18.01.2017, 11:50
Die Schatten bewegten sich im trägen Gleichmaß des Schwanken des Schiffes und ließen die der Gitterstäbe über Samuels Gesicht hin und her wandern. Auf diesem war Überraschung und Verwirrung zu lesen. Es hätte ein Spiegel Enriques sein können, wenn dieser seine eigenen Emotionen gezeigt hätte. So aber nahm seine Mimik wieder die kühle Distanziertheit an, die er in den letzten Jahren perfektioniert hatte.
Er hatte mit einer Reaktion gerechnet und der Anflug von Wut war auch gekommen, dann aber hatte der Bärtige gezögert ihm in die Augen zu sehen. Der Leutnant hatte mit vielem gerechnet aber nicht damit. Warum? Aus Angst, etwas darin zu finden, was er nicht sehen wollte? Hatte er etwas verbergen wollen? Oder war ihm etwas aufgegangen und er hatte bloß einen Moment gebraucht, um sich darüber klar zu werden, was er davon halten solle?
Auf jeden Fall war der oberste Richter ein heikles Thema. Samuels Vater war also nicht nur an der Verurteilung, sondern an der ganzen Misere beteiligt. Und wenn Lowell da noch mit drin hing, dann roch das nach einer regelrechten Verschwörung. Aber was hätte der oberste Richter davon seinen Sohn zu vernichten? Oder gab es jemand anderen, der sich was davon versprach, Vater und Sohn zu entzweien?
Der Gefangene maß ihn mit unsicherem Blick, rang sich dann eine Entscheidung ab und fixierte ihn erneut ehe er seine Frage stellte.
Einen Moment überlegte der Leutnant, entschied sich dann, ihm den Gefallen zu tun und antwortete. Sein Ton war sachlich, zunächst mit einer Spur Verachtung:
"Die Frage: 'Welche nicht?' ließe sich wahrscheinlich einfacher beantworten. Die Erzählungen reichen von einem Mord bis zur Ausrottung eines ganzen Dorfes, von Köpfen über Leichenschändung bis hin zu Haut bei lebendigen Leibe abziehen, von kalt und präzise zuschlagen bis hin zu wild randalierend. Ein völlig wahnsinniger Killer ohne jeglichen Mitgefühl. Mehr oder weniger ausgeschmückt, je nach dem, von wem und wo man sie sich erzählen lässt. Typisches Kneipengewäsch."
Während der gesamten Ausführung beobachtete er Samuel, suchte nach einem Hinweis, der diese Sache ins rechte Licht rücken würde.
"Im Bericht steht eine Tote, geköpft und verstümmelt, und ein Angriff auf einen Würdenträger, der das gleiche Schicksal erlitten hätte, hätte die Stadtwache sie nicht daran gehindert. Die Tat wird als grausam, kaltblütig und berechnend beschrieben, der Täter bei Aufgreifung als renitent, uneinsichtig und noch wie im Rausche, später Arrogant, pralerisch mit der Grausamkeit seiner Tat beschrieben, und dass er damit drohe, die gleiche Behandlung jedem angedeihen zu lassen, den er in die Finger bekomme."
Am liebsten wäre er jetzt auf und ab gelaufen, aber er hätte lauter sprechen müssen und dass, oder die Schritte hätte wahrscheinlich den einen oder anderen geweckt, so schloss er kurz die Augen und Atmete tief durch. Danach klang seine Stimme neutral, so als hätte er etwas Unangenehmes hinter sich gebracht.
Die letzten Worte hatte er lediglich betonen wollen wurden aber zu einer Herausforderung.
"Ich denke das umfasst so ziemlich das wichtigste. Viel interessanter wären aber wohl die Fragen, was ich davon halte und warum ich hier bei ihnen in der Brig stehe.
Zum einen halte ich rein gar nichts von solchen Geschichten, sie mögen unterhaltsam sein, wenn man auf makaber steht aber der Wahrheitsgehalt ist eher gering und ich glaube keinem zahnlosen Seufer, dessen Geschichte immer toller wird, je mehr billigen Fusel er bekommt, zum anderen will ich mich vielleicht nur kurz mit jemandem unterhalten und sie haben meine Interesse geweckt. Die Geschichten haben nämlich einen Schwachpunkt: Meine Beobachtungen decken sich nicht mit ihnen. Sie mögen ihre Frau aus dem Affekt heraus erschlagen haben aber sie sind eindeutig kein Henker Herr Richter."