11.05.2017, 10:19
Rayon hatte keinen emotionalen Bezug zu dem Mann, den die Crew der Sphinx in eben diesem Moment zu retten versuchte. Er kannte ihn nicht, hatte ihn nie gesehen, wusste nicht, ob er ein angenehmer Zeitgenosse oder ein fairer und weiser Captain war. Trotzdem war er nervös und konnte sich angesichts der Ereignisse, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Gefangenentransporter der Marine stattfinden mussten, nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Der Smutje war schon immer ein empathischer Mensch gewesen, und die Unruhe der Crew kurz vor dem Beginn ihrer Mission sowie der wenigen Piraten, die gemeinsam mit ihm auf der Sphinx geblieben waren, strahlte auch auf ihn über und ließ ihn den Erfolg der Unternehmung herbeisehnen. Immerhin war er genau dafür zur Mannschaft der Sphinx gewechselt und hatte die Sirène, die ein Jahr lang sein schwimmendes Zuhause gewesen war, verlassen - das Schiff, das vor vielen Jahren sein Heimatdorf vor der Korruption und Willkür einiger sich selbst überschätzender Marinesoldaten gerettet hatte. Für ihn war es eine Sache der Ehre gewesen, sich freiwillig dafür zu melden, um seine Schuld gegenüber Captain Tarlenn zurückzuzahlen und zumindest bisher hatte er es noch nicht bereut, denn die Crew der Sphinx schien ebenso aus ehrenhaften Männern und Frauen zu bestehen, die dem Piratenhandwerk nicht nur nachgingen, um möglichst vielen Menschen die Kehle durchzuschneiden. Nur die Kombüse, sein Reich, war in einem katastrophalen Zustand gewesen, doch auch da hatte er bereits Abhilfe geschaffen und dafür gesorgt, dass er seinem Handwerk vernünftig würde nachgehen können, sobald die Mannschaft wieder vollständig war.
Seufzend legte er das scharfe Messer beiseite, das er soeben noch in der Hand gehalten und dessen Klinge er nachdenklich geschliffen hatte. Es war still auf dem Kanonendeck, viel zu still für seinen momentanen Gemütszustand. Der Wellengang war derart ruhig, dass das Rauschen des Wassers nur gedämpft in die Räumlichkeiten drang und selbst die Planken des Schiffs knarrten kaum unter der Belastung. Einzig das Schnarchen Trevors, der bei seinem Alkoholkonsum mal wieder die für ihn typische Kurzsichtigkeit bewiesen hatte, durchdrang ab und an die Ruhe. Der Dunkelhäutige bedachte ihn kopfschüttelnd mit einem tadelnden Blick, den der junge Pirat natürlich nicht wahrnahm, und öffnete dann behutsam und so lautlos wie möglich eines der Vorratsfässer. Aus diesem angelte er sich zwei Stücke gepökeltes Trockenfleisch, verschloss das Fass wieder sorgsam und machte sich dann auf den Weg an Deck, um Greo Gesellschaft zu leisten, der dort die Morgenwind im Blick behielt und auf das Signal wartete, mit dem ihr Einsatz bei dieser Mission beginnen würde. Vielleicht würde der Seemann sich darüber freuen, seine Aufgabe nicht allein bewältigen zu müssen - und vier Augen sahen schlussendlich besser als zwei.
Die Nacht war zwar kühl, aber für einen Mann, der das Leben auf See mittlerweile gewohnt war, durchaus nicht unangenehm. Der bewölkte Himmel gewährte nur gelegentlich einen kurzen Blick auf den Mond, doch die Sicht war gut genug, um die Lichter der Morgenwind auch aus dieser Entfernung klar erkennen zu können. Regen oder Nebel wäre in ihrer Situation ein großes Problem gewesen, doch glücklicherweise schien die Natur ihrem Vorhaben gewogen zu sein. Kurz schaute er sich um, erblickte Greo am Steuerrad auf dem Achterdeck, erklomm die wenigen Treppenstufen an Backbord und gesellte sich zu dem jungen Mann, der seinen Blick aufmerksam auf den Horizont gerichtet hielt.
"Ich weiß nicht, ob dir die Anspannung eher auf den Magen schlägt oder dich hungrig macht", sagte er und hielt Greo mit einem warmen Lächeln einen der Fleischstreifen hin. "Aber da wir uns nicht alle hemmungslos besaufen können, finde ich, dass etwas zu essen jetzt genau das Richtige ist." Der Seitenhieb in Richtung Trevor war natürlich offensichtlich, auch wenn er ihn ohne jeglichen Missmut in der Stimme aussprach. Er kannte den ungestümen Kämpfer gut genug und nahm ihm seine kurzsichtigen Handlungen nicht übel - auch deshalb, weil er in dessen Alter selbstverständlich ebenfalls noch nicht die Ruhe und Umsichtigkeit entwickelt hatte, die ihn heute ausmachten.
[ Kombüse der Sphinx -> Achterdeck der Sphinx | allein -> bei Greo ]