28.05.2018, 12:18
Ein vernehmliches Knarzen riss den 21-Jährigen aus seinen Bedenken. Da war etwas, das nicht in den wohlvertrauten Geräuschkanon eines lebenden Schiffes passen wollte und ihn nur deshalb aufmerken ließ. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz, rutschte ihm einen Sekundenbruchteil später irgendwo in die untere Magengegend. Lucien hätte niemals bestimmen können, was ihn wissen ließ, dass es Talin war. Es hätte irgendjemand sein können, der gerade an der Kajütentür vorbei spazierte. Irgendjemand aus der Mannschaft. Doch er wusste es einfach... Oder glaubte es zu wissen...
Tatsächlich bewegte sich einen Moment später der Riegel des Schlosses zur Seite. Das hölzerne Türblatt schwang in seinen Angeln ächzend nach innen auf und da stand sie, wie sie auch vor seiner Zelle erschienen war. Nur, dass er sie im schummrigen Licht der Kajüte besser sehen konnte als im zwielichtigen Dunkel des Gefängnistrakts. Sie war größer als damals, das goldene Haar noch ein wenig länger, als er es in Erinnerung hatte. Den ätzenden blauen Uniformrock ihrer Verkleidung hatte sie gegen Bluse, Korsage und einen langen Rock getauscht, der augenscheinlich an der Seite bis fast zur Hüfte ausgeschnitten war. Ein Aufzug, in dem er sie auf Kelekuna wahrlich noch nie gesehen hatte, in dem sie unter den strengen Augen ihrer Mutter ganz bestimmt nicht hätte herum laufen dürfen. Und trotzdem war er irgendwie nicht überrascht.
Doch am meisten faszinierten und erschreckten ihn ihre Züge. Älter, reifer als die des 14-jährigen Mädchens, das er am Steg zurück gelassen hatte. Er konnte nur nicht sagen, ob er das gut oder schlecht fand.
All das nahm er in den wenigen Herzschlägen wahr, bis Talins Blick auf ihn fiel und sie mitten in der Bewegung erstarrte.
Oh Talin.
Lucien konnte nicht anders, konnte sich das kleine Schmunzeln nicht verkneifen, das ihre Feststellung hervor lockte.
„Mehr oder weniger...“, gab er ausweichend, aber amüsiert zurück. Immerhin konnte er sitzen. Und weil ihm der Gedanke zuwider war, sie könnten beide im nächsten Augenblick in unsicheres Schweigen verfallen, fügte er nicht weniger geistreich an: „Und du hast ein Schiff...“
Nein. Sie hatte das Schiff. Doch der Gedanke war im gleichen Moment wieder verschwunden, wie er auch aufgekommen war. Denn eigentlich... wartete er doch nur. Wartete darauf, dass etwas passierte, während das Flattern in seiner Brust beständig zunahm.