19.01.2017, 23:05
Keine Reaktion? Kein Sterbenswörtchen von besagtem Attentäter? Nein?
Ganz, wie Lucien erwartet hatte. Nur der Blick des Mannes legte sich wieder auf ihn und der Jüngere erwiderte ihn ohne eine Spur von Furcht. Warum? Ganz bestimmt nicht, weil er glaubte, unantastbar zu sein. Er starb, wie jeder andere, und befand sich gerade nicht in der Situation, sich wirklich lange behaupten zu können. Aber was kümmerte das, wenn man nichts zu verlieren hatte? Er vertrieb sich hier ja gerade ohnehin nur die Zeit und wenn er sich dafür noch ein paar Geschichten anhören musste, dann hörte er eben hin: Verbindungen ins Adelshaus, gar zur Königsfamilie. Der Dunkelhaarige hob flüchtig eine Augenbraue und in den grünen Augen, die gelassen auf dem Attentäter ruhten, erschien ein Funken spöttischen Respekts, von dem man nun raten durfte, ob er ernst gemeint war, oder nicht.
Dann jedoch kam etwas ans Licht, womit Lucien nicht gerechnet hatte. Der Vatermord von Kelekuna? Unwillkürlich wandte er den Kopf zu dem zweiten Sprecher und das eben noch spöttische Funkeln in seinen Augen wich zunächst reiner Verblüffung, bevor Verstehen sie ablöste. Ein Aha-Moment, wie er im Buche stand. Ein Bild tauchte in seinem Unterbewusstsein auf. Eine Erinnerung. Eine schäbige Taverne, ein riesiger Tresen – höher als er selbst – und dahinter an der Wand: Ein Fahndungsplakat. Er war damals nicht älter als fünf gewesen, als es passierte. Das ganze, verdammte Dorf sprach darüber. 'So schrecklich'. Doch ob der vielleicht 16 Jahre alte Junge auf dem Plakat wirklich der gleiche war, wie der Mann, den Lucien nun vor sich hatte? Er hätte es nicht sagen können. Bart, Schmutz und beinahe zwei Jahrzehnte lagen zwischen jetzt und damals. Doch das Interesse von vorhin loderte von Neuem auf, als die grünen Augen zu dem Attentäter und potenziellem Vatermörder zurück kehrten und er ihn, gründlicher als zuvor, ein weiteres Mal musterte. Denn wenn es stimmte, wenn er den Jungen von damals hier vor sich hatte, dann saß er einem der Gründe gegenüber, weshalb er die Hoffnung nie aufgegeben hatte, von dieser verfluchten Insel herunter zu kommen. Dem Dunkelhaarigen hatten die Schauergeschichten nie Angst eingejagt – ganz im Gegenteil. Er hatte sie aufgesogen, wie ein Schwamm.
„Nicht doch. Der Held meiner Kindheit, etwa?“
Ein amüsiertes Lächeln lag in seiner Stimme. Kein Hinweis darauf, ob er die Geschichten glaubte, oder nicht. Ob er Furcht empfand, oder die Bewunderung, auf die seine Worte hindeuteten. Vielleicht, kam es dem Dunkelhaarigen spontan in den Sinn, hatte der Bärtige mit seinen Worten doch nicht so unrecht, wie Lucien im ersten Moment gedacht hatte.
Nach kurzem Zögern löste er den Blick von seinem schweigsamen Gegenüber und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den alten Mann in der dunklen Ecke.
„Vielleicht hast du Recht und ich irre mich, wer weiß. Wenn es stimmt, was sie sagen, macht zumindest seine Geschichte ihn zu einem interessanten Mann.“, kurz nickte er in die Richtung des Attentäters, um zu verdeutlichen, wen er meinte, ehe er beiläufig mit den Schultern zuckte. „Ich gebe dennoch nicht viel auf die Vergangenheit eines Mannes. Nimm mich zum Beispiel, wo du gerade fragst... Ich bin auf Kelekuna groß geworden, als Fischerjunge, ohne Geld, ohne Bildung. Ich habe nichts verbrochen, außer zu tun, was mein Vater mir befohlen hat. Ich habe niemanden umgebracht, wie ihr beide. Was sagt das über mich aus? Nicht das Geringste. Was zählt, ist nicht, was ein Mann getan hat, sondern was er tun w...“
Lucien unterbrach sich, als ihm ein spontaner Gedanke kam. Gleich darauf stahl sich ein Lächeln bitterer Selbstironie auf seine Lippen. Natürlich. Ausgerechnet von ihm. Er war schließlich nicht viel besser, als die, die er gerade so großspurig verurteilte. Er hatte noch weit mehr, als ein Leben, das ihm kaum genug bedeutete, um etwas daraus zu machen. Er hatte immer schon mehr gehabt, als das. Und was tat er? Gar nichts. Er resignierte.
Lucien stieß ein Seufzen aus und schüttelte leicht den Kopf.
„Was soll's. Für euch beide spielt das wahrscheinlich eh keine Rolle mehr, denn so wie ich das sehe, bin ich von uns dreien hier der einzige, der Esmacil lebend verlassen wird – mit etwas Glück, jedenfalls.“