16.07.2017, 13:20
Die beiden hatten den Blick zurück zur Seepferdchen gerichtet und sich angeregt über den Sturm unterhalten gehabt, als Cornelis auf die Kiste zuwankte. Erst durch den Ausruf des Jungen wurden sie auf die Situation aufmerksam, konnten jedoch nicht mehr eingreifen. Als das Unglück geschehen war und Enrique sie wegen ihrer Untätigkeit anfauchte, schüttelte einer der beiden nur den Kopf und sagte gedämpft: "Du kennst van der Meer nicht, Junge." Doch keiner der beiden verübelte ihm, daß er nicht verstehen konnte, daß es Cornelis mehr verletzt als geholfen hätte, wenn sie ihm direkt wieder aufgeholfen und ihm damit seine neue Hilflosigkeit deutlich gemacht hätten.
Cornelis selbst brauchte eine ganze Weile, bis er wieder so weit war, daß der explodierte Schmerz in seinem Kopf zu einem dumpfen Pochen zurückgegangen und die Übelkeit erfolgreich bekämpft war. Mühsam richtete er sich in eine sitzende Position auf. Dieser Sturz steigerte seine Verzweiflung noch. Nie wieder würde er die Planken eines Schiffes betreten, so frei und stark sein können wie in der Freiheit der endlosen See. Er war ein Krüppel und würde hier an Land verdorren, bis er schließlich sterben würde. Die Binde verhinderte, daß irgendjemand die stummen Tränen sah, die sich seinen Augen entwandten, doch die hart aufeinander gepressten Lippen waren Zeugen seiner verzweifelten Lage. Kapitän O´Mahony hatte ihm klugerweise alle Waffen abnehmen lassen einschließlich seines scharfen Messers. Er kannte Cornelis gut genug um zu wissen, daß die Seefahrerei sein Leben war und er durchaus im Stande sein würde, seinem Leben ein Ende zu setzen, sähe er keine Möglichkeit mehr, dieses Leben weiterführen zu können. Auf Dauer würde er dies natürlich nicht verhindern können, doch er mußte verhindern, daß sich Cornelis in der ersten Verzweiflung bereits etwas antun würde.
Mit einem Male spürte Cornelis durch seine Gedanken die Anwesenheit eines anderen direkt bei ihm. Seine erste Reaktion war eine abwehrende Haltung einzunehmen in der Annahme, daß es sich um einen seiner Kameraden handeln würde. Doch dann drang eine unbekannte Stimme an sein Ohr, als Enrique ihn zum wiederholten Male fragte, ob er ihm helfen könne. Die Stimme war hoch, die einer Frau? Doch nein, sie klang anders, jünger - ein Knabe? Unwillkürlich hob er eine Hand in die Richtung der Stimme, um sein Gegenüber zu berühren, ein recht unbeholfener Versuch sein fehlendes Augenlicht zu ersetzen.
"Wer bist du?"
Seine sonst so kräftige und tiefe Stimme klang schwach und brüchig. Doch auf eine unerklärliche Weise beruhigte die Anwesenheit des Knaben sein aufgewühltes Gemüt. Es war etwas anderes als immer das unterdrückte Mitleid seiner Schiffskameraden zu spüren.
"Kannst du mich zu einem Arzt bringen? Meine Wunde muß noch genäht werden."
Die beiden Seemänner verfolgten mit verwunderten Blicken die Wandlung van der Meers, sahen es jedoch auch gerne, daß er sich ein wenig beruhigte, und so ließen sie den Jungen gewähren. Einer der Männer nahm Enrique kurz zur Seite, als dieser sich bereit erklärt hatte, Cornelis zu einem Arzt zu bringen und sagte leise zu ihm: "Sieh zu, daß van der Meer im Moment nicht an ein Messer oder andere Waffen kommt. Das ist ein Befehl von Kapitän O´Mahony, verstanden?" Dann entließ er diesen aus seinem kräftigen Griff und ging mit seinem Kameraden an die Arbeit auf der Seepferdchen.