16.05.2017, 19:35
Der kurze Moment, in dem er den am Boden liegenden Soldaten gemustert hatte, ehe er sich wieder auf den Rest um sie herum konzentrieren musste, hatte gereicht, um wahrzunehmen, dass er offensichtlich gar nicht mal so schlecht getroffen hatte. Ob die Nase des Marienesoldaten nun krummer war als zuvor oder nicht, konnte er nicht deuten – dazu hatte er ihn sich davor zu wenig angesehen – aber Blut war für ihn eine ausreichende Gegenleistung für die Schmerzen, die allmählich in seinen Lenden verklangen. Trotzdem war er nicht nachtragend und half Kaladar auf die Beine, als er nach seiner Hand griff und seine Entscheidung, ihnen eine Hilfe zu sein, damit besiegelte. Im Gegensatz zu den feinen Zügen des Mannes ihm gegenüber allerdings zeichnete sich auf Liams Miene ein breiteres Lächeln ab – unabhängig von der Entscheidung, die gerade vor ihm gefallen worden war. Ihn erfreute schlicht ihr Erfolg, den sie zu verbuchen hatten. Sineca hatte den ersten der Soldaten vor ihnen zu Boden gerungen und seine Visage mit ihren feinen, scharfen Krallen malträtiert, ehe sie stolz und mit der langen Rute peitschend auf seiner Brust sitzen blieb. Anerkennend fing der Lockenkopf den Blick seiner Gefährtin auf, bis sie beide Sekunden später förmlich erstarrten. Der Griff um seinen Dolch verfestigte sich abermals, als die schrillen Alarmglocken durch den hölzernen Körper des Gefangenentransporters hallten – verdammt, sie mussten sich beeilen! Sie waren so weit gekommen, das würden sie sich jetzt doch unmöglich nehmen lassen. Die ruckartige Bewegung neben ihm riss ihn aus seiner Starre. Dass Kaladar offenbar ihn meinte, als er sich umwandte und etwas die Treppe herunter rief, war ihm erst wirklich bewusst, nachdem er sich nach einem anderen Empfänger für ihre Nachricht umgesehen hatte und feststellen musste, dass sich der Rest bereits ein wenig weiter zurückgezogen hatte. Der Kampf hier unten hatte ein Ende wie es schien und ihnen stand – wenn sie sich beeilten – nichts im Wege, auch den Rest ihres Plans in die Tat umzusetzen.
Dennoch – er zögerte einen Moment, obwohl Kaladar ihn mit der Herausforderung in seiner hellen Stimme durchaus bereits am Haken hatte, denn Liam war alles andere als ein waschechter Pirat. Er war kein skrupelloser Mörder, kein gewissenloser Verbrecher, sondern schlicht ein Freigeist, der eben das tat, wozu er auf der Welt zu sein glaubte: Frei sein. Natürlich nahm er Regeln und Gesetze nicht sonderlich eng, hatte kein Problem damit, sich hier und da zu bereichern, wenn es anders eben nicht ging, aber er ging ganz bestimmt nicht über mehr Leichen als notwendig. Die Leidenschaft, mit der Kaladar ihnen allerdings zur Hilfe eilen wollte, überraschte ihn und brachte selbst ihn, der sich sonst um so wenig Gedanken machte, ins Grübeln. Entweder es war eine Falle seinerseits oder er war eigentlich ein ursprünglicher Gefangener, der sich unabhängig von ihnen befreit und mithilfe eines gewaltigen Tricks in die Reihen der Marine geschleust hatte, um irgendwann die Möglichkeit zu nutzen und ebenfalls zu fliehen. Oh, in seinem Kopf brodelte es bereits, doch jetzt war nicht die Zeit dazu, neue Geschichten zu erspinnen – nicht, bevor sie dieses Kapitel nicht beendet hatten. Von hinten hörte er Talins Stimme und fasste schließlich einen eigenen Entschluss. Er hob zwei Finger und pfiff, um sich kurz die Aufmerksamkeit zu sichern.
