15.04.2017, 15:27
Wie surreal, wie unbegreiflich dieser Augenblick ihm erschien. Gerade noch hatte Lucien nichts wirklich interessiert – am allerwenigsten der irrwitzige Gedanke an eine vorzeitige Flucht aus seiner Gefangenschaft. Immerhin war er nicht so naiv zu glauben, er hätte irgendeine Chance. Doch jetzt, drei Jahre nachdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, stand seine Schwester vor ihm, auf diesem verdammten Marineschiff, und plante eben das. Allein ihre Anwesenheit vermochte sein Verstand kaum zu fassen. Genauso gut könnte sie seiner Phantasie entsprungen sein. Wenn er nun die Hand durch die Gitterstäbe streckte, um sie zu berühren? Was dann? Würde sie einfach wieder verschwinden?
Verständnislos schüttelte der Dunkelhaarige den Kopf. Zum einen, weil er die Situation an sich kaum begreifen konnte. Zum anderen, weil Talins Antwort völlig verrückt klang.
„Und wie genau willst du das anstellen? Jetzt gibt er euch den Schlüssel bestimmt nicht mehr einfach so.“, zischte er ihr schnell, aber hörbar skeptisch zu und nickte kaum merklich in die Richtung des Leutnants.
Nicht, nachdem sie den Dunkelhäutigen derart misstrauisch gemacht hatten und bestimmt nicht, solange eine Horde besoffener Soldaten die Gefangenen anpöbelte. Und doch keimte in ihm eine ebenso absurde Frage auf: Was, wenn sie das tatsächlich irgendwie schafften? Keine Phantasie, keine Einbildung, sondern wirklich und wahrhaftig eine Möglichkeit, diesem Gefängnis zu entkommen? Die Aussicht darauf, sein verdammtes Leben zurück zu bekommen?
Hinter der leicht gerunzelten Stirn des 21-Jährigen begann es fieberhaft zu arbeiten. Auch wenn die Sorge um sie rasant Überhand nahm, sie war nun einmal hier und daran konnte er wenig ändern. Wie auch Talin ließ er den Blick rasch über die Szenerie außerhalb der Zelle wandern. Noch immer zogen die sechs Soldaten die größte Aufmerksamkeit auf sich, was die drei Begleiter seiner Schwester tatkräftig unterstützten. Er konnte nicht alles verstehen, was gesprochen wurde, aber genug, um zu ahnen, was sie damit bezweckten. Und ihm entging nicht, dass es wirkte, als einer der Betrunkenen das Gleichgewicht verlor und die beiden wachhabenden Offiziere fast von den Füßen holte. Die Gelegenheit zumindest wäre günstig, wenn sie nur an den Schlüssel kämen.
Doch eine Bewegung am Rande seines Blickfeldes lenkte Luciens Aufmerksamkeit wieder auf das Innere der Zelle und instinktiv zur Vorsicht gerufen spannten sich seine Schultern deutlich an, als der Attentäter sich, zwar beschränkt durch Verletzung und Fesseln, aber immer noch flüssig aus seiner sitzenden Position hievte und sich ein wenig zu ihnen neigte. Bei aller Sympathie, die er für den erfrischend trockenen Charakter des Mannes hegte – der 21-Jährige war nicht so dumm, zu glauben, er hätte hier einen vertrauenswürdigen Menschen vor sich. Ganz anders noch als bei ihrem ersten und letzten Gespräch schwieg der Dunkelhaarige und beobachtete den Älteren scharf aus dem Augenwinkel.
Einen Herzschlag später mischte sich auch der Bärtige ein. Das wunderte Lucien immerhin weniger, als die indirekte Frage des Attentäters, der sich bisher nicht unbedingt als Wortführer hervor getan hatte. Dennoch sorgte es nicht dafür, dass er sich sichtbar entspannte. Unwillkürlich trat der Jüngste der drei Gefangenen einen halben Schritt von Talin zurück, blieb jedoch nahe an den Gitterstäben stehen und wandte sich ein Stück weit seinen beiden Mithäftlingen zu.
„Ich wüsste nicht, was euch das interessiert.“
Kurz huschte der Blick der tiefgrünen Augen von dem Bärtigen zum Attentäter und wieder zurück. Weder, wer wem irgendetwas bedeutete würde er hier lang und breit erklären und ob sie dabei drauf gingen, konnte einem wie dem Bärtigen herzlich egal sein. Eben das lag unverhohlen in dem Unterton seiner Stimme. Vorbei war es mit der geheuchelten Offenheit ihrer gemütlichen Männerrunde.
„Es sei denn, ihr habt zufällig vor, euch ein bisschen nützlich zu machen.“, hakte er herausfordernd nach. Wenn einem von beiden das eigene Leben noch irgendetwas wert war, musste auch ihnen schnell klar werden, dass das hier eine allerletzte Gelegenheit sein konnte.