09.06.2018, 20:05
Ihr Blick huschte von seinem behaarten Gesicht, über seine Brust, zu seinen spitzen Rippen und wieder zurück. Als könnten ihre Augen nicht still halten, als müsste sie alles neu in sich aufnehmen, was sie die letzten Jahre nicht gesehen hatte. Schon während sie ihn gewaschen hatte, waren ihr verschiedene Gedanken zu seinem Zustand gekommen. Er musste dringend etwas essen, dieser Bart musste ab, sie musste sich überlegen, wie sie am besten seine Wunden versorgte...dieser Bart musste ganz dringen ab. Es war ein endloser Kreislauf an Gedanken und Eindrücken, die sich auf ihre Unruhe auswirkten, welche sie zu einem Sturm auftürmten. Dieser beständige Druck, der sich einfach nicht löste, obwohl sie ganz genau sah, wie Lucien wach auf dem Bett saß und sich mit ihr in einem Zimmer befand.
Sein Schmunzeln erahnte sie eher, als das sie es wirklich sah, durch dieses Gestrüpp in seinem Gesicht. Die Blonde nahm es auch nur wahr, weil sie gerade wieder sein Gesicht mit den blaugrünen Augen nachzog, jede Veränderung genau registrierte. Wenn sie ihn ansah, verglich sie ihn mit dem Jungen, der sich damals von ihr verabschiedete. Obwohl damals schon fast ein Mann, sah sie dennoch Kleinigkeiten, die nicht mit ihrem Bild übereinstimmten. Seine Züge hatten die letzte Weichheit verloren, würden, wenn er erst einmal wieder an Gewicht zugelegt hatte, kantiger sein, ein bisschen rauer vielleicht. Auch seine Stimme war nicht ganz die, die wie ein Geist durch ihre Erinnerungen streifte. Ebenfalls ein bisschen rauer, männlicher... ihr lief ein leichter Schauer über den Rücken, von dem sie nicht ganz wusste, wie sie ihn einordnen sollte.
Doch seine Worte ließen Talin den Gedanken fallen und sie einen Schritt vortreten, bevor sie wieder stehen blieb. Sie sah sich wieder in dem Raum um und machte eine weit ausholende Bewegung, als würde sie ihm das Schiff zeigen wollen, ließ den Arm aber wieder abrupt sinken.
„Mehr oder weniger eins, ja...“
Wenn sie an die Schäden dachte, wusste sie nicht wie lange sie noch eins haben würden...und dann verschwand auch dieser Gedanke und eine ungewollte, drückende, sogar irgendwie peinliche Stille trat ein, die ihre innere Unruhe nur noch verstärkte. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Ein, zwei, drei schnelle Schläge später, traute sie sich wieder ihn anzusehen, ihn noch einmal zu mustern. Gesicht mit Bart, verwundeter, abgemagerter Oberkörper. Und als hätte es nur noch dieses eine Mal ansehen gebraucht, platzte der angespannte Knoten in ihr auf und sie lief mit schnellen, eiligen Schritten auf das Bett zu. In weniger als einem Wimpernschlag war sie dort, kniete sich auf die Matratze und fiel ihm um den Hals.
Der erste Kontakt durchfuhr sie wie ein Blitz, ließ Talin die Berührung nur umso stärker wahrnehmen. Die vernarbte und doch warme Haut seines Rückens unter ihren Fingern, die knochigen Schultern, die sich durch den Stoff ihrer Bluse drängten, der kratzige Bart an ihrem Gesicht. Sein Geruch stieg ihr in die Nase, sauber, frisch und so ganz ihr großer Bruder. Wie von Zauberhand fiel der Sturm aus Unruhe, Peinlichkeit und Zögerlichkeit von ihr ab. Zurück blieb gar nichts, außer das reale Gefühl seines Körpers an ihrem.
Mit einem leisen, erleichtertem Seufzer, drückte sie ihr Gesicht an seinen Hals und hielt ihn einfach nur fest umarmt.