23.01.2017, 13:49
Was sollte er aus diesen Reaktionen machen? Dieser Mann schien nicht stolz auf die Geschichten über sich zu sein, er war erschöpft und traurig. Und ihn Irritierte etwas an seiner Akte. Es war keine Überraschung im eigentlichen Sinne sondern eher ein "wie kann das sein?".
Mit Enriques Provokation spannte sich sein Geist an, ebenso wie sein Körper, jederzeit bereit zu reagieren. Der Leutnant rechnete mit einem Lachanfall oder wüsten Beschimpfungen. Oder mit einem Zusammenbruch, warum konnte er nicht sagen. Auch eine völlig sachliche Reaktion war denkbar. Irgendwie schien ihm das am wahrscheinlichsten. Mit einem Angriff seltsamer Weise nicht. Zumindest nicht Initial. Vielleicht kam zuvor erst einmal eine Schockstarre. Danach schien ihm müsste er mit allem Rechnen.
Er versuchte immer noch die Geschichten mit diesem Mann zu verbinden, während dieser ihn schweigend ansah. Es wollte ihm partout nicht gelingen. Hatte er zwei Gesichter? Kam das Monster nur hervor, wenn er jemanden hasste?
Samuels erste Frage quittierte er mit einem verächtlichen schnauben. Geschichten blendeten, Worte logen, Menschen manipulierten. Das tat er selber. Vielleicht wirkte deswegen die wertungsfreie Auskunft auf ihn um vieles glaubwürdiger. Der Leutnant zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach.
Dass dieser Mann gar nicht der Mörder war klang zunächst unwahrscheinlich. Wenn aber tatsächlich ein Zwist zwischen ihm und seinem Vater vorlag, der Vater in seinem Sohn eine Bedrohung sah, die beseitigt werden müsste und wie hier Mittel und Wege hatte, dann wäre das möglich. Fragte sich, warum der Mann das tun sollte? Er hatte Macht und Reichtum. Hatte der Bärtige das bedroht? Wie? Wobei der 2. Leutnant nur an seinen Vater denken musste: Welchen Grund brauchte der um einem Schuldner das Leben zur Hölle zu machen? Keinen!
Auf der anderen Seite könnte auch das nur eine weitere Geschichte sein. Dieser Mann konnte ihm viel erzählen. Immerhin hatte er sich an Deck damit gebrüstet und den Gefängnisaufseher angegriffen.
Dann wiederum könnte auch das passen.
Geistesabwesend musterte er Samuel. Was hätte er seinen Mitgefangenen physisch entgegen zu setzen? Wäre Enrique an seiner Stelle hätte er neben ein paar Schlägereien eine Aura über sein Auftreten und gezielt gefallen gelassenen Kommentaren und schweigen aufgebaut. Wie Notwendig das wäre hatte er oft genug beobachten können. Pah! Sein ganzes Auftreten auf diesem Schiff beruhte darauf.
Sein Mund verzog sich in grimmiger Bestätigung, während der Dunkelhäutige nicht einmal mitbekommen hatte, dass er langsam auf dem Zellengang auf und ab wanderte, die Hände gewohnheitsmäßig hinter dem Rücken verschränkt.
Er hätte es also genauso gemacht. Und dass dieser Mann seine Frau nicht kaltblütig erschlagen hatte, soweit war er schon längst gewesen. Blieben also nur noch zwei Fragen:
Wer hatte die Frau umgebracht und warum?
Samuel hatte ein Weile Zeit den Leutnant zu beobachten, er schien gänzlich in Gedanken versunken. Als er dann aus ihnen auftauchte schien er sich zunächst orientieren zu müssen, ehe er, sich vergewissernd dass er niemanden geweckt hatte, an die Tür des Verurteilten zurückkehrte.
"Warum sollte ihr Vater das tun? Welche Gründe hätte er?"