21.02.2018, 10:06
Es dauerte einige Augenblicke, ehe Rayon bemerkte, dass er nicht mehr allein in der Kombüse war. Wie passend, dass ausgerechnet die Person nun vor ihm stand, über die er gerade nachgedacht hatte, einen leeren Eimer in der Hand und eine möglichst beherrschte Miene aufgesetzt, die jedoch die dahinter herrschende Besorgnis nicht gänzlich verbergen konnte. Grundsätzlich kam ihr Besuch für Rayon nicht überraschend, denn sie war seit ihrer Rettungsaktion schon häufiger mit demselben Anliegen bei ihm vorbeigekommen, das sie auch jetzt umtrieb. Er bedauerte, dass er keine ausgeprägteren Fähigkeiten in der Behandlung von Verletzten besaß, denn er hätte gerne mehr zu deren Genesung beigetragen. So beschränkte sich der Umfang seiner Möglichkeiten darauf, ihren Captain mit heißem Wasser und den Rest der Crew mit Nahrung zu versorgen. Das war zwar ebenfalls wichtig, aber auch ein Gourmet wie Rayon musste sich eingestehen, dass es einem Verwundeten meist herzlich egal war, ob er ein altes, trockenes Stück Zwieback oder ein exotischen Gewürzen verfeinertes Fleisch zwischen die Zähne bekam - wenn es ums nackte Überleben ging, war Genuss kein ernstzunehmender Faktor mehr. Das aus diesen Überlegungen resultierende Gefühl der Nutzlosigkeit gefiel dem Dunkelhäutigen ganz und gar nicht.
Auch in diesem Fall hätte Talin sich das Wasser einfach selbst holen können - ihn brauchte sie dafür ganz sicher nicht. Und auch wenn er sie nach wie vor erst seit einigen Tagen kannte, hielt er sie doch nicht für die Art Captain, die überflüssige Aufgaben an die Crew verteilte, um die eigene Machtposition zu stärken. Was auch immer der Grund dafür war, dass sie sich an ihn wandte, ob sie wollte, dass er sich gebraucht fühlte, das Gespräch mit ihm suchte oder ganz einfach zu erschöpft war, um sich selbst um ihr Anliegen zu kümmern... es spielte letztendlich ohnehin keine große Rolle.
"Aye, Captain", sagte er und versuchte, sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen. Nach wie vor hatte er zwar das drängende Bedürfnis, die Sache mit der Morgenwind zu klären, aber der Blonden war eindeutig anzusehen, dass sie momentan andere Dinge im Kopf hatte - nicht wenige und ziemlich schwerwiegende noch dazu.
Der Schiffskoch nahm den Eimer entgegen und wandte sich zum Herd um, den er zurzeit praktisch ständig warm hielt, um eben diesen Anfragen nachkommen zu können, wenn er schon nicht mehr tun konnte. Er überprüfte kurz die Temperatur des Wassers, befand sie für hoch genug und füllte wortlos den Eimer auf, ehe er sich wieder Talin zuwandte.
"Wie geht es deinem Bruder?", fragte er mit aufrichtigem Besorgnis in der Stimme und suchte ihren Blick. Beinahe fühlte er sich schuldig, in einer solchen Situationen Gedanken und Sorgen nachzugehen, die eigentlich auch warten konnten. Zeitgleich reichte er ihr den Eimer, denn sie konnte es sicher kaum erwarten, wieder bei Lucien zu sein und seine Wunden zu versorgen.