06.06.2018, 21:48
In das Schweigen mischten sich die Geräusche des Schiffes. Einst hatten sie einen kleinen Jungen mit großen Träumen versehen. Heute brachten diese vertrauten Klänge eher die Müdigkeit in dem inzwischen erwachsenen Mann hervor. Gedankenversunken löste er die Hände vom Becher, öffnete und schloss sie ein paar Mal um die Verkrampftheit der Finger zu lockern. Weiteres Blut tropfte dabei unbeachtet aus den Schnitten der Muschelkanten auf den Tisch und die Puppe. Dann legte er die Hände wieder um den Becher.
¡Dioses! Ich mache schon wieder keinen Sinn. Entweder müsste der Koch sich wirklich bei Harper bedanken, weil dieser durch seine Unterlassungen so dramatisch zum Gelingen beigetragen hatte oder ihn deshalb verfluchen, weil es deswegen so viele Tote gegeben hatte. Dank oder Fluch für Beides zusammen ist Schwachsinn.
Rayon äußerte seinen Ratschlag und bitteres Auflachen brach sich kurz bahn.
Was sollte er denn noch tun? Die erste Welt damit überziehen? Alle sieben? Es gab nicht genug Raum für all seine Wut, den über die Jahre angesammelten Frust oder den Hass auf jene die ihn wiederholt verraten hatten.
Auch hatte er einiges davon auf der Morgenwind herausgelassen. War es dadurch weniger geworden? Vielleicht... Vielleicht, wenn er wie damals..?
Er hielt sein Schweigen aufrecht, sogar eine kleine Weile bis nach der anschließenden Frage. Die "Maske" hingegen lag zerbrochen auf dem Tisch. Verwirrung war deutlich auf seinem Gesicht zu lesen. Harper? Der Grund? Für die Hilfe? Trotz all der Grübelei hatte er Harper nie damit in Verbindung gebracht.
"Nein", meinte er schließlich. "Auch wenn er indirekt mit dafür verantwortlich war."
Enrique seufzte schwer. Er hätte das jetzt so stehen lassen können, war sich aber sicher, dass er wusste, welche Frage kommen würde, wenn er das Gespräch nicht augenblicklich abbrach. Da er das nicht wollte konnte er auch gleich antworten.
"Ich wollte damit etwas erreichen. Ich...
"Irgendwann hat ein Mann mir gesagt, dass die Marine dafür da wäre Gerechtigkeit in der ersten Welt sicherzustellen. Das sie für Sicherheit und Freiheit zu sorgen hat."
Trotz seiner Erschöpfung hob er den Kopf und sah den Smutje an. Der rote Hund in seiner Brust schlummerte vorübergehend und überließ anderen Gefühlen seinen Platz. Respekt für den Mann, über den er jetzt sprach, Trauer und Dankbarkeit für den über den er gleich sprechen würde. Nur bei der Erwähnung Harpers herrschte Leere in ihm.
"Dieser Mann hat das gelebt. Er war es, der mich eine Weile auch daran glauben ließ."
Ein unangenehmes Brennen stahl sich in die Augenwinkel des Offiziers. Was nützte ein Mann oder auch zwei oder drei, wenn tausendmal mehr gegen ihn standen?
"Dann kamen andere und bewiesen immer wieder das Gegenteil. Harper ist — war einer der Schlimmsten von ihnen."
Wieder sah er weg, sprach langsam und mit Pausen weiter.
"Ein anderer ließ eine Frau töten und brachte ihren rechtschaffenden Mann hinter Gitter, nahm einer Tochter damit ihren Eltern, indem er alle Welt davon überzeugte, dass der Vater die Mutter grausam abgeschlachtet habe und drohte ihm zum Abschied damit, sie ab jetzt an seiner Stelle leiden zu lassen. Dieser Unschuldigen tat mir leid.
"Als sich dann mit euch eine Gelegenheit ergab wollte ich ihn retten..."
