29.06.2017, 09:23
Nur mit Mühe unterdrückte Talin ein Seufzen. Sie konnte Liams Bedenken durchaus verstehen, denn auch sie mochte es nicht, grundlos irgendjemanden umzubringen. Aber manchmal erforderte eine Situation eben solche drastischen Maßnahmen. Und dann konnte sie auch nicht das nötige Mitgefühl aufbringen für die Hinterbliebenen. Ja, es mochte kaltherzig und gewissenlos klingen, aber was sollte sie machen? Wenn sie alles gegeneinander abwog, dann zählte das Leben und die Sicherheit ihrer eigenen Leute mehr, als das der Männer auf diesem Schiff. So einfach war es.
Aber in diesem Augenblick hatten sie nicht die Zeit für irgendwelche Diskussionen über moralische Bedenken. Es gab wichtigeres zu tun. Deshalb sah sie nur einmal kurz zu Liam und lächelte ihn milde an.
„Du bist ein waschechter Pirat. Zumindest meiner Meinung nach. Das heißt ja nicht, dass du keine Prinzipien hast, sondern einfach nur, dass du die Freiheit liebst.“
Das machte die Piraterie für sie aus, auch wenn es vermutlich nach einem Kleinmädchentraum klang. Aber auch dafür hatten sie eigentlich jetzt keine Zeit.
Schon wollte sie sich wieder Shanaya zu wenden, in dem Verlass darauf, dass Liam und Aspen verschwinden würden, als ihr das Fass aus der Hand genommen wurde. Da es hier unten niemanden weiter gab, wusste sie sehr genau, wer es gewesen war, dennoch drehte sie sich schnell um und zog fragend beide Augenbrauen hoch. Aber Liam gab ihr keine Erklärung, sondern stellte nur klar, dass weder sie noch Shanaya widersprechen und schon mal verschwinden sollten. Ungläubig starrte sie ihn an, bevor sie trotzig die Arme vor der Brust verschränkte. Hatte sie nicht gerade noch klar gestellt, dass sie, trotz einiger Bedenken, immer noch Spaß daran haben würde, dieses Schiff in die Luft zu jagen? Wieso sollte sie ihm dieses Vergnügen jetzt überlassen? Talin wollte ihm widersprechen, wollte sich das Fass zurückholen und selbst alles in Gang setzen. Nach den Bedenken, die Liam geäußert hatte, zweifelte sie, ob er den zündenden Funken auf die Pulverspur überhaupt fallen lassen würde. Auf der anderen Seite war er Teil ihrer Crew und sie wollte ihm vertrauen, wollte, dass es funktionierte. Also schluckte sie ihren Trotz und das kindische Verlangen, selbst das Streichholz zu werfen, herunter und lockerte ihre Arme.
„Also gut. Wir werden gehen. Aber beeil dich lieber! Ich sähe es nur ungern, wenn du mit hochgehst. Wir rennen aufs Kanonendeck und springen durch die Kanonenscharte ins Wasser. Das dürften wir hoffentlich überleben.“
Diese grimmigen Worte begleitete ein belustigtes Lächeln ihrerseits, bevor sie sich umdrehte und Shanaya folgte, die schon in Richtung Treppe unterwegs war und nach Sineca rief. Bei den Worten der dunkelhaarigen huschte noch einmal ein kurzes Lächeln über Talins Gesicht. Sie konnte diesmal nicht ganz mit dem anderen Mädchen übereinstimmen, aber darüber konnten sie auch später noch sprechen. Momentan zählte es nur von hier weg zukommen.
„Weniger reden, mehr laufen. Wir können uns nachher über Männer im Allgemeinem und meinem Bruder im Besonderen unterhalten.“
Damit lief sie zügig vor dem anderen Mädchen die Treppe hoch, ignorierte die lauter werdenden Geräusche um sie herum. Zumindest soweit, bis Shanaya auf einmal angesprochen wurde. Talin biss sich verärgert auf die Innenseite ihrer Wange. Einige der Gefangenen hatten sich befreit, dank Liams Hilfe, und stellten nun fast ein größeres Problem dar, als die Marine. Die Männer hier hatten nichts zu verlieren, nur alles zu gewinnen. Alles war besser als ins Gefängnis zu gehen. Im Moment mochte die Anfrage noch höflich gestellt worden sein, aber wer wusste schon, wann die Stimmung umschlagen würde. Also packte Talin Shanaya beim Arm und sah sie eindringlich an, bedeutete ihr zu rennen, damit sie endlich von hier verschwinden konnten. Dann wandte sie ihren Blick dem zu, der gerufen hatte, legte den Kopf schief und musterte ihn kurz mit kalten Augen.
„Wenn ihr es lebend ins Wasser schafft, sehen wir weiter.“
Es waren nicht die Worte, diese am liebsten gesagt hätte. Aber sie hoffte, dass diese die Männer davon abhielten, sie sofort anzugreifen, weil sie ihr Angebot abgelehnt hatte. Dann drückte sie einmal kurz Shanayas Arm, bevor sie los ließ und zur Treppe hechtete und dabei fast in die Arme ihres Bruders lief.
„Nicht stehen bleiben, laufen! Runter von diesem verfluchten Kahn!“
[Frachtraum | dann auf dem Weg nach oben | mit Shanaya, Sineca und Aspen | Treppe zum Kanonendeck]