26.06.2018, 23:21
Das konnte einfach nicht sein. Den Rotschopf, der er tatsächlich meinte vor sich stehen zu sehen, verharrte wahrscheinlich in irgendeiner Schreinerei und würde dort bis zu seinem schnellen Lebensende bleiben. Oder – und dies war die wahrscheinlichere Variante für den damals jungen Freigeistes – er lebte von Tag zu Tag und von Fest zu Fest, um sich über Wasser zu halten. So wie dieser Kerl hier. Hatten sie ihn nicht eben noch von einem Marineschiff gerettet? Wieso war er dort gewesen? Wenn er wegen Diebstahl verhaftet wurde, würde er doch hier nicht damit prahlen?
Aspen war so sehr in seine Überlegungen versunken, dass ihm das Starren weder auffiel, noch unangenehm werden konnte. Die Zeit strich sowieso gefühlt zu schnell vorbei, während er versuchte weitere Hinweise zu finden: Zum Beispiel wie der Rotschopf sich die Strähne hinter das Ohr strich... Wurde er nervös? Doch es war viel zu lange her und der Montrose hielt es tatsächlich für sehr unwahrscheinlich, dass kleine mutige Freund noch am leben war, geschweige denn ihren damaligen Freiheitstraum verwirklicht hatte.
Er müsste sich irren. Wahrscheinlich war der seltsame Mann ihm einfach nur bei einem schlechten Pokerspiel aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Es wäre viel zu viel Zufall, wenn Aspen in seiner jetzigen Lebenslage... Was?! Zuerst irritiert spannte sich der breite Oberkörper an, der Montrose ging das Gesagte noch einmal durch, bevor ein verschmitztes Lächeln seine Lippen teilte. Das konnte nicht sein! Und wäre er nicht Aspen gewesen, wäre er wahrscheinlich wie damals als Zwölfjähriger hoch und Farley in den Arm gesprungen! Nur heute... Vertraute er seinem eigenem Urteil noch immer nicht ganz, als würde der Bart und die Größe ihn vollkommen abschrecken.
Bildete er sich das alles nur ein...? Es war bereits spät, er war bis jetzt sehr genervt und vielleicht war die Würgeschlange doch mit etwas Gift ausgestattet gewesen. Doch... Nein. Bisher lag er mit seinem Urteil beinahe immer richtig. Wieso sollte er heute Abend nicht darauf vertrauen, wenn der kleine Junge aus seinen Erinnerungen dem hochgewachsenem Mann doch so ähnlich sah?
Auch wenn sich das Grinsen nicht aus seinem Gesicht verbannen ließ, versuchte er dennoch seine überschwängliche Wiedersehensfreude zu zügeln. Zum Einen konnte er nicht sagen, dass Farley ihn auf den Arm nahm mit langsam gestreuten Hinweisen wie ihrer Heimatinsel. Zum Anderen waren so viele Jahre vergangen, dass ein kleiner Teil in ihm sich davor fürchtete, dass die wohligen Erinnerungen durch neue, von Ablehnung geprägten, ausgetauscht werden könnten. Die Müdigkeit schien verflogen.
„Klingt ziemlich sympathisch, dieser Typ.“, brummte er mit einem Schritt nach vorne, von der Reling fort, während er die Arme aus ihrer Verschränkung löste. „Hast von ihm wohl kaum gelernt, wie du dich am besten vor der Marine versteckst?“
Nunja, dabei war es ja eigentlich immer der Rotschopf gewesen, der ihnen die Tricks des unauffälligen Überlebens beibrachte. Dass später er gefasst werden würde, hätte niemand geahnt.