„Nehmt Sineca mit!“, rief er Shanaya zu und wies kurz auf die Ginsterkatze, die noch immer auf ihrem Opfer stand, dann wandte er sich um und folgte Kaladar nach oben.
Im hinteren Teil des Decks konnte er das Gewimmel der Soldaten erkennen. Er hielt förmlich die Luft an bei der Anspannung, die ihm in die Glieder fiel. Der Lärm des Kampfes fehlte ihm mit einem Mal und er fühlte sich, als würde ihn jeder Schritt verraten können. Liam drückte sich in den Schatten und stellte nach wenigen Schritten fest, dass das der gleiche Weg gewesen war, den auch Kaladar genommen hatte. Was er da allerdings tat, wusste er im fahlen Licht nicht zu deuten. Mit zusammengekniffenen Augen und dem Dolch in der Hand nährte er sich dem ehemaligen Feind und konnte schließlich nur erahnen, welchen Plan er da zusammenschusterte. Damit bestärkte er seine Annahme des geflüchteten Gefangenen eher nur als dass er sie widerlegte. An sich klang es nach einer spaßigen Idee, aber ihre Lage war zu prekär, als dass es eine schlaue Handlung gewesen wäre, den Boden, auf dem sie schwammen, nun auch noch zu durchlöchern. Das Schiff untergehen zu lassen, war nie ihre Absicht gewesen und auf all die 'unschuldigen' Opfer konnte Liam zumindest sehr gut verzichten. Noch bevor er den Mund aufmachen konnte, drang von weiter vorne ein lauter, durchdringender Ruf. Er warf den Kopf über die Schulter und erkannte die Umrisse des Offiziers, der alles daran setzte, ihnen den Rücken freizuhalten – wo waren sie da eigentlich hineingeraten? Nicht, dass er es bedauerte, aber die Loyalität bei der Marine war offensichtlich noch schlechter als bei der Piraterie.
„Was auch immer dir die armen Schweine getan haben, dass du sie alle meucheln willst – ich halt' dich nicht von deinem Selbstmordkommando ab. Das Schiff in die Freiheit fährt auch ohne dich ab.“, zischte er dem Kleineren entgegen. „Wenn sich dein Offizier und du schon beide dazu entscheidet, gegen Euresgleichen zu arbeiten, ist's vielleicht nicht das schlauste, trotzdem noch gegeneinander zu arbeiten.“
Damit wandte er sich um. Seine Schritte gingen in den Geräuschen der Soldaten unter, eher er sich wieder nach unten stahl. Auf seinem Weg den anderen hinterher fiel ihm der herrenlose Zellenschlüssel ins Auge, den offenbar nicht nur er gesehen hatte, denn die Meute der Gefangenen tobte noch immer in ihren Gefängnissen. Er stockte kurz, lief dann aber weiter und kickte das Metall kurzerhand mit einem „Und hep!“ in die Richtung der Zellen. Das würde ihnen hoffentlich noch weitere Zeit gutschreiben.
„Keine Müdigkeit vortäuschen! Die Meute sollte uns auch noch etwas Zeit verschaffen. Wer mitfahren will, bitte Fahrkarten ziehen und am Ausgang einfinden!“, rief er den Übrigen zu, die ihnen geholfen hatten und huschte weiter in die Richtung des Frachtraums.
Dem Rest waren seine Worte mit Sicherheit entgangen – der war damit beschäftigt, sich um den Schlüssel zu streiten. Wenn Kaladar sich nicht beeilte, würde auch er es schwer haben, ihnen zu folgen.
„Wir sollten uns jetzt ein wenig beeilen.“, überlegte er laut, als er Talin und Shanaya erblickte. Dabei klang er tatsächlich ein wenig besorgt ob der Tatsache, welches Chaos er wahrscheinlich dort oben angerichtet hatte. „Pulverfässer? Neben Prinz Eisenherz' Kiste müssten welche sein.“
Er hatte die Worte der Blonden gerade noch aufgeschnappt, sah aber davon ab, nun selbst danach zu gucken. Dazu waren die beiden anderen viel näher dran.