen. Aber was wusste er schon – vielleicht war Trevors Art auch eine Art Selbstschutz. Oder seine Familiengeschickte klang einfach rosiger als sie eigentlich war.

„Dann seid ihr vorher unter einem eurer Onkel gesegelt?“, fragte Liam aus reinem Interesse und aus der Hoffnung heraus, dass der dortige Captain – er hatte den Namen selbstverständlich vergessen – vielleicht mehr wusste.

Mit nachdenklich gesenktem Blick folgte er der Schlussfolgerung Trevors, die durchaus sinnig war. Bemerkenswert, wie ehrgeizig er sein konnte, wenn ihm etwas wirklich wichtig erschien. Die ein oder andere Kleinigkeit wäre mit Sicherheit nicht jedem von ihnen aufgefallen. Gedankenverloren brummte er zustimmend, als der Jüngere endete. Es war eigenartig, den Quatschkopf derart mitgenommen und ernst zu erleben. Er schien durchaus darunter zu leiden, nicht zu wissen, wo sich seine Eltern gerade herumtrieben. Liam konnte es nur zu gut nachempfinden, aber das würde er dem Dunkelhaarigen nun nicht unter die Nase binden. Stattdessen verspürte er viel mehr den Drang, ihm irgendwie dabei behilflich zu sein, seine Gedanken besser ordnen zu können – zumindest so gut, dass ihm die Sorgen nicht mehr derart auf das Gemüt drückten. Trevor hielt den Brief noch immer zwischen den Fingern. So mitgenommen, wie das Papier aussah, hatte er ihn die letzten Tage nur selten aus den Fingern gelegt. Als er fortfuhr, sah der Lockenkopf auf und lächelte ehrlich – Trevor blieb eben, wie er war. Ganz gleich, wie sehr ihn etwas beschäftigte.

„Vermutlich, ja.“, überlegte er laut, runzelte aber die Stirn, als ihm eine Passage wieder in den Sinn kam. „Oder aber es wäre zu gefährlich gewesen, es in einen Brief zu schreiben. Für den Fall, dass er abgefangen wird. Deine Mutter schrieb doch, es sei ihr verboten, mehr zu schreiben?“

Mit einer Handbewegung deutete er erneut auf die zwei mitgenommenen Seiten Pergament in seinen Fingern.

„Es gibt sicherlich noch mehrere Hinweise auf diesen zwei Seiten. Sie mussten sich wieder ihrer Aufgabe widmen – weißt du, welche Aufgabe sie gerade haben? Oder die Pflanzen. Nicht jede Pflanze kann mit ihrer Wirkung Leben retten. Wenn man also wüsste, inwiefern… ließe sich daraus vielleicht auch enger eingrenzen, ob nun die dritte oder die siebte Welt infrage käme.“

In erster Linie dachte Liam laut und versuchte währenddessen, die Informationen ranzuholen, die ihm fehlten. Es gab genügend Bücher über die verschiedenen Welten, über die Flora und Fauna, die Kultur. Aber selbst, wenn sie es auf eine der beiden Welten eingrenzen konnten, waren die Welten selbst noch viel zu groß, um wirklich ein Schiff, eine Person zu finden.

„Willst du nur wissen, wo sie sich herumtreiben oder willst du sie finden?“

Liam sah auf. Trevor war nicht so einfach zu lesen wie andere Menschen. Liam gab sich immer damit zufrieden, zu wissen, dass sein Vater noch lebte, ohne wirklich nach Anhaltspunkten zu suchen, wo er sich gerade herumtrieb. Trevors Bemühungen gingen tiefer.
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#7
Trevor stieß ein prustendes Lachen aus. „'Onkel Ellhan', ja genau!“ Er schüttelte den Kopf, aber das Grinsen in seinem Gesicht reichte von einem Ohr zum anderen.

„Das muss ich ihm erzählen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Obwohl, eigentlich ist es gar nicht so weit daneben.“

Er löste die linke Hand vom Brief und schob den rechten Hemdsärmel hoch, bis Liam die Sanduhr-Tätowierung erkennen konnte.

„Wäre dann ein adoptierter Onkel. Oder ein adoptierender Onkel? Familie ist immer chaotisch, was.“

Er grinste schief und zuckte mit den Achseln. Der Brief drehte sich trotzdem unruhig in seinen Händen.

