22.01.2017, 21:57
Für sein Alter war der Kleine da drüben ganz schön furchtlos und eindeutig zu mutig. Yaris hatte im Moment nur Augen für ihn. Keine Regung ob des offen gezeigten Spotts. Ob er die Geschichte nun glaubte oder nicht, sei dahin gestellt. Vielleicht glaubte er es, vielleicht auch nicht. Konnte ihm egal sein, solange er ihn in Ruhe ließ.
Als das Licht jedoch auf den Vatermord von Kelekuna viel, kam tatsächlich Bewegung in die Sache. Der junge Kerl wandte sich dem Sprecher zu. Wie der Typ von Trithên bereits sagte, hatte das ziemlich weite Kreise gezogen. Zweifelsohne hatte man einen wunderbaren Steckbrief mit seinem Gesicht am Markt, im Hafen und in der Taverne aufgehängt. Der Kleine musste damals fünf, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Unmöglich, dass er sich an sein Gesicht von früher entsinnen konnte, falls sie sich flüchtig auf dem Marktplatz gesehen hatten. Und Yaris hatte sich in den Jahren dazwischen sehr verändert. War erwachsen geworden, kräftiger in der Statur. Die Konturen seines Gesichtes waren härter geworden. Ob er vom Fahndungsplakat würde Rückschlüsse ziehen können? Zumindest musterte er ihn jetzt eingehender und mit anderen Augen. Nicht mehr spöttisch. War es eher ein Anflug von Respekt?
Yaris konnte es nicht genau deuten. Er war gut darin, in den Gesichtern anderer zu lesen, doch dieser junge Mann konnte seine Gedanken hervorragend hinter Mimik und Gestik verbergen. Eine Fähigkeit, die nur wenige wirklich gut beherrschten. „Nicht doch. Der Held meiner Kindheit, etwa?“ Nun hob sich doch tatsächlich eine Augenbraue. Die erste wirkliche Reaktion, seit er in dieser Zelle saß. Damit war es das aber auch schon wieder. Noch immer kein Wort. Noch immer ließ sich der Attentäter zu keiner Äußerung hinreißen. Stattdessen ließ er den Kopf erneut nach hinten sinken, wobei er die Augen verdrehte. Ach Gottchen. Ein Held. Beinahe ließ er sich zu einem amüsierten Auflachen verleiten. Ein Held. Der Junge hatte keine Ahnung. Oh, er war alles andere, aber gewiss kein Held. Nur ein verängstigter, verstörter Junge, der sich nach Jahren der offensichtlichen Misshandlung gegen seinen Vater gewehrt hatte. Denn niemand sonst im Dorf hatte es. Niemand hatte sich schützend vor den Jungen gestellt. Alle hatten sie weggesehen. Er war kein Held. Viel wahrscheinlicher war, dass er eines Tages nach Kelekuna zurückkehren würde und alle Bewohner der Insel, die damals weggeschaut hatten, umbringen würde. Selbstjustiz vom feinsten. Das war wenig heldenhaft.
Anstatt ihm weitere bohrende Fragen zu stellen, die Yaris ohnehin nicht beantworten würde, ging das Gespräch in einer anderen Richtung weiter und neuerlich verdrehte er innerlich die Augen. Eben noch so großspurig und furchtlos, hörte Yaris jetzt eher Selbstmitleid heraus. Oder zumindest Resignation. Nichts mehr da von dem Kleinen, der ihm vor ein paar Minuten noch eine stumme Kampfansage geliefert hatte. Wie erbärmlich.
„Lässt sich leicht ändern und du erreichst Emacil nicht mal … ihr redet einfach zu viel …“ Eine völlig ruhige, noch immer teilnahmslose Stimme. Beinahe sanft, dass man nicht glauben mochte, dass sie von einem Attentäter stammte, der mit kaltem Kalkül Leben auslöschte. Ein raues Timbre. Ein wenig dunkel und voller Geheimnisse. Wahrscheinlich fielen eine Menge Frauen ihm zu Füße … oder würden es, wenn Yaris es zulassen würde. Es war die stoische Ruhe, die Yaris sein eigen nannte. Die Ruhe vor dem Sturm.
Der Gefangene, der als erster seine Identität gelüftet hatte, rutschte panisch rückwärts, bis er an die Gitter der nächsten Zelle stieß und nicht weiter fliehen konnte. Ihm würde Yaris ganz sicher vorerst nichts antun können. Doch diese beiden hier hatten nicht den Luxus von Gittern, die ihn von ihm trennten. Genau diese Furcht stand jetzt in den Augen des Gefangenen … wobei, so sicher konnte man sich da niemals sein bei einem Attentäter, einem Künstler des Tötens.