23.01.2017, 11:07
Der Anflug eines müden Lächelns stahl sich auf Samuels Gesicht, als er den ersten Ausführungen des Leutnants lauschte. Dieser gab detailgetreu wieder, wie er sich seinen Mitgefangenen gegenüber präsentiert und welche Geschichten er ihnen aufgetischt hatte, um Respekt und Furcht in ihnen hervorzurufen. Wahrscheinlich war, dass die Besatzung des Schiffes entweder im Hafen Gerüchte aufgeschnappt und an ihren Vorgesetzten weitergeleitet hatte oder dass die anderen Gefangenen von Netara, die es in die Brig der Morgenwind geschafft hatten, bereits eifrig geplaudert hatten. Genau so schnell, wie das Lächeln gekommen war, verschwand es allerdings auch wieder, als De Guzmán beschrieb, was tatsächlich geschehen war - oder eher die offizielle Version dessen wiedergab. Für einen Moment blitzte die Trauer über seinen Verlust in seinen Augen auf, ehe er angesichts der Worte des Leutnants die Stirn runzelte. Anscheinend hatte sein Vater nicht gezögert, den Bericht zusätzlich manipulieren zu lassen, denn der Angriff auf einen Würdenträger und die Beschreibung seines Verhaltens bei der Festnahme waren frei erfunden. Sein Vater hatte wohl ein realistischeres Bild des gesamten Tathergangs zeichnen wollen, auch wenn der Mord allein natürlich problemlos für ein Todesurteil ausgereicht hätte, und dafür sicher einige Ordnungshüter bestechen müssen.
Samuel bemerkte den Wechsel des Tonfalls De Guzmáns, nachdem dieser die Beschreibung der Tat abgeschlossen hatte. Seine Stimme klang nun wesentlich weniger wertend, weniger abschätzig, als er offen ansprach, dass er weder die überzeichnete, noch die offizielle Version seines Verbrechens glaubte. Auch diese Stellungnahme überraschte den Gefangenen, der sich diese Gefühlsregung diesmal jedoch nicht anmerken ließ. Stattdessen verbannte er jegliche Regungen von seinem Gesicht und wartete einen Moment, blickte den Leutnant ruhig an und begann dann, seine Version der Geschehnisse zum Besten zu geben.
"Interessant, wie einfach es ist, in den Köpfen so vieler Menschen ein falsches Bild der Realität entstehen zu lassen, nicht wahr?", sagte er, zunächst noch mit leicht spöttischem Unterton, bevor er mit monotoner Stimme weitersprach. Er war gespannt, ob De Guzmán ihm glauben würde, wenn er ihm die reine Lage der Fakten darlegen würde, ohne ihn dabei durch Emotionalität zu beeinflussen. "Die Version der Geschichte, die zu erzählen ich schon lange aufgegeben habe, ist etwas weniger spektakulär, aber anscheinend umso unglaubwürdiger. Ich kam nach Hause, fand die Leiche meiner Frau vor, wurde festgenommen und ohne Prozess zum Tode verurteilt."
Pause. Erneut blickte Samuel dem Leutnant lediglich in die Augen, um dessen Reaktion abzuwarten, beschloss dann jedoch, dem Gesagten noch etwas hinzuzufügen.
"Und um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen... Ich gehe davon aus, dass mein Vater für den Mord an meiner Frau verantwortlich ist, weil er mich aus dem Weg haben wollte. Beweisen kann ich das selbstverständlich nicht, und es ist grundsätzlich schwer, eine solche Anschuldigung vorzubringen, wenn Richter und wahrer Henker ein und dieselbe Person sind, nicht wahr?"
Wahrscheinlich würde De Guzmán sich spätestens jetzt von ihm abwenden. Bisher hatte ihm niemand geglaubt, wenn er jegliche Schuld von sich gewiesen hatte, und auch wenn der Leutnant vielleicht sogar der Erste war, der zumindest die hanebüchenen Märchen über seine Grausamkeit anzweifelte - Samuel galt nach wie vor als überführter Verbrecher. Warum sollte er ihm mehr Glauben schenken als den respektierten Amtsträgern Netaras?