30.08.2017, 23:27
Die Welt wankte unter ihren Füßen. Bewegte sich in unablässig kreisenden Bewegungen, die der Jägerin bittere Galle gen Kehle presste. Immer wieder strauchelte sie in ihrem Lauf zur Seite, fing sich mit aller letzter Kraft auf halber Höhe, noch ehe ihre Nase den Schiffsboden berührte. Der Zweikampf hatte ihren Muskeln arg zugesetzt, hatte sie ungelenk und seltsam steif werden lassen, was Skadi just mit einem Nasenrümpfen quittierte. Doch es war zu spät, um sich über Vergangenes den Kopf zu zerbrechen. Denn die Schreie in ihrem Rücken schwollen mit jedem Schritt in Richtung Hauptdeck an, verheißungsvoll und deutlich schneller, als erwartete. Es würde ihr also ohnehin kaum mehr Zeit bleiben, dem einzigen Menschen eine Erklärung zukommen zu lassen, der ihre Offenheit mehr als verdient hatte. Dessen Anwesenheit sie aus den Augenwinkeln kaum mehr wahrnahm und jeden Zentimeter ihres Sichtfeldes nach dem dunklen Haarschopf absuchte. Doch von Enrique fehlte jede Spur - selbst dann als der Hauptmast wenige Sekunden nach dem heftigen Beben nachgab und in Richtung Achterdeck krachte. Holz splitterte, barst mit ohrenbetäubendem Laut wenige Meter hinter der gebeutelten Nordskov, die sich nur noch mit einem letzten Sprint in Sicherheit bringen konnte. Tief fraßen sich vereinzelte Splitter in ihren Körper, größere streiften sie willkürlich an Armen und Beinen und trieben sichtbare Wunden in die blasse Haut, die sie aus vielerlei Gründen stets gut bedeckt hielt. Der Schmerz bohrte sich wie Nadelstiche durch Arme und Beine, zog feurige Bahnen bis zu ihrem Kopf, den sie kaum mehr aufrecht halten konnte. Dunkler Nebel schob sich vor die dunkelbraunen Augenpaare, machte den sonst so klaren Verstand der Nordskov blind für die Umgebung, die geradewegs wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Die Schreie und Rufe verschwammen zu einem einzigen Brei aus Lauten, der kaum mehr zu differenzieren war. Ihr Körper schwankte zur Seite, hielt sich nur mit einer ausgestreckten Hand in aufrechter Position. Skadi fühlte sich fiebrig, kämpfte mit der aufsteigenden Übelkeit, die bald ihren Kehlkopf erreicht hatte. Ob es einen Unterschied machte, wenn sie sich einfach über die Reling gleiten und in die Tiefe des Meeres fallen ließ? Niemand würde sie suchen. Wenn sie Glück hatte nicht einmal ihre Überreste finden. Sie würde eins werden mit der See, die ihr Vater so sehr geliebt hatte. Doch er wäre nicht stolz auf sie. Nicht auf das, was seine älteste Tochter in ihrem Durst nach Vergeltung vollbracht hatte. Nicht, weil der Tod des Kapitäns kein Akt der Liebe und der Ehrerbietung ihrer Familie gegenüber gewesen wäre, sondern es nicht von Angesicht zu Angesicht geschehen war. Man hatte sie gelehrt, Kämpfe auf Augenhöhe zu führen, sich den Respekt durch Fairness und Cleverness zu verdienen. Ein Hinterhalt wie dieser jedoch galt in ihrem Clan als unmoralisch und feige - doch wen interessierte das jetzt noch. Sie selbst war die einzige Überlebende ihres Stammes und es käme niemand, um sie auf den "rechten Pfad" zurückzuführen.
Ein Schatten rührte sich in der Ferne, kaum wahrnehmbar, nahezu verschwommen an seinen Konturen, als vermische er sich mit der salzigen Luft des Meeres. Skadi konnte sich kaum mehr Aufrecht halten, als die Dunkelheit ihre Sinne gänzlich umhüllte und ihren Körper wie Treibgut in Enriques Armen zurückließ. Kaum spürend wie der Offizier sie an der Hüfte umfasste, wortlos vom Schiff hinab zerrte und in das kalte Nass eintauchte. Die Unendlichkeit hatte sie übermannt und zog sie an den Beinen Herzschlag um Herzschlag hinab in die Tiefen.
