20.08.2017, 14:56
Mit einem besorgtem Blick blieben die blau-grünen Augen an der Kopfwunde der Schwarzhaarigen hängen. Kurz überschlug Talin in Gedanken, welche Möglichkeiten sie hätten, wenn sie nicht ins Wasser sprangen. Das Ergebnis war denkbar einfach und ernüchternd: Gar keine. Ihnen blieb nur der eine Weg und sie würde ihr bestes tun müssen, damit Shanaya ihr nicht verreckte. Ihr Blick glitt noch einmal durch den Raum, blieb an Lucien hängen und sie musterte ihn kurz. Er würde es erst einmal ohne sie schaffen. Also konnte sie sich auf das Überleben des Mädchens konzentrieren. Das – trotz der Kopfwunde! - natürlich nicht um einen schlauen Kommentar verlegen war.
Talin schnaubte nur als Kommentar, während sie Shanaya aufhalf und dabei auf jedes Zittern und Schwanken achtete. Wenn sie den Zustand der schwarzhaarigen mit ihren geringen Kenntnissen beurteilen sollte, dann sah es echt schlecht aus, dass die Blonde sie beide über Wasser würde halten können. Ihr Blick glitt noch einmal zu Lucien und für einen kurzen Augenblick zögerte sie. Was sie wollte, hatte sie. Wenn sie gemein wäre, dann würde sie die Verletzte hier lassen, sich ihren Bruder schnappen und verschwinden. Für genau diesen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie das tun sollte. Nur leider sprach sich ihr viel zu weiches Herz dagegen aus. Shanaya stand ihr seit Beginn der Reise zur Seite und das wollte sie ihr sicher nicht vergelten, indem sie sie hier ließ. Also biss sie die Zähne zusammen, verdrängte den Gedanken an die Probleme im Wasser und stützte das andere Mädchen, um mit ihr von diesem verfluchten Kahn zu verschwinden.
Talin warf Shanaya einen zweifelnden Blick zu, während sie auf die Luke zu wankten. Wieso konnte dieses Mädchen nie, wirklich nie, die Klappe halten? Sie sollte ihre Kräfte sparen, doch stattdessen machte sie lahme Witze, über die die Blonde im Moment nicht einmal ansatzweise schmunzeln konnte.
„Ich schlag dich gleich mit dem Stuhl, damit du endlich die Klappe hältst“, zischte sie durch zusammengepresste Zähne. Danach schwieg sie, bugsiert sich beide aus der Luke heraus und sprang dann.
Als sie die Wasseroberfläche durchbrachen und das kalte Nass sie umschloss, schossen Talin tauschend Gedanken durch den Kopf, darunter auch die unsinnige Erleichterung darüber, keinen Rock anzuhaben.
Nur Sekunden, nachdem sie untergetaucht waren, brachte Talin sich und die andere mit kräftigen Bewegungen wieder nach oben. Mit ihrer freien Hand wischte sie sich einzelne Haarsträhnen aus den Augen, während ihr Griff um Shanaya fester wurde. Sie wagte nicht nach oben zu schauen, ob die anderen auch sprangen, sondern suchte angestrengt nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Zum Glück hatte sie recht gehabt. Im Wasser schwamm mehr als genug Treibgut herum, an das sie sich klammern konnten. Ein wenig veränderte sie ihren Griff um die Schwarzhaarige und bewegte sich dann langsam auf eines dieser Stücke zu. Ein stabil aussehendes, großes Stück Holz. Vermutlich ein Teil, welches von der Explosion fortgeschleudert wurde. Mit der freien Hand hielt sie sich daran fest und zog sich ein bissen darauf, um ihre Beine vom ständigen Wassertreten zu entlasten. Shanaya half sie dabei sich ebenfalls an das Holz zu klammern.
„Alles in Ordnung mit dir?“
Während sie das fragte, ließ sie nun doch den Blick schweifen. Überall im Wasser schwammen Trümmerstücke des Schiffes, sowie vereinzelt Menschen. Sie sah nicht lange genug hin, um sagen zu können, wer noch lebte oder jeden Moment sein nasses Grab finden würde. Stattdessen schaute sie zum Schiff, erstarrte leicht und riss gleichzeitig überrascht die Augen auf. Mit so einer Wirkung hatte sie nicht gerechnet. Ihr Wunsch diesen Seelenhändler zu zerstören, hatte Ausmaße angenommen, die sie nicht hatte vorhersehen können. Und dann erst die Geräusche! Laute Stimmen, ängstliche und schmerzverzerrte Schreie, das knacken des Holzes, während sich Flammen ausbreiteten und das Schiff gleichzeitig vom Wasser in die Tiefe gezogen wurde. Sie sah das alles, nahm es in sich auf, fühlte sich aber nicht schuldig. Es war die beste Möglichkeit gewesen und sie hatte sie ergriffen.
Ein Problem blieb allerdings: Sie sah niemanden von ihrer Crew. Kurz glaubte sie einen blonden Schopf aufblitzen zu sehen, doch schien es einer der Gefangenen gewesen zu sein, der weniger Glück als sie gehabt hatte. Unruhig auf ihre Unterlippe beißend, blickte sie zu Shanaya.
„Kannst du wen seh-“ Der Ruf ihres Namens unterbrach ihre Frage.
Sofort richtete sie sich ein wenig auf, brachte ihren Rettungsanker ins Wanken und sah sich aufmerksam um. Liam, sie hatte eindeutig Liams Stimme gehört. Aber bevor sie ihn genau ausmachen konnte, hörte sie jemand anderen ihren Namen rufen und der Lockenkopf war für den Moment vergessen. Ja, dort hinten Näher am sinken Schiff als ihr lieb war, schwamm auf einem Stück Holz treibend ihr Bruder.
„LUCIEN!“
Kurz sah sie zu Shanaya, ob diese einigermaßen sicher war, als sie die Hand, die sie um die andere geschlungen hatte, hob und hektisch winkte, um ihren Bruder auf sich aufmerksam zu machen. Sie hoffte, dass es die anderen auch sehen konnte, wenn sie noch lebten.
[Im Wasser | bei Shanaya | sieht Lucien]