19.04.2017, 12:49
Es war faszinierend, wie schnell man vergessen oder zumindest nicht mehr beachtet wurde, wenn man sich nur still im Hintergrund hielt. Mit schnellen, aufmerksamen Blicken, erfasste sie die Situation, die sich vor ihr abspielte. Shanaya und Liam hatten ganze Arbeit geleistet, indem sie den betrunkenen Soldaten aufgestachelt hatten. Innerlich grinste Talin über das Talent der beiden, doch nach außen hin blieb sie angespannt und ihr Herz schlug, als wolle es gleich herausspringen. So war es nicht geplant gewesen, verdammt noch mal!
Für einen kurzen Augenblick gingen ihr ein paar 'Was wäre wenn...'-Szenarios durch den Kopf, denen sie allen hinterher trauerte. Doch so schnell sie gekommen waren, so schnell fand sie sich auch mit der neuen Lage ab und arbeitete an einem neuen Plan, der in ihrem Kopf langsam Gestalt annahm. Jetzt war nicht die Zeit, sich nett mit den anderen zusammenzusetzen und darüber sie diskutieren, wie sie am besten vorgingen. Sie mussten handeln, doch dafür brauchten sie erst einmal den Schlüssel.
Noch einmal glitt der grünblaue Blick über den Tumult, bevor sie zu ihrem Bruder sah und ihn schief angrinste.
„Tja, jetzt heißt es improvisieren.“
Und mit diesem eigentlich wenig vertrauenerweckenden Kommentar, beugte sie sich runter, setzte vorsichtig die Kiste ab und öffnete sie. Lange verweilte sie allerdings nicht mit ihren Gedanken bei der Katze, sie hoffte nur, das schlaue Tier würde für ein bisschen Ablenkung sorgen, als sie auch schon mit den Fingern ihrer einen Hand in ihrem Stiefel rumtastete. Als die Fingerspitzen das warme Metall berührten, zog sie den Dolch langsam heraus. Sobald er in ihrer Hand lag, drehte sie ihn herum, damit keiner die Waffe in ihrer Hand sah. So ruhig wie möglich richtete sie sich wieder auf und sah sich einem anderen Bild gegenüber.
Gerade noch hatte der eine Betrunkene so lautstark nach einem Kampf mit den Gefangen verlangt und plötzlich lag er auf einem der beiden wachhabenden, wichtigen Marinetypen. Talin blinzelte kurz überrascht und ließ dann den Blick zu dem schwarzhaarigen gleiten, der dem Angeheiterten zwar ausgewichen war, jetzt aber mit dem Rücken zu einer Zelle stand. So einfach wendete sich also das Blatt.
Aber für den Moment ließ sie es bleiben, noch war nicht der perfekte Moment gekommen, um sich einzumischen, als sie eine Bewegung in der Zelle von Lucien wahrnahm. Sie blieb still, als der verletzte und gekettete Mann näher zu ihnen kam. Sie bemerkte, wie ihr Bruder wachsamer wurde und sie selbst tat es ihm gleich. Er hatte mehr Zeit mit diesen Männern verbracht, als sie, daher überließ sie es auch ihm. Als dann auch noch der andere sich einmischte, schien das Kaffeekränzchen ja perfekt zu sein. Die Blonde verdrehte leicht die Augen, hielt den Kopf aber noch gesenkt und den Dolch fest an ihre Seite gepresst. Neben sich hörte sie den Leutnant lautstark Befehle erteilen, die das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen würden, wenn sie jetzt nichts unternahmen. Sie gerieten langsam unter Zeitdruck. Und die drei Männer in der Zelle betasteten sich vorsichtig, statt einfach zum Punkt zu kommen.
Unwirsch hob sie den Kopf, schob den Schirm ihrer Mütze ein bisschen hoch und sah den altklugen Bärtigen direkt an. In diesem Moment war es ihr egal, ob die beiden Mitgefangenen ihres Bruders sie als Frau erkannten. Sie mussten sich ran halten.
„Schätzchen, von jemandem, der ganz offensichtlich auf der falschen Seite der Zelle sitzt, kann ich gerade keine klugen Sprüche gebrauchen.“ Als ob sie nicht selbst wüsste, wie verdächtig sie für den nüchternen Anteil der Marinecrew wirkten! Und wie schief das hier alles laufen konnte! „Aber ich geb' dir nen Tipp. Wenn du ganz brav bist und dich nützlich machst, dann bist du herzlich eingeladen, mit uns von hier zu verschwinden.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich um, wollte sich schon einem der Marinetypen stellen, der ihr vielleicht zu Nahe kam, um sie fortzubringen. Doch soweit kam es gar nicht erst. Der Leutnant, der immer noch mit dem Rücken an der Zelle stand, wo er schützend die Hände über Schlüssel und Säbel gelegt hatte, wurde auf einmal von hinten gepackt. Der Glatzkopf, aufgepuscht durch den Betrunkenen, hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sich von hinten an den Marinesoldaten herangewagt. Sein Arm schlang sich um den Hals des Schwarzhaarigen und zog ihn heftig und ohne Mitleid gegen die Gitterstäbe. Sein Gesicht war dabei zu einer mordlüsternen Grimasse verzogen, die von einem eiskalten, ja gar berechnenden Grinsen geschmückt wurde.
Für einen Moment blieb Talin stehen, überlegte kurz und setzte sich dann in Bewegung, bevor einer der anderen Soldaten es tun konnte. Sie zog die Hand mit dem Dolch, den sie eigentlich Lucien hatte geben wollen, vor ihren Körper und trat dann mit schnellen Schritten vor den Leutnant. Mit der Waffenhand griff sie nach oben, als wolle sie den armen Mann aus dem Griff des Verbrechers befreien. Stattdessen drückte sie ihm die Dolchspitze an sein Kinn. Sie konnten jetzt nicht mehr nett sein und ihre Tarnung war auch so gut wie aufgeflogen.
„'Tschuldigung, Sir. Aber Befehl ist Befehl, nicht wahr?“
Und damit griff sie mit der freien Hand nach dem Schlüssel an seiner Seite.
[Morgenwind | erst bei Luc, Samuel und Yaris ; dann bei Enrique vor der Zelle des Glatzkopfs]