Ein Lachen ertönte und bahnte sich vibrierend durch ihren Brustkorb. Hallte in dem nebligen Gewirr aus Gedanken, Erinnerungen und Tagträumen wieder, ehe es Skadi schlagartig in die Realität zurückschleuderte. Ruckartig schwankte der Oberkörper zur Seite, spie das Wasser aus den angespannten Lungen aus, das die See heimtückisch dort hinterlassen hatte und ließ ein seltsames Brennen zurück.
" ¡Hola compañero! Wieder unter den Lebenden?"
Mit verkniffenen Augen blickte die Nordskov zur Seite. Unterdrückte die jähe Übelkeit an ihrem Kehlkopf, die ihr mehr als deutlich befahl sich ruhiger zu bewegen. Hatte sie es etwa lebend von diesem Höllenkahn hinuntergeschafft? Obendrein noch in Begleitung des Offiziers, dessen Lächeln nach einem Plätschern und Herzschlag später direkt im Zwielicht ihres Sichtfeldes auftauchte? Um der Götter Willen, so viel Glück konnte doch kein Mensch haben. Ein Schnauben verließ ihren Mund, kaum dass Skadi den dunklen Schopf auf die Holzplatte zurückgleiten ließ und die Augen schloss, hoffend, dass der Schwindel allmählich nachließ.
"Ich fühle mich wie ein durchlöcherter Käse. Hoffentlich rieche ich nicht auch noch wie einer."
Humor - dieser seltsame Mechanismus, der brenzlige Angelegenheiten in ein Meer aus Blumen verwandeln sollte. Eigentlich besaß die Nordskov so etwas nicht, war voll mit Sarkasmus in Ironie, den nur wenige Verstanden - doch angesichts ihrer derzeitigen Situation war es womöglich kein allzu schlechter Wesenszug, der sich an die Oberfläche traute. Noch weniger, wenn man bedachte, was Enrique Sekunden später laut aussprach. Ein schiefes Lächeln bohrte sich tief in ihre Mundwinkel, ebbte jedoch ab, kaum dass einer der größeren Splitter unter einer kurzen Seitwärtsbewegung ihrer Beine zu ziepen begann.
"Dieser Bastard ist für alle Zeit Geschichte, endgültig."
Besser sie ließ die Tatsache unerwähnt, dass es ihr bedeutend lieber gewesen wäre, hätte sie seinen Kopf mitgenommen. Nur um ihm auf Ewig den Aufstieg in die himmlischen Sphären zu verweigern. So war es Brauch in ihrer Kultur, eine Bestrafung derer, die für ihre Sünden und Missetaten auf Ewig Buße tun mussten.
"Ich lasse mich lieber von einer Meute Piraten erschlagen, als vom Schafsrichter und seiner Marinebagage für falsch ausgelegte Gerechtigkeit hinrichten zu lassen."
Damit war ihre Zukunft wohl besiegelt und Skadi würde den Teufel tun und sich unter ihrem falschen Namen zurück zur Marine zu wagen. Es war absehbar, dass die gestohlene Identität auffallen würde - es wunderte sie, dass es nicht längst geschehen war. Doch allem Anschein nach hatte ihre Schmierenkomödie besser funktioniert, als erwartet. Blieb nur zu hoffen, dass Enrique nicht aus allen Wolken fiel, sollte sie jemals wieder so sehr genesen sein, um ihm endlich zu offenbaren, was sie so lange vor ihm verborgen gehalten hatte.
Langsam schoben sich die schweren Augenlider zurück. Eröffneten der Nordskov einen tiefschwarzen Nachthimmel, dessen vereinzelte Wolkenfetzen vom gleißenden Licht der brennenden Frigatte erleuchtet wurden. Vorsichtig wandte sich der dunkle Schopf herum, direkt in Enriques Richtung, dessen Hand beschwichtigend auf ihrer Schulter ruhte. Ohne ihn würde sie wohl kaum die nächsten Stunden überleben, wäre unter den erneut herumfliegenden Planken, Mastfragmenten und Hab und Gut des Schiffes untergegangen wie ein Mehlsack. "Danke", war somit das einzige Wort, das sie zwischen ihren Lippen hindurch gleiten ließ. Darauf konzentrierend den Schmerz zu unterdrücken, der sich unablässig durch ihre Nervenbahnen schob. Doch sie konnte die Splitter nicht entfernen, die sich tief in ihr Fleisch gefressen hatten. Mit ausreichend Pech hatte eines dieser Dinger eine Ader getroffen und würde sie binnen weniger Sekunden verbluten lassen, ließe er sich überhaupt problemfrei herausziehen.
[erst an Deck, dann auf einem großen Treibgut liegend bei Enrique im Wasser | Liam in Hörweite]