„Abgefangen?“ Der Brief hielt inne. Trevors Augen wurden groß. „Oh. Vielleicht ist das passiert.“ Sein Herz sackte tiefer. Der Gedanke war ihm noch nie so wirklich gekommen. Dass Briefe verloren gingen, ja, das passierte. Oder dass man monatelang niemanden traf, der sich als Postbote anbot, auch möglich. Oder dass man von einem Seeungeheuer verschluckt wurde und Papier unweigerlich etwas schwer leserlich auf der anderen Seite wieder herauskam, definitiv vorstellbar. Aber dass jemand gezielt Arannes Briefe an ihr einziges Kind abfing? Wow. Was auch immer sie für eine Aufgabe hatte, es musste spektakulär sein! Und es wurmte Trevor unglaublich, dass der Brief nicht mehr ausspucken wollte.

Er schüttelte energisch den Kopf. „Ich weiß nichts von einer Aufgabe. Sie kommt jedenfalls nicht von den Tarlenn, Ellhan wusste –“ Er stoppte, zögerte und verbesserte sich: „Ellhan hat nichts von einer Aufgabe gesagt, und ich hab ihn bestimmt zweitausend Mal gefragt. Und Heilpflanzen, die sind eher Gregs Spezialgebiet, aber … “

Er dachte kurz nach, dann hellte sich sein Blick auf.

„Na ja, das einzige, was wir wissen, ist, dass sie gestrandet sind und es heiß und trocken ist. Was überhaupt nicht zusammenpasst, aber egal. Ich wurde mal auf einer Insel ausge– vergessen, mein ich, für ein paar Tage, und Kokosnüssen sind klasse, aber die können dich nicht verletzen, es sei denn, sie fallen dir auf den Kopf und das passiert dir in der Regel nur ein Mal. Vielleicht sind es spezielle Kokosnüsse. Stachlige. Klebrige. Bissige?“

Er hatte angefangen, mit den Händen zu gestikulieren und Kokosnüsse in allen möglichen furchterregenden Formen in die Luft zu malen. Der Brief flatterte im Wind. Als es ihm auffiel, lies Trevor die Arme abrupt fallen.

„Sie finden natürlich!“, sagte er voller Inbrunst. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er sich dessen zum ersten Mal völlig sicher war. Bisher war es eine vage Jagd gewesen, immer in der unterbewussten Sorge, dass Aranne und Daniel am Ende nicht mehr am Leben waren, untergegangen, von einem Seeungeheuer verschluckt oder schlicht vor der Vorstellung geflohen, Trevor mit auf ihr Schiff zu nehmen. Aber es war alles ganz anders!

„Ich mein–“

Aufgeregt deutete auf die Stelle im Brief, von der er vermutete, dass dort von Abenteuern und einzigartigen Menschen und Tieren die Rede war und wie sehr Aranne sich wünschte, dass er das alles mit eigenen Augen sehen könnte.

„– würdest du deine Familie nicht finden wollen?!“
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#8
Seine Fehleinschätzung nahm Liam definitiv mit Humor – sie war ohnehin alsbald vergessen, als Trevor ihm etwas offenbarte, was ihm vermutlich längst hätte klar sein sollen. Wäre er aufmerksamer gewesen. Oder hätte er sich viel aus den Familienverhältnissen anderer – insbesondere der Adligen – gemacht. Und trotzdem erschloss sich ihm nun einiges, worüber er vorher einfach gar nicht nachgedacht hatte. Vermutlich hatte Gregory häufiger irgendetwas erwähnt gehabt, was ihn ebenfalls zu diesem Schluss hätte kommen lassen. Er hatte es bloß nie hinterfragt. Trevor und Gregory schienen allerdings damit ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass nicht jeder, der blaues Blut hatte, zwangsläufig in teurer Kleidung irgendwo um Macht ringen musste. Manche jagten auch ihren Träumen nach und taten, was sie glücklich machte, statt eine Rolle zu erfüllen, in die sie nicht hineinwachsen wollten.

