31.01.2018, 15:48
Panik ist eine seltsame Sache. Sie verleitet uns, wenn wir ihrer nicht Herr werden oder wir nicht wegrennen können, völlig irrational zu handeln um uns zu beruhigen. Und so war es auch bei Enrique:
Der Junge wusste nicht, was er tun sollte. Zwar entsann er sich, wie seine Mutter ihm hin und wieder die Hand auf die Stirn gelegt hatte um zu schauen ob er Fieber hätte und tat das auch bei Cornelis, aber da war ein Verband im Weg, ein anderer Ort zum Fühlen fiel ihm nicht ein und seine Finger waren so kalt vom heftigen Wind, dass ihm alles heiß vorkam — sogar seine eigene Stirn, und Fieber hatte er momentan bestimmt nicht. Oder doch? Auf jeden Fall wollte er den Kopf des Mannes besser schützen, zog seine Jacke aus, faltete sie zusammen, klemmte sie kurz zwischen die Beine, glitt aus dem Hemd und fixierte damit die Jacke in Cornelis Nacken so, dass sie leicht den Kopf stützte, indem er die Ärmel unter dessen Achseln hindurchzog, konnte sie aber nicht verknoten und dachte auch nicht daran, ihn tiefer in den Wagen zu ziehen. Lange würde sie wohl nicht halten...
Er redete auf Cornelis ein, um so mehr, da dieser nicht antwortete, erzählte ihm von seiner Nacht und wie das Schiff auf dem Meer ausgesehen habe, während er die Zugstange griff und dann mit der Ursache seiner Panik loslief.
Kurz darauf hatte er damit zu kämpfen, dass Gewicht vorwärts zu bekommen und nicht von den Böen an die Wand gedrückt zu werden. Trotzdem hörte er nicht auf weiterzureden. Völlig außer Atem musste er oben eine geraume Weile pausieren, wo er sich gegen den Wind hinter die Mauer auf der Klippe kauerte, ehe er mit dem Verletzten weiterhetzte. Durchaus möglich, dass er den Rotschopf ohne die Panik gar nicht nach Hause bekommen hätte...
***
"MA! MA!"
Enrique hetzte über den Kies der Zufahrt, bis er samt Anhänger schlitternd vor dem Haus zum Stehen kam. Das Hauspersonal hatte längst die Herrin verständigt und eilte herbei. Anweisungen wurden gegeben, Aufregung herrschte. Nahia musste nicht nur ihren Sohn immer wieder zur Ordnung rufen sondern versuchte ihn und die Angestellten zu beruhigen. Schließlich wurde der Steuermann von starken Händen aus dem Bollerwagen gehoben und hineingetragen. Es wurde nach dem Arzt geschickt und Nahia schaffte es schließlich die ganze Geschichte zusammenhängend von Enrique erzählt zu bekommen.
"Peio, lauf zum Kontor und verständige deinen Vater. Sag ihm, dass dein Bruder wieder zurück ist, dass die Seepferdchen mit Capitán O'Mahony endlich sicher im Hafen liegt, dass wir einen Gast haben und wir den Capitán abends zum Essen erwarten!"
"Warum sollte ich? Soll er doch selber gehen!"
"Peio! Dein Bruder muss sich jetzt aufwärmen."
"I-Ich g-gehe schon, M-ma. Ich m-muss den B-bollerwagen eh zurück b-bringen", stotterte Enrique leise. Ihm war trotz der Decke immer noch kalt und sein Puls raste.
"Nichts da! Du bleibst hier und machst dich zurecht! Du hast einen Gast. Er ist deine Verantwortung. Theodor wird das erledigen.
"Und du, sieh zu, dass du dich endlich zu Jorge bewegst!" Nahia sah ihre Söhne streng an.
"Aber—", protestierte der jüngere.
"Du bleibst hier!"
Enrique wollte erneut protestieren, doch Isabella, seine Schwester nahm stumm seine Hand und lächelte. Einen Augenblick lang sah er sie irritiert an, entspannte sich dann aber und nickte.
"Dann muss Theodor Señora Briggs aber unbedingt sagen, dass es mir leid tut, dass ich den Bollerwagen genommen habe ohne zu fragen. Es war keiner da und ich konnte nicht warten."
Theodor und die anderen schnappte hörbar nach Luft. Nahia maß sie mit strengen Blick.
"Tu was er sagt, Theo! Sag ihr, ich habe das angeordneten. Und gib der alten Dame noch diese Münzen für die Reparatur eventueller Schäden."
"Aber—"
"Du hast deine Anweisungen!"
Der Hausdiener senkte bereits kurz darauf den Blick und tat wie geheißen. Enriques Bruder musste Nahia länger anstarren, bis der nachgab und das Haus verließ. Erst dann lächelte sie, zufrieden, dass sogar ihr Jüngster daran dachte, dass die Menschen hier Besitz anders sahen als es bei ihrem Volk üblich war. Sie hatte länger gebraucht um das zu respektieren.
***
Später dann hatten sanfte, geschickte Hände sich um Cornelis gekümmert, ihm wurde etwas verdünnter Mohnsaft unter die Zunge gestrichen und auf die Wundränder gerieben. Als kurz darauf andere Hände den Verband erneut lösten, ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne schoben und die Wunde nähten, hatte der Pflanzensaft seine betäubende Wirkung voll entfaltet, so dass der Seemann überraschend wenig davon mitbekam und nach der Behandlung für eine kleine Weile in den Schlaf hinüber glitt, so er nicht eh bewusstlos war.
***
Nur ein seltsamer Geschmack auf der Zunge und eine leichte Benommenheit im Schädel mochten hängen geblieben sein als der Steuermann aufwachte.
"Schau! Er kommt zu sich", gab eine sanfte Mädchenstimme von sich.
Leises Rascheln drang vom verhängten Fenster herüber als Enrique sich halb umdrehte, die schwere Stoffbahn aber nicht los ließ.
"Nun komm schon! Baba kommt wann er kommt. Rausschauen bringt Baba nicht nach Hause." Leises, gutmütiges Kichern begleitete die Bitte.
Der Junge seufzte, ließ dann die Übergardine fahren, trat zu ihr und hielt sich krampfhaft an der Stuhllehne fest. Hinter ihm schloss der Vorhang das Licht des frühen Nachmittags aus. Nur eine Kerze, durch den Betthimmel von Cornelis abgeschirmt, verbreitete noch gedämpftes Licht.
"Wie fühlen sie sich Sir? Geht es ihnen wieder besser?"
Die Stimme des Jungen klang besorgt.
Was wenn die Antworten 'Schlecht' und 'Nein' waren? Was wenn er daran schuld war?