26.01.2017, 12:36
Der kurze Exkurs in die Vergangenheit des jüngeren seiner beiden Zellengenossen brachte mehr Fragen als Antworten mit sich. Samuel hatte angesichts seiner deutlich zur Schau gestellten Furchtlosigkeit - nicht nur vor seiner Geschichte, sondern auch der des Neuankömmlings - mindestens mit Mord, vielleicht sogar Schlimmerem gerechnet, doch seine Vergehen schienen weitaus weniger schwer zu wiegen als die des Bärtigen. Dies galt inbesondere, weil er offensichtlich nicht zum Tode verurteilt wurde, sondern wie die meisten der anwesenden Insassen eine mildere Strafe zu verbüßen hatte. Zum Auftreten des Mannes schien dessen Vergangenheit zumindest nicht zu passen, doch letztendlich traf das auch auf Samuel selbst zu und es gab keinen Grund, warum es sich bei dem Jungen nicht ähnlich verhalten sollte wie bei ihm. Ein paar schwere Jahre, Konfrontation mit Schicksalsschlägen, vielleicht ebenfalls ein längerer Aufenthalt in einem Gefängnis... All das hatte seinen eigenen Charakter schließlich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert.
"Und du hast natürlich Großes vor, nicht wahr?" Spöttisch stieß er ein kurzes Schnauben durch die Nasenflügel aus. "Ich weiß nicht, was du getan hast, um hier zu landen, aber auch wenn du am Ende nicht am Galgen baumelst, ist dein restliches Leben damit schon vorherbestimmt. Vielleicht dauert es ein paar Monate, sogar Jahre... oder nur eine Woche, bis du wieder hier landest. Immer und immer wieder. Nur wegen der Fehler, die du in der Vergangenheit gemacht hast."
Er hatte natürlich keinen triftigen Grund zu der Annahme. Sicherlich verhielt es sich mit den meisten hier so - wenn er in ihre angsterfüllten Gesichter blickte, sah er den Abschaum der Gesellschaft, der sein ganzes Leben auf der Straße verbracht und sich das Überleben mit kleinen Verbrechen gesichert hatte. Wer sich einmal für eine solche Existenz entschied, ob freiwillig oder nicht, bekam selten die Möglichkeit, ihr zu entfliehen. Der Junge jedoch schien sich grundsätzlich von den Mithäftlingen zu unterscheiden, weshalb die Worte Samuels letztendlich nichts weiter als eine Provokation waren, um noch ein wenig mehr über ihn zu erfahren. Ein Vorhaben, das zunächst überraschenderweise vom Attentäter unterbrochen wurde, dessen erste Worte nur allzu gut zu den Geschichten über ihn zu passen schienen. Entsprechend fiel auch die Reaktion des Mannes aus, der sie vor wenigen Augenblicken noch zum Besten gegeben hatte und die er in ähnlicher Form bereits zur Genüge aus eigener Erfahrung kannte. Es war durchaus interessant, einmal in der Position zu sein, einem gefürchteten Mörder gegenüberzustehen, denn in den Jahren im Gefängnis auf Netara war ihm dies nie vergönnt gewesen. Er musste davon ausgehen, dass es sich bei dem Attentäter nicht auch um einen zu unrecht Verurteilten und zugleich einen Hochstapler handelte, wobei er bisher weder durch Worte noch Taten versucht hatte, die Gerüchte über ihn zu bestätigen oder zu widerlegen. Seine Drohung war dafür auch nicht geeignet - angesichts ihrer aktuellen Situation war sie nur begrenzt ernstzunehmen. Er entschloss sich dennoch, darauf zu reagieren.
"Tu dir keinen Zwang an", sagte er und zuckte betont teilnahmslos mit den Schultern. "Das wäre für uns beide eine Abkürzung. Ich muss nicht auf den Galgen warten und du wirst an Ort und Stelle von der Mannschaft aufgeknüpft, damit du nicht am Ende all ihre Gefangenen meuchelst."
An den Worten und dem Tonfall Samuels war klar zu erkennen, dass er die Drohung nicht für voll nahm. Natürlich konnte er sich diesen Luxus angesichts seines feststehenden Todes leisten - bei dem Jungen sah es vielleicht anders aus, doch dessen bisheriges Verhalten deutete nicht darauf hin, dass er sich so einfach würde einschüchtern lassen.