„Hmm.“, überlegte er hörbar, wie er dem Jüngeren weiter helfen konnte, eine Antwort – oder zumindest eine hilfreiche Vermutung – zu finden, die ihn weiterbrachte. „Was war sonst ihre Aufgabe? Was haben sie sonst getan? Sind sie viel herumgekommen?“

Vielleicht half ihnen das, gewisse Inseln oder gar Welten auszuschließen? Sie waren an einem Ort, den sie zuvor scheinbar noch nie besucht hatten. Das grenzte das mögliche Suchgebiet immerhin etwas ein. Wobei sie – vermutlich – nicht sesshaft waren. Und Liam wusste, wie schwer es war, einen Reisenden zu finden – schier unmöglich. Aber genau das schien tatsächlich Trevors Ziel zu sein. Liam überraschte die Inbrunst und Überzeugung, mit der Trevor ihm antwortete. Nicht, weil Trevor irgendwie dafür bekannt gewesen wäre, eher rational und kontrolliert zu sein, im Gegenteil. Sondern weil er dieser Sache so sicher war, dass Liam sich in seiner Haut fast schon schuldig fühlte. Er schluckte, sein Blick sank kurz zu Boden, ehe ihm der Jüngere eine Frage stellte, so selbstverständlich, dass es die Schuld noch einen Zentimeter tiefer in ihn trieb.

„Naja…“, war das erste, was er herausbrachte. Nicht abwertend, eher unschlüssig, ausweichend. „Ich habe meinen Vater gut acht Jahre nicht gesehen. Von seinen Abenteuern erfahre ich meist aus seinen Büchern. Wenn ich eines in die Hände bekomme, jedenfalls. Ich bin es also… gewohnt, wenn du so willst.“

Liam lächelte, zufrieden tatsächlich, obwohl im erst dadurch, dass er es aussprach, bewusst wurde, wie lange er Noah schon nicht mehr gesehen hatte. Aber sie folgten beide ihren Herzen und reisten dorthin, wo es sie hinzog. Ob sich ihre Wege irgendwann wieder kreuzen würden, würde lediglich die Zeit irgendwann zeigen.

„Ah, gar nicht wahr. Meine Großmutter hält uns soweit auf dem Laufenden, wenn wir längere Zeit an einem Ort sind. Lange genug jedenfalls, um einen Brief zu schreiben und eine Antwort vom anderen Ende der ersten Welt zu erhalten.“

Trevor konnte sich vermutlich selbst ausmalen, wie oft das – zumindest bei Liam – der Fall war.
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#9
Trevor und blaublütig – ha! Zum Glück sprach Liam nichts von seinen Überlegungen laut aus. Trevor wäre zutiefst gekränkt – nein, Moment, gar nicht wahr. Erst würde er sich halbtot lachen, dann wäre er beleidigt und schließlich würde er für mindestens eine Woche immer den Adligen mimen, wenn Liam in der Nähe war. So aber war das einzig Vornehme an ihm, dass er gesittet die Arme samt Brief auf die Knie bette, den Kopf schieflegte und Liam tatsächlich zuhörte.

„Wow.“

Fast ein bisschen enttäuscht sah er auf seine zwei zerknitterten Blätter hinunter. Liam bekam ganze Bücher von seinem Vater. Andererseits: Aranne und Bücher schreiben. Trevor und Bücher lesen! Aber für Liam war es bestimmt toll. Und vielleicht –

„Sind da Bilder in den Büchern? Hast du welche da? Was sind das überhaupt für Abenteuer? Warum bist du nicht bei ihm? Kann er nicht mit uns mithalten, ha, wir haben ein Marineschiff gesprengt! Es sei denn, war er mal in der dritten oder oder siebten Welt? Oh –“

Er hielt inne, bevor er mit der Nasenspitze in Liams Gesicht landete. Zeit, seinen Kopf und Liams Fragen ein bisschen zu sortieren.

„Aranne und Daniel haben die ganze erste Welt drei Mal gesehen und so viel mehr von der zweiten als ich. Aranne hat erzählt, sie hätte mal gegen ein ganzes Schiff voller riesiger weißer Bären gekämpft! Oder gegen einen Bären mit mehreren Schiffen. Oder beides? Jedenfalls, manchmal erledigen sie was für die Tarlenn – Überfahrten, Übergaben, Überfälle, du kennst das ja –, aber in ihrer Freizeit legen sie einfach den … „Schatzsucher“-Begriff sehr großzügig aus.“

Er grinste, weil er das an dieser Stelle immer tat, aber seine Gedanken waren bereits weiter gewandert. Zu den Briefen, aus denen er all das wusste, mit denen er die Wände seines Kinderzimmers tapezierte hatte, und auf die jetzt langsam der Staub sank.

