24.06.2018, 23:05
Die letzten Tage waren in seinen Augen recht erfolgreich gewesen. Er hatte vieles von dem, was er die Zeit an Board über gefertigt hatte, unter die Leute bringen können. Einige angefangene Werke hatte er beendet, Armbänder gefertigt und schließlich auf dem Markt einfache Portraits gegen Bezahlung angeboten. Seit das Frühlingsfest begonnen hatte, waren die Leute offener geworden und schienen lieber mal ein wenig Geld auszugeben. Am ersten Abend des Festes war er irgendwie in eine Gruppe Straßenmusiker geraten, die ihm nach einer kurzen Kostprobe seiner Künste mit der Klampfe fast wie einen alten Freund in ihre Gruppe aufgenommen hatten. Mit ihnen und den Menschen hatten sie bis ins Morgengrauen gefeiert und auch die Abende darauf hatte man ihn mit dazu geholt und die Erträge geteilt. Der Lockenkopf hatte festgestellt, wie sehr ihm die Musik fehlte. Das letzte Instrument, was er gehabt hatte, hatte er an einen kleinen, seiner Meinung nach begabten Jungen gegeben, dessen Familie sich nie im Leben selbst eines hätte leisten können. Seitdem hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, zu spielen. Umso mehr genoss er die Abende dieser Feste und feierte, spielte und tanzte, als gäbe es keinen Morgen mehr.
An diesem Vormittag hatte er die restlichen Sachen, die er an Board gehabt hatte, in seinem Seesack aus Leinentuch zusammengepackt. Er war zuversichtlich, auch das heute noch zu Geld machen zu können, hatte es aber nicht wirklich eilig. Die Stadt schien sich noch ein wenig vom letzten Abend zu erholen, doch die Besitzer der kleineren Läden waren bereits munter – mussten sie auch, wenn sie über die Runden kommen wollten. Liam schlenderte also gemütlich durch die Gassen und blieb schließlich an einem Laden stehen, der Obst und Gemüse anbot. Sein Blick flog über die reichliche Auslage, als ein Gespräch in seiner Nähe seine Aufmerksamkeit erhaschte. Es ging – wie so oft – um die Morgenwind und kaum war das Wort ‚verschollen‘ gefallen, überkam den Dunkelhaarigen ein schlechtes Gewissen. Die Frau, die gesprochen hatte, war noch nicht sonderlich alt, vielleicht sein Alter, und an ihrem Kleid hing ein kleines Mädchen mit verquollenen, verweinten Augen. Vermutlich, weil Tag für Tag die Hoffnung starb, ihren Vater jemals wieder zu Gesicht zu bekommen. Er biss sich auf die Lippen, ehe er den geschulterten Sack auf den Boden gleiten ließ und sich daneben kniete. Er brauchte nicht lange suchen, bis er ein kleines, dünnes Buch herauszog. Es hatte einen selbstgegerbten Einband und ein kleiner Bär war auf dem Deckel zu erkennen. Er nahm den Sack wieder hoch, überbrückte die letzte Distanz und ging neben dem kleinen Mädchen wieder in die Knie. Das Kind drückte sich überrascht dichter an ihre Mutter, versteckte sich leicht hinter ihr, doch Liam schenkte ihr ein warmes Lächeln und hielt ihr das Büchlein entgegen.
„Das ist für dich, nimm ruhig.“
Vermutlich hatte die Überraschung ihr die Sprache verschlagen. Ein wenig irritiert nahm sie das Buch entgegen und besah sich den kleinen Bären auf dem Bild. Ein trauriges, aber dankbares Lächeln lag auf den Zügen der Mutter, als sie ihm leise dankte. Liam erwiderte nichts, lächelte bloß und wandte sich schließlich ab, um seinen Weg fortzusetzen. Er war sich sicher, dass die Geschichte des verlorenen Teddys, der nach langem, abenteuerlichem Heimweg wieder den Weg zurück zu seinem Besitzer fand, bei ihr gut aufgehoben war.
Am Ende der Gasse erkannte er ein bekanntes Gesicht. Der schuldbewusste, mitfühlende Ausdruck auf seinen Zügen verschwand wieder – wenn auch nicht ganz – als er Ryan kurz bei dem beobachtete, was er tat.
„Und, bist du erfolgreich, Meisterbarde?“
Ihn an Ort und Stelle als Dieb zu entlarven, war dann auch in Liams Augen eine dumme Idee.