06.05.2018, 18:52
I have died every Day waiting for you
and all along I believed I would find you
Darling don't be afraid
I have loved you
for a thousand Years
Talin & Lucien
17. März 1822 | früher Vormittag | Kapitänskajüte der Sphinx
Ganz gleich, wie viel er auch schlief – es würde nicht reichen, um sich wieder vollständig zu erholen. So zumindest fühlte es sich an, als Lucien am späten Nachmittag nach der Flucht von der Morgenwind aus tiefem, traumlosen Schlaf erwachte. Langsam schlug er die tiefgrünen Augen auf, starrte an eine fremde Decke. Holz. Und es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass er nicht mehr in einer Zelle saß. Immer noch ein Schiff, das verriet ihm das sanfte Schwanken, das Knarzen der Planken, das leise Flattern von Segeln im Wind und das Rauschen des Meeres, das sich am Bug brach. Doch der Untergrund war zu weich, die Luft zu rein für die Zelle eines Gefängnistrakts. Seltsam. Dabei waren die Ereignisse der letzten Nacht derart surreal und unbegreiflich, dass sie auch aus dem Mund eines verrückten Spinners hätten stammen können. Es konnte unmöglich wahr sein.
Und doch wusste der Dunkelhaarige, dass es real, dass es tatsächlich passiert war.
Noch etwas benommen hob er die Linke, um sich damit über das Gesicht zu fahren, rieb sich kurz die Augen und drehte dann leicht den Kopf, um herauszufinden, wo er sich befand.
Er lag auf einem breiten Bett, dessen Längsseite sich in eine bescheidene, aber ansehnliche Kajüte öffnete. Mitten durch ihre Mitte verlief der Besanmast, darum gruppierten sich verschiedene Sitzmöbel, ein Schreibtisch, der den Großteil des Platzes einnahm, und diverse Schränke, Regale und Kommoden. Auf einer davon, gleich neben dem Bett, stand eine Schüssel mit Wasser und ein Bündel alter Leinenlumpen – die Kleidung, die er die letzten drei Jahre am Leib getragen hatte.
Lucien setzte sich auf. Das Laken, das ihm als Decke diente, rutschte ihm in den Schoß und enthüllte seinen nackten Oberkörper. Rippen, die sich deutlich unter der Haut abzeichneten und Narben, die sich über seinen Rücken zogen wie ein Labyrinth auf einem Blatt Papier. Talin, war das erste, was er dachte. Doch der Platz neben ihm war leer. Er lag auf der hinteren Seite des Bettes an der Wand, erkannte aber an ihrem umgeschlagenen Laken, dass sie neben ihm geschlafen haben musste. Nachdem sie sich um ihn gekümmert hatte. Sie musste die Schürfwunden an seinen Handgelenken versorgt und ihn gewaschen haben. Zumindest starrte er jetzt nicht mehr nur so vor Dreck.
Er hatte wohl tiefer geschlafen, als im ersten Augenblick angenommen.
Ansonsten fehlte jedoch jede Spur von seiner Schwester, was den 21-Jährigen schlagartig den eigenen Gedanken aussetzte. Gedanken, in denen ihm in aller Deutlichkeit bewusst wurde, wie viel Zeit vergangen war. Über drei Jahre, seit er sie auf Kelekuna zurück gelassen hatte. Ein letztes Mal, war sein Versprechen gewesen. Und dann kehrte er nicht zurück. Drei Jahre, fast vier, in denen er sie in seiner Erinnerung am Steg hatte stehen sehen, jedes Mal, wenn er die Augen schloss. Und jetzt war sie plötzlich da.
Ein Anflug von Nervosität breitete sich in ihm aus. Ein leises Flattern in der Brust, wie das eines verliebten Jungens. Sie war nicht einmal im gleichen Raum und trotzdem überschlugen sich seine Gedanken. Was sollte er sagen? Was würde sie sagen? Was war mit ihr passiert, in den letzten Jahren? Wie war sie bis hier her gekommen?
Was würde sie wissen wollen?
Gerade vor dieser Frage fürchtete er sich. Er fürchtete sich vor diesem Moment. Dieser ganzen ersten, realen, bewussten Begegnung. Und die würde kommen.