„Bei mir sind es fünf. Fünf Jahre ohne Kontakt jedenfalls, ich zähl gar nicht, wann ich sie zuletzt gesehen habe. Sie waren eigentlich mein ganzes Leben auf See – mit Unterbrechungen. Zu meinem Geburtstag sind sie immer gekommen. Oder zu Gregs. Oder um besagte Schätze zu verkaufen. Oder einfach so, und das hat alles wett gemacht.“

Jetzt leuchtete sein Gesicht doch wieder.

„Außerdem hatte ich natürlich immer die andere Hälfte meiner Familie. Bist du bei deiner Großmutter aufgewachsen? Oh – weißt du wo sie gerade ist, wo kommst du her? Wir könnten ihr und deinem Vater schreiben! Na ja, du schreibst ihnen und ich schreib meiner Familie.“ Er hielt inne. „Oder, äh, du schreibst beiden. Aber vielleicht kann ich einen Postboten organisieren, selbst wenn wir nicht lange am nächsten Ort bleiben. Tarlennfinger reichen ein klein wenig weiter.“

Ihm selbst war es relativ egal, ob er eine Antwort bekam oder nicht – obwohl er zugeben musste, dass Briefe bekommen grandios war und er am liebsten ein ganzes Meer von ihnen hätte, in dem er baden konnte. Aber in erster Linie wollte, musste er Felicita und Tonda alles erzählen, was er wusste. Er war schließlich nicht wie Greg.
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#10
Die wenigsten auf der Sphinx schienen eine Vergangenheit zu haben, über die sie gerne sprachen. Liam hatte recht früh aufgehört, zu fragen. Ganz gleich, wie gut oder schlecht er mit seinem Gegenüber auskam. Manchmal ergaben sich die Dinge dann von alleine, so wie es gerade der Fall war. Warum Trevor trotz seiner Wissbegier nie danach gefragt hatte, was hinter ihm lag, konnte der Lockenkopf nur raten. Vielleicht, weil er es ähnlich handhabte wie er selbst. Vielleicht aber auch einfach, weil er mit sich und seiner eigenen kleinen Welt viel zu sehr beschäftigt war, als dass da Platz für die Welten anderer gewesen wäre. Jetzt gerade allerdings überschnitten sich ihre Welten. Das schien Grund genug dafür zu sein, dass die Fragen jetzt förmlich aus dem Jüngeren heraussprudelten, während er ihm im Gegenzug genauso Frage und Antwort stand. Liam nahm diesen Umstand positiv zur Kenntnis. Er kam zwar damit klar, nicht viel über die zu wissen, mit denen er sich umgab – Wohl fühlte er sich dabei allerdings nur selten. Und diese kleinen zwischenmenschlichen Geschichten waren es, die ihn immer wieder daran erinnerten, dass der Begriff ‚Piraten‘ ziemlich weit dehnbar war. Oder er einfach nur pures Glück gehabt hatte, an jenem Abend Talin und den anderen über den Weg gelaufen zu sein. Trevors Geschichte über das Schiff mit den weißen Bären klang zwar ziemlich fantastisch, doch Liam lächelte neugierig beim Zuhören. Wer wusste schon, was wirklich dran war und was lediglich dem wirren Kopf des Braunhaarigen entsprang – er kannte die übrigen Welten nicht, war sich aber ziemlich sicher, dass da mehr war als das, was sie aus der ersten Welt kannten. Und wenn seine Eltern wirklich im Auftrag der Tarlenn unterwegs waren, hatten sie so viel mehr Möglichkeiten, als Liam je gehabt hatte. Oder als die Sphinx gerade hatte.

„Für die Tarlenn kommt man also ziemlich rum, hm?“, spielte er nicht nur auf das an, was Aranne scheinbar schon gesehen hatte, sondern auch darauf, dass Trevor vermutlich bereits mehr von der zweiten Welt gesehen hatte als jeder andere von ihnen auf der Sphinx. „Und trotzdem seid ihr übergewechselt?“

Es lag keine Wertung in seiner Stimme, doch einen nachdenklichen Unterton konnte er sich nicht verkneifen. Die Tarlenn hatten höchst wahrscheinlich auch weniger Ärger mit dem, was ihnen derzeit hinterherjagte. Ein namenloses Schiff, rote Segel – es gab keinen Grund, weshalb man nicht Jagd auf sie machen sollte. Immerhin wirkten sie wie leichte Beute. Sonst hätten sie sich ja viel früher einen ruhmreichen Namen gemacht.

