15.08.2017, 18:45
Die Erschütterung im gewaltigen Rumpf der Morgenwind riss auch Lucien von den Beinen. Er taumelte im ersten Moment, kämpfte noch um sein Gleichgewicht, bevor er – erneut – unfreiwillige Bekanntschaft mit dem Neunpfünder von gestern machte. Laute, panische Rufe drangen dumpf durch die geschlossene Tür der Kajüte. Befehle wurden gebrüllt, die er in dem Chaos kaum verstehen konnte. Dann erzitterte die Fregatte unter ihrem eigenen Hauptmast, der sich – aus seiner Verankerung im Rumpf gesprengt – langsam bedrohlich Richtung Achterdeck neigte.
Lucien schüttelte die Benommenheit ab, die die Explosion hinterlassen hatte und suchte fast sofort danach den Raum nach seiner Schwester ab. Zu aller erst, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Wohl aber auch mit der stummen Frage nach der Ursache für die Erschütterung. Talin kniete neben ihrer Begleiterin, die offenbar einen der losen Gegenstände abbekommen hatte. Dann erinnerte er sich an die im ersten Augenblick so nebensächlichen Worte der Dunkelhaarigen. Jemand auf ihrem Schiff bekäme ein Zeichen. Erst da fiel bei ihm der Groschen. Sollte das etwa das Zeichen gewesen sein? Sie sprengten das verdammte Schiff?
Doch Zeit für irgendwelche Kommentare blieb ihm ohnehin nicht. Die Morgenwind neigte sich bereits bedrohlich. Das Loch in ihrem Bauch musste riesig sein. Unmengen an Wasser zogen den Dreimaster bereits in die Tiefe. Der Sprung aus dem Gunport würde jetzt jedenfalls nicht mehr so tief ausfallen, wie noch vor ein paar Minuten. Talin hatte Recht. Keine Zeit zu verlieren. Lucien hatte jedenfalls nicht vor, zusammen mit diesem elenden Kutter abzusaufen. So eng fühlte er sich diesem Schiff dann auch nicht verbunden.
Mühsam kam er wieder auf die Beine. Seine Schwester und die kleine Schwarzhaarige waren die ersten, die sprangen. Der Lockenkopf, der zu ihnen gehörte, setzte ihnen ohne zu zögern nach. Der Attentäter schloss sich an und für einen wahnwitzigen Moment lächelte der 21-Jährige grimmig.
Heute morgen noch hatte er sich mit der Tatsache fast angefreundet, im Gefängnis drauf zu gehen und seine Schwester, den Himmel, die Welt nie wieder zu sehen. Und jetzt, keine 24 Stunden später, stand er in der Kajüte des Leutnants, seine Schwester wartete bereits da draußen, sie hatten ein Schiff gesprengt, und einer der gefürchtetsten Auftragsmörder der Ersten Welt stand in seiner Schuld. Und es trennten ihn keine zwei Schritte von der Freiheit, auf die er fast drei Jahre gewartet hatte. Seltsamerweise schien alles, was heute passiert war, auf diesen Moment hinaus gelaufen zu sein. Die Tatsache, dass man ihn separat zur Morgenwind brachte. Sein Gespräch mit dem Leutnant. Diese eine volle Mahlzeit. Selbst die Männer, mit denen er sich die Zelle geteilt hatte. Alles führte bis zu diesem Punkt.
Dennoch machte er keine Anstalten, endlich aus dem Gunport zu springen. Statt dessen huschte sein Blick zur Tür zurück, durch die zuletzt nur Talins Begleiter und der Gefangene gekommen waren. Letzteren hatte er bei seinem Eintreffen kurz, aber intensiv gemustert. Konnte sich jedoch nicht erinnern, ihn in Rawats näherem Umfeld gesehen zu haben und überließ deshalb auch seiner Schwester die Entscheidung. Immerhin war das hier ihre Befreiungsaktion – ob es nun um ihn ging, oder nicht.
Doch wo blieb der Leutnant und ihr bärtiger Freund? Der Sergeant, der sich auf ihre Seite geschlagen hatte? Denn auch Lucien hatte noch eine Schuld zu begleichen.
Die Morgenwind ächzte vernehmlich, neigte sich immer deutlicher und die Truhe, die die Schwarzhaarige zuvor in ihre Richtung geschubst hatte, rutschte über die Planken, weg von ihm, in eine Ecke des Raumes.
Er konnte nicht länger warten.
Mit einem leise frustrierten Laut riss der Dunkelhaarige sich los, streifte für einen Moment den Fremden, der ihnen bis hier her gefolgt war und wandte sich dann dem Gunport zu.
„Sieh zu, dass du dran bleibst. Sonst haut deine Mitfahrgelegenheit ohne dich ab.“
Er sah nicht noch einmal zurück, sondern schob den Oberkörper durch die schmale Öffnung und stieß sich ab.
Der Fall fühlte sich länger an, als er ausgesehen hatte. Dann tauchte er plötzlich und unvermittelt in die kalten Fluten und die Wellen schlugen über seinem Kopf zusammen, schluckten ihn zur Gänze. Salzwasser fraß sich in die frischen Wunden, in das aufgeschürfte Fleisch an seinen Handgelenken, doch der Schmerz verging fast so schnell, wie er gekommen war.
Mit einem kurzen Zug seiner Arme zog Lucien sich über die Wasseroberfläche, schüttelte sich kurz die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht und hielt sich schwimmend an der Luft. Lange würden seine kaum noch vorhandenen Muskeln ihn jedoch nicht oben halten. Er brauchte also dringend ein Stück Holz (die Truhe war ihm ja kurz vorher davon gerutscht). Und das war auch nicht sein einziges Problem. Denn Schwimmhilfe oder nicht – als nächstes würde er vermutlich erfrieren.
„Am Ende verreck' ich also doch an der Lungenentzündung...“, knurrte er einzig und allein zu sich selbst und zog sich mit ein paar kraulenden Schwimmzügen zu einer großen, an beiden Enden abgesplitterten Planke, die kaum zwei Meter von ihm entfernt auf den Wellen schaukelte. Er zog sie unter seinen Oberkörper, hielt sie mit beiden Armen fest, sodass nur noch Unterbauch, Hüfte und Beine im Wasser lagen und er letzteres nutzen konnte, um sich vorwärts zu bewegen.
Dann hob er den Blick zu dem gewaltigen Schiff, das sich behäbig neigte. Oben an Deck rannten noch immer Männer herum. Die Beiboote wurden zu Wasser gelassen, doch viele sprangen einfach so. Überhaupt hatten sie es alle ziemlich eilig und als Lucien das rote Glühen im Rumpf der Morgenwind bemerkte, ahnte er auch, warum. Sie hatte Feuer gefangen.
Der junge Mann wandte sich ab.
„TALIN?!“