15.06.2018, 20:59
Sind deine Gene offensichtlich perfekt?, beendete der 21-Jährige im Stillen ihren Satz und zog flüchtig eine Augenbraue in die Höhe. Gleichzeitig erschien wieder das spöttische Schmunzeln auf seinen Lippen. Bereits mehrfach hatte er den Eindruck gehabt, dass sie das tatsächlich glaubte und auch jetzt wirkte sie restlos von sich selbst überzeugt. Über jeden Zweifel erhaben.
„Und du gehörst zu diesen sehr anständigen Leuten?“,
fragte er, ohne auf den unbeendeten Satz einzugehen. Während sein Blick selbstredend ihrer Geste folgte und über ihren vollständig bekleideten Körper wanderte. Ein Mal runter und wieder hoch. Den Ausdruck in seinen Augen hätte man als geradezu beleidigt bezeichnen können – darüber, wie viel ihres Körpers sie in diesem Moment verdeckte. Immerhin war das doch genau das, was Shanaya von ihm erwartete und er fand allmählich Gefallen daran, ihr Bild von ihm ein weiteres Mal zu bestätigen.
Allerdings machte die ohnehin nicht wirklich ernst gemeinte Verdrossenheit rasch wieder reiner Belustigung Platz, als ihr Blick vorwurfsvoller wurde. Nach außen hin begegnete Lucien dem mit der schon bekannten Gelassenheit, die er allem entgegen zu bringen schien. Doch er achtete auf jede ihrer Bewegungen und als die Schwarzhaarige den Stock hob, um ihn – zumindest dem ersten Eindruck nach – nach ihm zu werfen, stellte er sich bereits darauf ein, ihn abzufangen.
Noch bevor er allerdings die Hände aus seinem Gürtel befreit hatte, erübrigte sich die Abwehrmaßnahme. Mit einem dumpfen Aufschlag und leisem Blätterrascheln landete der Ast auf der Erde und, bedachte man den Abstand zwischen Lucien und Shanaya, nicht einmal ansatzweise „bedrohlich nahe“. Für einige wenige Sekundenbruchteile herrschte betretenes Schweigen... als wüssten sie beide nicht, wie dieser Stock nun ausgerechnet dorthin gekommen war. Während der 21-Jährige sich fragte, ob das jetzt gewollt war, oder nicht.
Aus den Augenwinkeln huschte sein Blick zu der Piratin zurück, die selbst einen Herzschlag lang verblüfft wirkte. Er sah es, bevor sie ihre eigene Reaktion mit dem gewohnt selbstsicheren Gesicht überspielen konnte und das veranlasste nun ihn zu einem breiten Grinsen. War es also nicht... Das war schlicht und ergreifend ein richtig schlechter Wurf. Doch der Dunkelhaarige ließ die Situation unkommentiert – und wirklich, das war verflucht hart – sondern bückte sich wortlos nach dem Stock im Unterholz und hob ihn auf.
„Ich werte das einfach mal als ein flehendliches 'bitte, bitte, lieber Lucien'.“
Man hörte seiner Stimme an, dass er gegen ein Lachen kämpfte, als er sich dem Baum zuwandte, ohne Shanaya eines weiteren Blickes zu würdigen – damit ihm seine mühsam erzwungene Selbstbeherrschung nicht flöten ging. Er hob den Stock über den Kopf und holte leicht Schwung, traf eine der gezackten Früchte, die sich von ihrem Stängel löste und mit einem leisen Plump auf Shanayas Tasche landete. Himmel, was war er heute großherzig.
Erstaunlich an der ganzen Angelegenheit war nur, dass die Anspannung tatsächlich nachließ. Ihr bedauerlicher Patzer löste die Distanz auf, weil er schlicht und ergreifend nicht mehr daran dachte, was gestern noch passiert war.