30.04.2018, 17:13
Das Lächeln auf Luciens Lippen vertiefte sich. Denn statt auf seine Einladung hin eine lockerere Haltung anzunehmen, tat der Leutnant das genaue Gegenteil. Er straffte sich. Ein anderer wäre jetzt vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass dieses Verhalten der Provokation dienen sollte. Dass sich der ehemalige Soldat als eine Art Gefangener betrachtete. Ein Isolierter zwischen einer ganzen Mannschaft von Piraten, die stets erklärte Feinde seiner ehemaligen Arbeitgeber waren. Und dass sowohl Uniform als auch Haltung dazu dienten, eine deutliche Grenze zu ziehen. Abstand zu wahren. Eine Seite zu wählen. Doch der 21-Jährige war sich da längst nicht mehr so sicher. Unter normalen Umständen – klar. Dann hätte er sein Urteil schnell gefällt und es wäre nicht besonders positiv ausgefallen. Dieses Mal aber war es anders. Er hatte gesehen, was der Leutnant auf der Morgenwind getan hatte und hatte bezüglich der "Seiten" inzwischen seine Zweifel.
"Dann bevorzuge ich 'Enrique'."
Die Antwort kam unverblümt und ohne Zögern. Alles andere ließ er zunächst unkommentiert, während der Blick des ehemaligen Leutnants für einen kurzen Moment zu Talin huschte. Lucien beobachtete ihn dabei, sah aber selbst nicht zu seiner Schwester hinüber, sondern wartete, bis Enrique erneut das Wort ergriff und in bemüht ruhigem Ton zum Kernpunkt ihres Treffens kam.
Daraufhin kehrte sein Blick zu Talin zurück, blieb dieses Mal auf ihr liegen. Doch es war ihr Bruder, der als erstes auf den auffordernden Blick des ehemaligen Offiziers reagierte.
"Streng genommen hast du Recht. Auch wenn ich damals nichts von meinen Wahlmöglichkeiten wusste. Das war mehr... auf gut Glück." Ein kleines Lächeln schwang in seiner Stimme mit. So viel zu seinen Gründen dafür, eine Zusammenarbeit mit Enrique einzugehen. Der Ältere kam ihm jedoch nie so vor, als würde er 'auf gut Glück' entscheiden. Er traf seine Wahl deutlich überlegter, geradezu taktisch. "Ich weiß nicht, wie die Marine das jetzt handhabt, aber ich kann mir vorstellen, dass es für dich nicht einfacher wird, sollte jemand von deinen Leuten auf der Morgenwind gesehen haben, dass du uns geholfen hast – und überlebt haben, um die Geschichte zu erzählen."
Während er sprach, setzte sich Lucien wieder in Bewegung, trat an Talins Seite, die bereits halb auf der Kante des Schreibtisches saß und lehnte sich neben ihr mit der Hüfte gegen das glatte Holz. Kurz hob er den Blick, traf dabei auf den ihren und verschränkte beiläufig die Arme vor der Brust. Sie hatte keine Einwände erhoben, als er ihr den Vorschlag unterbreitete, den er nun auch dem ehemaligen Marineoffizier unterbreiten würde.
Die grünen Augen richteten sich wieder auf Enrique und das geradezu freundschaftliche Schmunzeln kehrte auf seine Lippen zurück.
"Was Talin und ich dir anbieten, ist, dich uns ganz einfach anzuschließen. Wir sind nicht die Marine. Uns beiden ist gleich, was du vorher warst. Was zählt sind deine Fähigkeiten – und wir können jemanden wie dich hier gut gebrauchen.
Wenn nicht, setzen wir dich im nächsten Hafen ab und du kannst dein Glück auf andere Art und Weise versuchen. Du und ich, wir beide schulden einander nichts mehr. Du hast also die freie Wahl... Für deinen Sergeant gilt übrigens das gleiche Angebot."