25.02.2017, 15:45
Aus seinem Vorhaben wurde nichts, was vor allem daran lag, dass sein jüngerer Zellengenosse mehr als deutlich die Stimme erhob und den Leutnant ansprach. Samuel verfluchte sich dafür, dass er nicht ernsthaft versucht hatte, dem Gespräch der beiden Angehörigen der Marine zu lauschen, sondern seine Aufmerksamkeit zu sehr auf die Geräusche aus dem Frachtraum gelenkt hatte. Da das Rumpeln sich mittlerweile einige Male wiederholt hatte, glaubte er nicht mehr an ein sich selbstständig machendes Fass oder einen vergleichbaren Gegenstand, denn Wellengang und Zeitpunkte der Geräusche passten nicht zusammen. Irgendetwas ging dort unten vor sich, doch in seiner Lage konnte der Bärtige natürlich unmöglich feststellen, was. Vermutlich hielten sich dort einfach noch ein paar Soldaten auf und räumten Kisten um, um die Fracht gleichmäßiger zu verteilen - oder sie wollten an ein Fass mit besonders schmackhaftem Alkohol gelangen, mussten dafür aber Hindernisse aus dem Weg schaffen. Da die Antwort auf diese Frage für ihn letztendlich keine Relevanz besaß, beschloss er irgendwann, die Geräusche zu ignorieren - um dann noch dem Gespräch von De Guzmán und dem anderen Soldaten zu folgen, war es jedoch zu spät.
Glücklicherweise ließ sich aus dem Kommentar des Jungen und der Reaktion des Leutnants ziemlich leich rekonstruieren, dass es offenbar um ein Glücksspiel ging. Letzterer bewies kurz darauf erneut, dass er ein durchaus bedenklich kameradschaftliches Verhältnis zu seinen Gefangenen zu pflegen schien - ein Kartenspiel mit einem Verbrecher wäre für die meisten Mitglieder der Marine vollkommen undenkbar gewesen, doch De Guzmán schien dieser Gedanke sehr zu reizen. Zudem konnte Samuel sich denken, dass der Kapitän es überhaupt nicht gerne sehen würde, wenn diejenigen, die für die Bewachung der Gefangenen zuständig waren, ihre Pflicht zugunsten eines Kartenspiels vernachlässigten, doch der Leutnant schien es darauf anlegen zu wollen.
Kurz warf Samuel einen Blick zu dem Jüngeren hinüber, der sich als Spielpartner angeboten hatte. Whist war in der Tat ein Spiel, das primär in den höheren Gesellschaftsschichten Anklang fand, weil die dafür notwendigen Fähigkeiten in der ärmeren Bevölkerung selten ausreichend ausgeprägt waren. Entweder besaß sein Mitgefangener diese Fähigkeiten oder er riskierte eine Blamage, um für ein wenig Zerstreuung zu sorgen, was allerdings ganz und gar nicht zu ihm zu passen schien. Erneut musste Samuel sich selbst eingestehen, dass er aus dem Verhalten des Jüngeren nicht schlau wurde.
Als De Guzmán nach einem vierten Mitspieler fragte, zögerte er deshalb nicht lang. Er hatte in seinem Leben bereits die ein oder andere Partie Whist gespielt, insbesondere in seiner Kindheit, denn sein Vater war ein großer Liebhaber dieses Spiels gewesen und ihm stets gepredigt, dass das taktische Verständnis, das man dafür brauchte, in allen Lebenslagen hilfreich sein konnte. Zudem war ein scheinbar lockeres Spiel die perfekte Gelegenheit, um noch ein wenig mehr über seinen Mitgefangenen zu erfahren. Gleichzeitig war ihm die Gesellschaft des Leutnants deutlich lieber als die der anderen Kriminellen auf diesem Schiff. Aus diesem Grund ignorierte er auch vollkommen die Tatsache, dass der Attentäter zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit eine Reaktion zeigte und richtete das Wort direkt an den Leutnant.
"Anscheinend ist die Marine tatsächlich eine Institution für Menschen mit geringer Auffassungsgabe", spottete er in Anspielung auf die Schwierigkeit des Leutnants, geeignete Gegner für eine Partie Whist zu finden. Der Bärtige richtete sich ein wenig auf, streckte den Oberkörper durch und warf De Guzmán einen vielsagenden Blick zu. Sich in eine Konversation mit dem Leutnant und mindestens einem Mitgefangenen zu begeben, war grundsätzlich riskant, weil der Dunkelhäutige als einziger Mann auf diesem Schiff über die wahre Natur seiner Vergangenheit Bescheid wusste. Er vermutete zwar, dass er dichthalten würde, durfte es sich jedoch keinesfalls mit ihm verscherzen. "Eine Herausforderung kann ich den Herrschaften bieten. Allerdings..." - mit einem Kopfnicken deutete er auf seine Handfesseln - "... ist das mit dem Kartenspielen ohne Hände nicht ganz so leicht."
De Guzmán wusste, dass es vollkommen ungefährlich war, ihm die Fesseln abzunehmen. Die Frage war allerdings, wie er es den anderen Anwesenden gegenüber würde rechtfertigen können.
[Zelle auf der Morgenwind | Lucien, Yaris, Skadi und Enrique]