10.03.2018, 16:17
Licht- und Schattenseiten
19.03.1822
Sphinx
Irgendwo zwischen Linara und Mîlui, auf dem Weg zu einer Insel, von der noch niemand ahnt.
Enrique, Talin & Lucien
19. März 1822 | Vormittag | an Bord der Sphinx
Es war das erste Mal seit seiner Rettung von der Morgenwind, dass er das Bett in der Kapitänskajüte tatsächlich verließ. Das war jetzt fast vier Tage her. Nach jener Nacht hatte er bis zum übernächsten Morgen geschlafen und auch danach nicht viel mehr getan, als zu essen, sich auszuruhen und in den wachen Stunden mit Talin zu reden. Über das, was nach seiner Abreise damals geschehen war, was sie in diesen drei Jahren erlebt hatte, was mit dem Schiff ihres Vaters geschehen war und wie er selbst in die Hände der Marine geriet. Seine Zeit dort, die Erlebnisse, die ihn inzwischen prägten, behielt er wohl wissend für sich. Mit ihrem Zorn hätte er umgehen können. Doch nicht mit der traurigen Hilflosigkeit, die einen bis ins Mark erfasste, weil man die Dinge nicht ungeschehen machen konnte. Und zweifelsohne würde sie sich genau das für ihn wünschen. Er würde es sich wünschen.
Unbewusst rieb sich Lucien über die inzwischen verschorften Wunden an seinem Handgelenk. Dort, wo vor kurzem noch Handschellen gewesen waren. Sie juckten und er sehnte sich danach, die Verbände zu erneuern, um das Verlangen zu kratzen wenigstens ein bisschen unter Kontrolle zu bringen. Also griff er nach dem Lappen, der in einem Eimer kaltem Wasser schwamm, wrang den Stoff aus und begann vorsichtig, sich die Arme und den nackten Oberkörper zu waschen.
Ein sauberes Hemd lag auf der Kommode neben ihm. Auch darum hatte Talin sich gekümmert. Keine Ahnung, wo sie die Kleidung für ihn aufgetrieben hatte. Oder die Schere und das Barbiermesser, mit dem er sich den Bart abrasiert und die Haare geschnitten hatte. Vielleicht von der ehemaligen Crew. Letzten Endes spielte es ohnehin keine Rolle, denn es war mehr, als er bis dato besessen hatte und er nahm den Glücksfall dankbar an.
Alles andere konnte er sich schon irgendwie besorgen, wenn sie das nächste Mal eine Insel anliefen. Denn noch befand sich die Sphinx auf dem Meer. Der Dunkelhaarige genoss das beständige Schwanken unter ihm, die tröstenden Geräusche eines Schiffes auf den Wellen. Und noch immer erschien ihm der Gedanke wieder frei zu sein vollkommen surreal, während seine Zeit im Gefängnis zugleich mehr und mehr zu einem düsteren Traum zu werden schien. Und er befand sich in einem schwammigen Zustand irgendwo dazwischen.
"Wir bringen die Sphinx also wieder auf Vordermann.", warf Lucien plötzlich in den Raum, als hätten er und Talin schon die ganze Zeit über dieses Thema gesprochen – und nicht die letzte halbe Stunde, seit sie zurück in die Kajüte gekommen war, in einvernehmlichem Schweigen verbracht. "Und dann? Was machen wir dann?"
Während sich der Dunkelhaarige mit dem Lappen über den Nacken fuhr, wandte er sich halb seiner Schwester zu. Sie saß am Schreibtisch, brütete über irgendwelchen Schriftstücken, um sich die Zeit zu vertreiben, bis der Leutnant kam. Lucien hatte sie darum gebeten, ihn zu holen, als sie frisches Wasser besorgen ging. Denn noch mehr als bei irgendjemandem sonst drängte es ihn zu einem Gespräch mit diesem Mann, der auf den ersten Blick nicht wirklich auf die Sphinx zu gehören schien. Ob dieser erste Eindruck stimmte, würde sich hoffentlich bald zeigen.