09.05.2018, 15:34
Die Anspannung der letzten drei Jahre fiel nur langsam von ihr ab. Eigentlich hätte sie nach den ganzen Schwierigkeiten, die sie auf sich genommen hatte, erwartet, diese innere Unruhe würde sich in Luft auflösen, sobald sie Lucien in Sicherheit wusste. Stattdessen spürte Talin sie immer noch in jeder Faser ihres Körpers. Sie fühlte sich getrieben, unruhig, so als würde sie auf irgendetwas warten, als sollte etwas in naher Zukunft geschehen. Sie hasste diese Empfindung. Wieso hatte sie so viel auf sich genommen, wenn diese Unruhe dennoch blieb?
Mit einem leisen Seufzer sah sich Talin noch einmal auf dem Deck um, kontrollierte, ob sie immer noch in Sicherheit waren, immer noch auf der Flucht. Die Ereignisse nach dem gelungenen Ausbruch hatten sich überschlagen und nun fuhren sie, so schnell die kaputte und dennoch wendige Lady es konnte, über das Meer in Sicherheit. Wo das sein würde, wusste sie noch nicht genau, aber weit entfernt von jedem Marineschiff klang in ihren Ohren sehr verlockend. Ein leicht belustigtes Schmunzeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie an ihre Flucht dachte. Mit Mühe und Not hatten sie es auf die Sphinx geschafft, hatten der Marine entkommen können. Danach waren die, die im Wasser getrieben waren, der Reihe nach umgefallen und hatten geschlafen. Es war verdient gewesen. Sie würde ihnen noch weit mehr zugestehen, nach dem, was sie alles auf sich genommen hatten. Sie selbst hatte Lucien in die Kajüte geholfen und sich dort um ihn gekümmert, bevor sie sich selbst ausgeruht hatte. Lucien... ihr Bruder. Er lebte und war nun in Sicherheit.
Ruckartig drehte die Blonde sich um, ließ die Sphinx ihre Fahrt machen und begab sich nach unten in ihr Reich. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, ihr Herz schlug wie verrückt und die Unruhe nahm nur noch mehr zu. Sie musste sich vergewissern, dass er wirklich da war. Das er bei ihr war, in Sicherheit. Fest biss sie die Zähne zusammen, bei dem Gedanken an seinen geschundenen Körper. Als sie ihn gestern untersucht und behandelt hatte, hatte nur ihr Wunsch, ihn schlafen zu lassen, sie davon abgehalten, laut zu schreien. Auch jetzt wieder unterdrückte sie das Bedürfnis nur mit Mühe, als sie schließlich die Tür zur Kajüte erreichte. Schon hob sie die Hand, ließ sie aber wieder sinken und schloss die Augen. Es wäre wohl nicht ratsam mit ihrer schlechten Laune das Zimmer zu betreten. Sollte er wach sein, dann würde er vielleicht noch denken, sie wäre wütend auf ihn. Sie ballte die Hände zu Fäusten, drückte ihre Fingernägel ganz fest ins eigene Fleisch, während die Unruhe in ihr zunahm.
Tief atmete sie ein, lockerte ihre Hände, damit sie nicht mehr so verkrampft geballt waren und öffnete die Augen, in der Hoffnung nicht mehr so wütend auszusehen. Doch die Tür öffnete sie immer noch nicht. Stattdessen stand sie da und starrte das Holz an, folgte mit Blicken der Maserung. Wirklich eine gute Arbeit, schoss es ihr durch den Kopf, bevor ihr Blick auf dem Knauf hängen blieb. Sie müsste nur die Hand ausstrecken und dann könnte sie nachsehen, wie es ihrem Bruder ging. Sie musste doch nur...Oh, bei allen sieben Welten, Mädchen! Jetzt hör schon auf, so nervös zu sein! Es war ihr Bruder, Lucien, der dort drin auf dem Bett lag. Der einzige Mensch, der wirklich zählte. Wieso also fühlte sie sich so unsicher und nervös? Es erschien ihr vollkommen idiotisch. Also streckte sie, ohne lange zu überlegen, die Hand aus und öffnete die Tür.
Kurz ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen, nahm die Inneneinrichtung aber kaum wahr. So oft schon hatte Talin sie gesehen, hatte sie verändert, damit es sich wie ein gemütliches zu Hause anfühlte. Ganz zufrieden war sie immer noch nicht, aber sie wusste nicht, was noch fehlte. Also ignorierte sie die Einrichtung und wandte sich dem Bett zu. Wie festgenagelt blieb sie stehen, als sie ihren Bruder ansah.
„Du bist wach.“
Nun, das lief doch schon mal gar nicht so schlecht. Am liebsten hätte sie ihren Kopf gegen den Mast gehämmert, so bescheuert kam sie sich vor. Um nicht noch etwas dummes zu sagen, biss sie die Zähne fest zusammen und starrte ihn einfach nur an.