Für einen Moment presste er die Lippen aufeinander und rang mit sich. Den dass das nicht alles war, war sogar für ihn schon überdeutlich daran zu hören gewesen, wie er den Satz beendet hatte. Wenn der Smutje nicht blind und taub wäre, musste er es auch mitbekommen haben. Diese Frage stand demzufolge ebenfalls unausgesprochen im Raum. Es kostete ihn zwar einiges an Überwindung aber auch hier entschied er sich für kurzen Prozess machen und ergänzte:
"Und ich wollte seine und meine Tochter schützen, hegt dieser arrogante schwanzlose Hund doch mindestens genauso viel Groll gegen mich wie gegen ihn. Etwas dass ich längst geklärt gehabt hätte, hätte Harper mir das nicht immer wieder verwehrt. So lange dieser Zwist nur zwischen mir und dem Bastard stand war es mir relativ egal, aber als mir klar wurde, dass meine Tochter in Gefahr ist, da wusste ich, dass ich handeln musste."
Sein Blick wanderte zur Puppe, die zerschnittene Hand folgte und berührte sie kurz, zog sich aber wieder zurück. Sie zitterte leicht.
Zu erschlagen für Wut brachte der Gedanke an Lowell und den obersten Richter lediglich Verzweiflung mit. Dass er damit wahrscheinlich gerade von zwei Männern gesprochen hatte, war ihm klar, wusste er doch nicht, ob der Richter Lowell auch für den Tod Zaedyns Frau eingesetzt hatte aber das könnte er noch klarstellen, sollte der Schwarze nachfragen. Lowell hing allerdings definitiv in Beidem mit drin.
"Eure Befreiungsaktion war eine Gelegenheit dafür, beides zu erreichen, ohne gleich jegliche Chancen in der Marine zu verspielen. Zumindest die Wenigen, die Harper mir noch ließ.
"Den Mann zu retten ist mir nicht gelungen. Stattdessen schulde ich ihm mein Leben und ich weiß nicht, ob ich unter diesen Umständen meine Tochter wiedersehen werde oder mein Wort halten kann, mich auch um seine zu kümmern. Ich— Ich—"
Über all das hatte Enrique eigentlich nicht nachdenken wollen, die Angst seine Tochter, genau wie Samuel, nicht schützen zu können, sie irgendwann zu verlieren, trotz all dem was er getan hatte und noch tun würde, stürzte über ihm zusammen, schnürte ihm die Kehle zu und ließ ihn die Augen schließen. Eisern klammerte er sich an seine Selbstbeherrschung und die Tasse, doch es fehlte nicht viel und er würde zusammenbrechen. Bereits jetzt stützte er sich schwer auf die Tischkante, spürte wie sich sein Innerstes verkrampfte und wie eine heiße Träne für seinen Geschmack viel zu offensichtlich über seine Wangen lief, so dass er den Kopf weiter senkte. Was sollte er tun, wenn er wirklich nicht mehr dorthin zurückkehren konnte, weder nach Linara, noch nach Estero? Was, wenn all seine Anstrengungen trotz allem umsonst gewesen waren?
Tief holte er Luft, schob das diese Gedanken und die Angst mühsam bei Seite, richtete sich dabei auf und starrte Blicklos nach rechts.
"Ich muss mich also so oder so in die Höhle des Löwen zurückwagen und kann nur hoffen, dass ich nicht zu spät sein werde."
Ein weiteres Mal atmete er tief ein. Seine Selbstbeherrschung war brüchig wie sehr dünnes Eis, sie schaffte es kaum Schmerz und Verzweiflung zurückzuhalten. Dann sah er, mit leicht gerösteten Augen und einem Anflug von Grinsen auf den Lippen, Rayon wieder an und meinte:
"Und was deinen Ratschlag betrifft: Auf diesem Schiff ist einfach nicht genug Platz zum Tanzen."