01.06.2017, 11:19
Zugegeben, sein Angebot kam unverblümt, aber nicht unüberlegt. Zwar hatte Lucien keinen einschlägigen Grund, dem Mann zu vertrauen. Aber er hatte auch keinen für das Gegenteil – bis auf den Umstand, dass er zur Marine gehörte.
Auch Talin, die ihm in solchen Dingen immer schon sehr ähnlich war, schien keine Einwände zu haben, als sie sich kurzerhand eines weiteren Soldaten entledigte und sich dann an seine Seite gesellte. Mit einer flüchtigen Berührung sicherte sie sich die Aufmerksamkeit ihres Bruders. Eine erste, so kurze Berührung nach langen drei Jahren, die ihm trotz der momentanen Zwangslage einen Anflug vertrauter Wärme durch die Brust sandte. Für wenige Sekunden löste der Dunkelhaarige den Blick von dem Leutnant, begegnete dem Talins und nickte knapp, um ihr zu zeigen, dass er verstanden hatte. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu dem Offizier zurück.
Die Überraschung auf dessen Gesicht sprach Bände. Was auch immer ihn dazu trieb, der Gruppe Zeit zur Flucht zu verschaffen – über die Möglichkeit, sich ihnen anzuschließen, hatte er entweder noch nicht einmal nachgedacht, oder es schlicht als unmöglich abgestempelt.
Doch wie er sich letzten Endes entschied, hätte er kaum deutlicher machen können. Im ersten Moment noch sichtbar hin und her gerissen, gab er sich kurz darauf einen Ruck, zog seinen Degen und rammte ihn dem verbliebenen Soldaten in den Körper. Ein Hauch Zufriedenheit blitzte in den grünen Augen auf, als er die Waffe sinken ließ. Doch statt der Aufforderung seiner Schwester nun zu folgen, die sie nach unten in den Frachtraum schickte, wies der Marinemann eine andere Richtung. Nach oben.
Der 21-Jährige hatte Talin nicht widersprochen. Zwar wusste er, dass der Morgenwind das Wasser bis zu diesem Deck reichte und es im Frachtraum deshalb wohl kaum eine Luke nach draußen geben würde, aber auch ihr war das mit Sicherheit bewusst. Wenn sie dennoch einen Plan hatte, vertraute er ihrem Urteilsvermögen. Jetzt jedoch begegneten sich die Blicke der Geschwister erneut und der fragende Ausdruck auf Talins Zügen machte ihm schnell klar, dass sie seine Einschätzung verlangte.
Nun ja. Mit ziemlicher Sicherheit wusste der Offizier um die Hundertschaft Soldaten, die ein Deck über ihnen im gellenden Glockengeläut gerade aus ihren Hängematten fielen. Aber unter Umständen hatte er eine andere Idee, wie er ihnen die Flucht ermöglichen konnte – oder er ließ die ganze Gruppe eiskalt ins Messer laufen. Fakt war, auch Lucien wusste es nicht besser. Also zuckte er kurzentschlossen mit den Schultern. Nicht aus Gleichgültigkeit. Seine Geste ließ nur ein stummes warum nicht? verlauten. Talin würde wissen, was er meinte. Damit bekam der Leutnant die Gelegenheit, zu beweisen, was für ein Mann in ihm steckte – und ob Luciens Angebot sich als falsche Entscheidung heraus stellte. Erschießen konnte er ihn dann immer noch.
Dieses Mal war es an Talin, mit einem Nicken zu bestätigen. Ihr Plan sah jedoch scheinbar immer noch etwas anderes vor. Denn mit wenigen Worten lotste sie die kleine Schwarzhaarige zu sich und machte sich auf den Weg in den Frachtraum. Unwillkürlich runzelte Lucien die Stirn. Weniger über die Entscheidung seiner Schwester, als über den Abgang, den ihre Begleiterin ihnen bot und er kam nicht umhin, sich einen Sekundenbruchteil lang zu fragen, was das für ein Haufen Menschen war, den sie mit auf dieses Schiff geschleppt hatte. Trotzdem.. besorgniserregend amüsant.
Doch er schwieg, und während die beiden Frauen ein Deck tiefer verschwanden, richtete er die grünen Augen auf den Bärtigen, der immer noch mit dem Degen in der Hand neben ihm stand und dem Leutnant hinterher starrte. Hinter seiner Stirn schien es auf Hochtouren zu arbeiten. Erst, als Lucien ihn ansprach, riss er sich vom Anblick der Treppe los.
„Ich mache dir das gleiche Angebot, wie ihm.“
Mit ruhiger Stimme nickte er in Richtung der Treppe. Es dauerte einen Moment, einen quälend langen Moment, in dem das Schlurfen zahlloser Füße auf dem Deck über ihnen zunahm, ehe Zaedyn sich entschied – und nickte. Ganz der Mann weniger Worte, als den er ihn bereits kennen gelernt hatte. So weit so gut.
Lucien wandte sich um, richtete den Blick auf die Treppe zum nächsthöheren Deck. Der Zellentrakt hatte sich bis auf die laut gröhlenden Gefangenen inzwischen fast vollständig geleert. Nur noch der Blonde aus Talins Mannschaft stand im Gang unmittelbar an dem Loch zum Frachtraum und auf den letzten Stufen des Aufgangs entdeckte er den Attentäter. Doch dessen Schritte wirkten merkwürdig schwerfällig im Vergleich zu den eleganten Bewegungen vor wenigen Minuten. Auch seine Kräfte ließen rapide nach – nicht verwunderlich angesichts der langen Zeit in Gefangenschaft. Kämpfen würden sie nicht können, keiner von ihnen. Blieb zu hoffen, dass der Leutnant sie nicht betrog.
Die Züge stoisch konzentriert setzte Lucien dazu an, seinem ehemaligen Zellengenossen zu folgen, als ihm eine Bewegung am Fuße der Treppe auffiel. Einer der Soldaten, die der Attentäter wohl zuvor ausgeschaltet haben musste, kämpfte sich taumelnd zwischen seinen sonst leblosen Kameraden auf die Knie. Die Linke presste er an seine Blut überlaufene Seite, während er mit entschlossener Miene langsam die zitternde Rechte hob, in der er seine Pistole hielt. Ein letztes Aufbegehren gegen seinen Henker.
Die Mündung der Waffe richtete sich auf den Rücken des ehemaligen Häftlings, dann knallte ein Schuss durch den Rumpf der Morgenwind. Dem Soldaten rutschte die unbenutzte Pistole aus der Hand, dann sackte der Mann nach vorn und schlug auf den unteren Stufen der Treppe auf.
Lucien war stehen geblieben, hatte seine eigene Waffe gehoben und abgedrückt, bevor er lange darüber hätte nachdenken können, was es bedeutete, dem Attentäter den Arsch zu retten. Und in diesem Moment einen Schuss abzufeuern. Irrsinnigerweise tauchte nur das Bild seines eigenen, fünf Jahre alten Ichs in seinen Gedanken auf, das auf das Fahndungsplakat an der Tavernenwand starrte. So viel Sentimentalität hätte er sich längst nicht mehr zugetraut, doch sei es drum. Er ließ die nun unbrauchbare Pistole fallen, fragte sich nur kurz, ob die kleine Schwarzhaarige ihm diesen Verlust am Ende übel nehmen würde und nahm die ersten Stufen der Treppe Richtung Kanonendeck. Im Vorbeigehen griff er sich statt dessen die geladene Waffe des Soldaten, ehe sein Blick weiter zu dem Attentäter wanderte.