23.06.2018, 12:47
Wieder entlockte ihre Antwort ihm ein kleines Lächeln, weil sie seine eigenen Worte aufgriff. Doch dieses Mal war es nur ein Schatten des Lächelns von gerade eben. Denn die Nervosität, die innere Anspannung behielt ihn fest im Griff. Er folgte ihrer Geste nicht, löste den Blick nicht von ihren Zügen und wartete darauf, dass etwas passierte. Dass einer von ihnen plötzlich den Mut fand, etwas zu tun. Sie oder er. Das Warten wurde zur Qual, die sich wie eine eiserne Faust um sein schnell schlagendes Herz schloss. Ein schmerzhafter Druck in seiner Brust, der ihm das Atmen schwer machte.
Ein Schweigen bildete sich zwischen ihnen, denn er antwortete nicht mehr. Es fühlte sich nicht peinlich an, zumindest nicht für ihn. Also war es nicht wirklich das, wovor er sich gefürchtet hatte, sondern nur die unsichere Stille vor dem Moment, in dem man wusste, was man tun sollte. Bevor man nach vorn stolperte und die Zeit beschloss, ihren Fluss wieder aufzunehmen. Aber es wurde schwerer, drückender mit jedem Herzschlag, den es andauerte.
Talins Blick kehrte zu ihm zurück, wanderte ein zweites Mal über seinen Körper. Er ließ ihre Musterung schweigend über sich ergehen, wie gerade eben schon, während er jede Regung auf ihrem Gesicht beobachtete, jede Reaktion auf das, was sie sah. Ob sie ihn erkannte?
Und dann endlich passierte es. Die Blase platzte. Sie setzte sich in Bewegung... einen Herzschlag lang schwang ein Zögern darin mit, ehe sie plötzlich immer schneller näher kam. Lucien reagierte instinktiv. Wie er es immer tat, immer getan hatte, wenn seine kleine Schwester auf ihn zu gerannt kam, um sich von ihm auffangen zu lassen. Der Ausdruck in seinen Augen wurde wärmer, weicher und kurz bevor sie ihn schließlich erreichte, spannten sich die Muskeln in seinem Körper, um sie halten zu können.
Sie fiel ihm um den Hals und er zog sie an sich, ohne den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. Der Druck auf seine Brust verschwand, wurde von ihrer Wärme ersetzt, die sich über ihn legte, sein Herz schneller schlagen ließ und die Zweifel vertrieb, die Erinnerung, die Schatten. Er lehnte das Gesicht in ihr Haar, atmete ihren vertrauten Duft ein und grub die Finger in ihre goldenen Locken. Als könnte er sie ihm nächsten Moment wieder verlieren, als könnte sie Einbildung sein, ein Trugschluss seines Verstandes.
Was auch immer er vor diesem Augenblick gedacht oder empfunden hatte – es existierte nicht mehr. Nichts auf dieser Welt spielte noch irgendeine Rolle. Alles was zählte war, dass er sie wieder hatte. Jetzt und hier.