„Ich hab‘ welche da, ja. Und in manchen sind auch Bilder.“, lächelte er dann auf Trevors Fragen hin.

Ein Teil davon waren Kinderbücher, Bilderbücher, mit denen sicherlich auch Trevor etwas anfangen konnte. Einfach, wenn man gerade erst anfing, zu lesen. Liam hatte kein Problem damit, zu teilen, was er hatte.

„Wir sind im Grunde immer dem Zufall hinterher. Mal sind wir mit Händlern gesegelt, mal mit Schatzsuchern, mal mit Überseefischern oder Gelehrten. Ich weiß nicht, wonach mein Vater unsere Mitfahrgelegenheiten ausgesucht hat. Später jedenfalls sind wir einfach unseren Herzen gefolgt und haben eben das erstbeste Schiff genommen, dass in die Richtung unseres Ziels fuhr. Und von den Erlebnissen mit diesen Crews erzählen die Bücher meines Vaters. Ein Marineschiff haben wir in der Zeit, in der wir zusammen unterwegs waren, allerdings nicht gesprengt.“

Hier und da etwas ausgeschmückt, aber so war es in der Literatur nun einmal. Nicht jeder Tag war ein Abenteuer. Und manche Abenteuer lebten erst davon, dass man sie wiedergab. Farbenfroher, spannender, verwobener.

„Das weiß ich nicht.“, antwortete er schließlich auf die Frage, ob sein Vater je in der dritten oder siebten Welt gewesen war. „Er hatte in den letzten acht Jahren viel Zeit, um Dinge zu erleben, die er mir nun voraus ist.“

Liam lächelte warm, als Trevor ihm versicherte, dass er unter der Abwesenheit dieses Familienteils nicht groß gelitten hatte. Vermutlich hätte er sich ebenso wie der Jüngere jedes Mal über all die Geschichten gefreut, die seine Eltern mit nach Hause brachten, dass kein Platz für Enttäuschung gewesen wäre.

„Und die Tarlenn wussten in den vergangenen fünf Jahren auch nichts über ihren Aufenthaltsort? Wenn sie in ihrem Auftrag unterwegs sind, müsste man doch erfragen können, wohin.“ Nur ein flüchtiger Gedanke, der ihm in den Sinn kam, ehe er Trevors Vermutung über seine Kindheit mit einem Kopfschütteln begegnete. „Nein. Nach dem Tod meiner Mutter haben mein Vater und ich Yvenes verlassen. Meine Großmutter wohnt noch immer dort.“

Sein darauffolgender Vorschlag klang dafür gar nicht mal so schlecht. Während des Straßenfests auf Milúi hatte er anderes im Sinn gehabt als Briefeschreiben. Zu erzählen hatte er allerdings genügend. Noch wichtiger, als seiner eigenen Familie zu schreiben, war ihm allerdings die indirekte Bitte Trevors. Liams Lächeln wuchs ein wenig, ehe er entschlossen nickte.

„Das können wir gerne machen. Lass uns mit deiner Familie anfangen. Die hat vermutlich länger nichts von dir gehört als meine Großmutter von mir. Lass mich nur eben ein bisschen Pergament holen. So lange kannst du ja schon mal überlegen, wo du anfangen willst.“

Liam war sich sicher, dass das hier ein längeres Unterfangen werden würde. Aber das war okay, denn er konnte sich allein anhand des Strahlens auf Trevors Zügen vorstellen, wie wichtig es ihm sein musste, endlich einen Weg gefunden zu haben, sich bei seiner Familie zu melden. Wenn es sein musste, würden sie eben bis morgen hier sitzen, seine Gedanken ordnen und letztlich zu einem hoffentlich verständlichen Brief zusammenfügen, den sie im nächsten Hafen an die Tarlenn übergeben konnten. So war zumindest gesichert, dass das, was sie gleich schreiben würden, nicht in die falschen Hände geriet. Liam verschwand nach unten und musste nicht lange suchen, bis er Tinte, einen Federkiel und leeres Pergament aus seiner Truhe gefischt hatte. Dann kehrte er nach oben zurück, um sich wieder neben Trevor auf den Planken niederzulassen.
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