12.02.2017, 19:07
Mit gut zwei Dutzend Zellen aus Eisen und einem bis zum Rand gefüllten Frachtraum voller Proviant für annähernd dreihundert Menschen lag die Morgenwind tief im Wasser. So tief, dass sich die Wellen auf Höhe des Zellentraktes an der Bordwand brachen, wenn der schlanke Rumpf des Zweideckers durch sie hindurch pflügte. Ihr Tosen rauschte in seinen Adern.
Auch der 21-Jährige hielt die Augen geschlossen, doch weder versuchte er tatsächlich einzuschlafen, noch machte er sich die Mühe, sich schlafend zu stellen. Er achtete auf nichts und niemanden, denn nichts und niemand hier interessierte ihn im Moment genug, um seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, als das Geräusch der Wellen. Im Hafen noch war das leichte Schwanken der Morgenwind im Wasser kaum zu spüren gewesen. Jetzt erklomm sie spielend jeden Kamm und sank sanft in das nächste Tal hinab, um das Spiel mit den Bewegungen des Meeres von neuem zu beginnen. So fiel es dem Dunkelhaarigen nicht schwer, seine Phantasie wandern zu lassen. Wenn er die Augen geschlossen ließ, konnte er die Stimmen und den Gestank und das Gefühl der Ketten an seinen Handgelenken einfach vergessen. Seine Phantasie war schon immer stark gewesen. Sie war das, was seine bodenständigen, verbohrten, kalten Eltern stets am meisten verurteilt hatten. Sie und die Art, wie er seiner Schwester damit Flausen in den Kopf setzte. Und sie war alles, was heute noch an den Jungen von damals erinnerte. In seinen Gedanken hatte er den absurdesten Geschichten Gestalt verliehen. Den Monstern und Ungeheuern ferner Welten, von denen der Medicus berichtete. Solange er es sich hatte vorstellen können, dann würde er all diese Dinge irgendwann auch mit eigenen Augen sehen können. Das wurde zu seinem erklärten Ziel. Er hatte fest daran geglaubt!
Inzwischen dachte er etwas realistischer. Jetzt war das einzige Ziel, das er sehen konnte, der Himmel über seinem Kopf und der Horizont vor sich.
Sofern er denn die vier Jahre auf Esmacil überlebte, wie ihm in diesem Moment eine laute, herrische Stimme in Erinnerung rief. Lucien seufzte über die Störung leise und schlug die grünen Augen auf. Sofort war der Gestank wieder präsent und das penetrante Unwohlsein in seinem Magen, das ihm der Fraß vorhin statt des Sättigungsgefühls hinterlassen hatte, wieder da.
Der Dunkelhaarige saß wie fast die ganze Zeit schon so weit von der Zellentür entfernt, wie der Pferch es zu ließ. In seinem Rücken spürte er die Gitterstäbe zur Nachbarzelle, während er sich mit der Schulter gegen die Bordwand lehnte. Den Kopf dagegen gesunken, um auf das Rauschen der Wellen zu lauschen. Trotzdem hatte er im dämmrigen Licht der wenigen Laternen erkennen können, wer da vor ihrer Zelle stand und Wache schieben durfte. Der Leutnant, in dessen 'Büro' er gestern erst gesessen hatte, und der junge Soldat, der vorhin das Essen verteilte. Wer ihnen das Los zugeteilt hatte, den beeindruckenden Duft der fast einhundert Gefangenen zu inhalieren, war ihm allerdings reichlich egal.
Mäßig interessiert lauschte Lucien dem Gespräch der beiden und hob dann, nun doch neugierig geworden, den Kopf an, als der Satz 'und um was möchtest du spielen' fiel. Rasch fanden die grünen Augen die beiden Soldaten. Sie hatten es sich an einem der Masten gemütlich gemacht und machten eher den Eindruck, als würden sie sich zu Tode langweilen, als ihrer Pflicht nachkommen zu wollen. Damit waren sie ja schon mal zu dritt.
„Wie wäre es mit etwas zu Essen?“, durchdrang plötzlich seine Stimme die Stille in der Zelle. Sein Ton fast kumpelhaft. „Dann wäre ich dabei... Ich bescheiß' euch auch nicht, versprochen.“,
setzte er mit einem Blick auf den Soldaten hinzu, den der Leutnant mit Kaladar angesprochen hatte. Doch um seine Mundwinkel zuckte bereits ein verdächtiges Lächeln. Weil er eine so ehrliche Haut war, bestimmt. Er würde sich allerdings ganz sicher erst dann die Mühe machen, aufzustehen und zur Zellentür hinüber zu kommen, wenn die Partie feststand.