22.01.2017, 20:38
Als hätte er sie mit seinen Gedanken herauf beschworen, erhob sich plötzlich eine schneidende Stimme über die Geräuschkulisse im Zellentrakt. Laut genug, dass selbst die sich am Rumpf brechenden Wellen vor Überraschung in ihrem Spiel leiser zu werden schienen. Nur um dann, als die Stimmen der Gefangenen kurz abbrachen, in der anschließenden Stille noch lauter gegen die Schiffswand zu branden. Es reichte jedoch, um jeden Mann und jede Frau im Frachtraum aufmerken zu lassen. Schüsseln raus.
Essensausgabe. Wie zur Begrüßung ließ sein Magen ein Knurren hören und der Dunkelhaarige war fast froh, dass in diesem Augenblick das Geraschel unzähliger Knie auf dem Stroh bedeckten Boden den beschämenden Laut überdeckte. Dabei hätte man eigentlich annehmen müssen, dass ihm der Hunger längst vergangen war. Zum einen, weil man sich an die spärlichen Rationen nach all der Zeit hätte gewöhnen müssen. Zum anderen, weil der Brei, den die Soldaten auf diesem Schiff 'Essen' nannten, an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten war. Selbst der Fraß, den sie in Linara im Gefängnis verteilten, war da noch besser! Doch der Hunger treibt es rein und der Ekel hinunter, nicht wahr?
Der 21-Jährige stieß lautlos die Luft aus und öffnete die Augen. In den Zellen um ihn herum rappelten sich die Gefangenen auf, strömten wie ein Mann zu den Türen ihrer Zellen und starrten rufend, johlend und pöbelnd zu der Treppe, auf der, wie Lucien wusste, kurz darauf die beiden Diensthabenden erschienen, um das Tagesmahl zu verteilen.
„Hey Hübscher, komm doch mal hier rüber! Wie wär's mit uns beiden, hm?“, ertönte die anzügliche Stimme eines bärtigen Mitdreißigers aus einer der Zellen ganz vorn an den Stufen. Durch eine Lücke in der Leibermasse sah Lucien, wie er nach dem jungen Burschen grabschte, der die beiden großen Breischüsseln trug, ohne ihn jedoch zu erwischen. Ein kurzes Schmunzeln zuckte daraufhin über die Lippen des jungen Mannes. Ein paar Monate in einer Zelle reichte, damit auch ein eingefleischter Frauenliebhaber ansprang, sobald sich ihm ein Junge mit auch nur ein wenig femininer Ausstrahlung näherte. Oder er interessierte sich ohnehin eher für kleine Knaben als für hübsche Mädchen, wer wusste das schon.
Während sich die beiden Marinesoldaten im Schneckentempo den Gang hinunter schoben, wanderten die schlangengrünen Augen für einen kurzen Moment über seinen beiden Zellengenossen, die – mit ihm – die einzigen waren, die nicht sofort aufsprangen. Er selbst fragte sich allen Ernstes, ob es die Mühe überhaupt wert wäre. Doch letztlich entschied der Hunger für ihn und mit einem weiteren, dieses Mal vernehmlichen Seufzen kämpfte der Dunkelhaarige sich auf die Füße, um sich zu seinen übrigen Mithäftlingen an die Zellentür zu gesellen. Den Napf - den Begriff 'Schüssel' war er nicht wert - in der einen, schob er die Hände durch die Gitterstäbe und stützte sich so mit den Unterarmen auf einer Querstrebe ab, um zu warten, bis man zu ihm kam.