21.06.2018, 20:40
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so viele Menschen gesehen, wie in dem Moment, als sie von Bord des Schiffes gegangen war, welches sie in die Freiheit gefahren hatte. Nun saß sie, ein paar Tage nach ihrer Ankunft, an eine Hauswand gelehnt da, mit angezogenen Beinen starrte sie vor sich hin hinaus auf das Wasser im Hafen, während die Menschen unbeachtet an ihr vorbei zogen. Ihr Magen knurrte laut und sie zog die Beine noch ein wenig enger, damit sie die Leere in ihrem Magen vertreiben konnte.
Es war nicht so, dass Talin keinen Platz gehabt hätte, zu dem sie gehen konnte. Erst vor ein paar Stunden, war eine etwas beleibte, gut gekleidete Frau am Hafen entlang spaziert auf dem Weg zum Markt. Mit der festen Überzeugung gut genug zu sein, hatte die Blonde die Börse der Dunkelhäutigen entwenden wollen . Doch gerade als sie hatte zugreifen wollen, wandte die andere sich blitzschnell um und ergriff ihr Handgelenk. Bei der plötzlichen Berührung, war das Mädchen panisch zusammen gezuckt. Ihr entwich ein leises Wimmern und sie wollte sich aus dem eisernen Griff befreien, der sie schmerzhaft umfasst hielt. „Ach, du Schreck. Alles in Ordnung mit dir, juje?“ Verwirrt schaute sie hoch in das Gesicht ihres eigentlichen Opfers. Die Frau wiederum hatte sie besorgt angesehen, als würden sie sich schon ewig kennen. Kurz darauf hatte sie Talin auch schon losgelassen und bei den Schultern gepackt. In dem Moment war der Blonden ein eisiger Schauer über den Rücken gelaufen, aus Angst, dass die Marine sie gleich fangen und wegsperren würde und sie wehrte sich heftig. Doch die Frau blieb ruhig, packte sie am Kinn und musterte ihr Gesicht, bevor sie missbilligend mit der Zunge schnalzte. Das Mädchen konnte sich denken, was die andere sah. Ein abgemergeltes Gesicht mit langsam verblassenden Flecken und ein Mädchen in ihr viel zu großen Sachen. Doch statt etwas zu ihrer Aufmachung zu sagen, lächelte die ältere nur nett. Sie lächelte, verdammt noch mal? Talin hatte sie ausrauben wollen, um sich essen zu kaufen und jetzt lächelte die Frau sie an? Da war doch irgendwas nicht ganz in Ordnung. „Wenn du keinen Ort hast, an den du gehen kannst, komm zum Hafen. Das Haus mit der leuchtend roten Tür. Dort findest du Hilfe, juje.“
Talin stand noch ganz erstarrt da, als die Hände von ihren Schultern verschwand. Kurz darauf hatte sie die Beine in die Hand genommen und war schnellstmöglich verschwunden, bevor die komische Frau doch noch Wachen rufen konnte.
Aus reiner Neugierde war sie zu dem Haus mit der roten Tür gegangen und hatte das Treiben dort beobachtete. Und wie sich herausstellte, handelte es sich um ein verdammtes Hurenhaus! Nie und nimmer würde sie da hinein gehen! Niemals, egal wie dreckig es ihr ging.
Mit einem Schnauben hatte sie sich wieder abgewandt und hatte die restliche Zeit in der Nähe der Docks verbracht, um nachdenklich aufs Meer hinaus zu starren. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, suchten Möglichkeiten, wie sie weiter vorgehen sollte, aber ihr Hunger lenkte sie ab. Es war schon lustig, wie ihr Magen immer wieder nach Essen schrie, aber am Ende rebellierte und sie alles wieder ausbrach.
Angewidert von sich selbst, lehnte Talin den Kopf an die Hauswand und schloss die Augen. Sie konnte auch einfach hier sitzen bleiben und warten, bis alles vorbei war...In dem Moment trug der leichte Wind eine Melodie zu ihr herüber. Erinnerungen an vergangene Feste auf Kelekuna kamen ihr in den Sinn: prasselndes Feuer, ein wildes Herumwirbeln zum Takt der Musik. Ohne es wirklich mitbekommen zu haben, stand sie schon und bewegte sich langsam auf das Geräusch zu. Je näher sie kam, desto fröhlicher und ausgelassener wurde die Musik, als würden sich die Sorgen des Geigenspielers mit jedem Streichen seines Bogens über die Saiten auflösen.
Schließlich blieb das Mädchen in geringem Abstand zu dem jungen Musiker stehen. Völlig gebannt beobachtete sie ihn, wie er dort vor ihr stand und spielte und leichtes Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. Nach nur ein paar Sekunden hob sie die Hände und fiel mit ihrem Klatschen wie von selbst in seinen Takt ein.