25.06.2018, 00:34
E I N S T I E G
Elian hatte das Zeitgefühl nahezu vollständig verloren. Wie viele Stunden hatte er nun hinter einem Holzstapel gekauert, sein Hab und Gut an sich gepresst, damit sie unter der Plane möglichst wenig auffielen? Kaum eine Menschenseele hatte die winzige Seitengasse in Stunden seit Sonnenaufgang betreten. Der Flüchtling machte sich keine Illusionen - es war nur diesem Umstand zu verdanken, dass ihn noch keine der zahlreichen Patrouillen entdeckt hatte.
Es war ein Fehler, gestern Abend auf das Fest zu gehen, gestand er sich zähneknirschend ein. Aber auch er musste ab und an etwas essen, und auch wenn er seit seiner Trennung von Kell auf ein trockenes Schlaflager hatte verzichten können (es war erstaunlich, wozu er in der Lage war, seit er es MUSSTE), ganz der Nahrung zu entsagen war mit dem Leben leider auf Dauer nicht vereinbar. Es war ein Risiko. Vor allem, dass ich danach noch geblieben bin, um mit den Musikern zusammen zu spielen. Was hab' ich mir nur gedacht? Einsamkeit und Kälte ist keine Entschuldigung für Idiotie! Klar, sie waren nett gewesen. Die Musik war wundervoll gewesen, er hatte ganz vergessen gehabt, wie sehr er es vermisste, mit anderen gemeinsam zu spielen. Und sie hatten Essen für ihn gehabt. Aber dann waren - wie auch sonst - Wachen um die Ecke gekommen. Beinahe wäre es zu spät für seinen taktischen Rückzug gewesen, wenn er nicht zufällig über diese Seitengasse, über diesen Holzstapel gestolpert wäre... Das wär's dann gewesen mit Elian Montrose.
Ich muss aufhören, in dieser Stadt beinahe aufzufliegen. Musik funktioniert offensichtlich nicht als unauffälliger Nebenverdienst. Zu auffällig, und es dauert jedes Mal zu lange, meine Geige wieder einzupacken, sobald sich die Wachen nähern. Ich brauche etwas, das weniger riskant ist. Und stiller... Vielleicht sollte ich mich auf's Beutel schneiden verlegen. Weil man dazu ja keine Übung braucht. Oder einfach direkt Essen klauen.
Aber... wollte er das? War er wirklich schon so tief gesunken, dass er seine Prinzipien für ein paar Brocken Brot über Bord warf? Nein. Noch lange nicht.
Solche und ähnliche Selbstgespräche führte er bereits seit Stunden. Hauptsächlich galten sie dem lächerlichen Versuch, ihn von den Schmerzen in seinen Gliedern abzulenken. Die stundenlange Unbeweglichkeit forderte allmählich ihren Tribut. Kaum war Elian jedoch bei seinem heroischen Entschluss, weiterhin darauf zu verzichten, Diebstahl auf die Liste seiner Verbrechen direkt hinter Desertation zu schreiben, angekommen, da wurde er rüde aus seiner Selbstreflexion gerissen.
Rhythmische Schritte vom hinteren Bereich der Gasse kündeten Soldaten an, mindestens zwei, die (vermutlich auf ihrer Patrouille) in seine Richtung marschierten. Elian lugte vorsichtig durch den Spalt zwischen Plane und Holzstapel, und bemerkte, dass die beiden Uniformträger damit beschäftigt waren, einige leere Fässer am anderen Ende der Gasse zu untersuchen. Lange würden sie damit zweifelsohne nicht mehr brauchen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf die mannsgroße Beule unter der Holzstapel-Plane aufmerksam wurden. Zeit, sich zu verdünnisieren.
Montrose massierte zwei, drei Mal so kräftig er konnte seine Oberschenkel, dann griff er sich seine Habseligkeiten und glitt so unhörbar es ihm möglich war aus dem Versteck. Anschließend machte er einige flinke, leise Schritte in Richtung des Marktplatzes und konnte sein Glück kaum fassen - er war bereits am Rand der Menschenmenge, als er hinter sich ein: "Hey, du da, warte mal..." hörte. Ohne sich umzublicken, schob er sich in das festliche Gedränge und sah sich dabei permanent nach einem neuen Versteck oder einer Fluchtmöglichkeit um.
Er hatte mehr Glück als Verstand, denn die Truppe von Schaustellern, die er nur wenige Schritte weiter entdeckte, gehörten zu Kell. Kell, mit dem er vor ein paar Tagen schon Bekanntschaft gemacht hatte und der womöglich bereit sein würde, Elian zumindest für ein paar Minuten Deckung vor den Wachen zu verschaffen.
Erst als er beinahe vor der Schaustellergruppe angekommen war, wagte Elian einen schnellen Schulterblick. Er konnte die Wachen sehen, aber nicht sicher erkennen, ob sie ihm mit ihren Augen folgten oder nur ratlos am Rand des Festplatzes herum standen. So oder so hatte er keine Lust, hier Maulaffen feil zu halten, bis die Häscher seiner gewahr wurden oder ihre Zögerlichkeit überwanden! Also nichts wie weiter, Kell finden! Hoffentlich würde der sich noch an Elian erinnern, und hoffentlich würde er außerdem willig sein, ihm auszuhelfen. Dieses eine Mal nur... Ausnahmsweise...
[Seitengasse, dann in Sichtweite von Aspen und Farley auf dem Marktplatz | Alleine, unterwegs zu Kell]