17.01.2017, 16:22
Beinahe hätte Samuel bei den Worten des jungen Mannes laut aufgelacht. Wahrscheinlich hatte der keine Ahnung, wie nahe er mit seiner offensichtlich rhetorischen Frage an der Wahrheit lag. Es waren in der Tat Geschichten, die ihn seit dem Beginn seiner Gefangenschaft auszeichneten - oder vielmehr Märchen, denn schließlich hatten sie mit der Realität wenig zu tun. Der Bärtige spürte den Blick des Fragestellers auf ihm ruhen, doch gerade, als er sich eine möglichst zynische Antwort zurechtlegen wollte, wandte dieser sich stattdessen an den Neuankömmling. Es stimmte, die anderen Insassen hatten ihn leidenschaftlich über die angeblichen Taten Samuels in Kenntnis gesetzt, was ihn zurück zu der Frage brachte, ob der Junge schlichtweg vollkommen furchtlos war oder seine Geschichte überhaupt nicht erst geglaubt hatte.
Der Angesprochene hielt es offenbar nicht für nötig, zum Besten zu geben, wie er auf dieses Schiff gelangt war. Stattdessen richtete er seinen Blick erneut auf den Fragesteller, wobei diesmal nicht einmal mehr eine unausgesprochene Herausforderung darin lag, sondern pure Gleichgültigkeit. Einer der anderen Gefangenen ließ sich stattdessen dazu hinreißen, mit einem Bericht über den Attentäter zu beginnen. Es klag in der Tat abenteuerlich - Verbindungen bis zum Königshaus, angeblicher Vatermord und wahrscheinlich eine unbekannte Zahl ausgelöschter Menschenleben. Wäre Samuel in einer anderen Situation gewesen und hätte die letzten Jahre nicht auf seinen Tod wartend in einem Gefängnis verbracht, hätte er sich wahrscheinlich vor diesem Mann gefürchtet. Die anderen Insassen schienen beinahe damit zu rechnen, dass Samuel ihnen trotz der Fesseln und Gitter jederzeit gefährlich werden könnte, auch wenn das kaum im Bereich des Möglichen war, doch wenn das soeben Gehörte über den Neuling stimmte, gab es nun jemanden in der Brig, der eine solche Gelegenheit im Gegensatz zu ihm selbst wohl sogar wahrgenommen hätte. Mit der Aussicht auf den Strick im Hinterkopf jedoch blieb nichts außer ein vages Interesse an der Vorgeschichte des Mannes, der eine Tat vollbracht hatte, über die er selbst im Gefängnis Netaras ausführlich nachgedacht hatte. Sein Vater hätte den Tod verdient gehabt - wie war es mit dem des Neuankömmlings gewesen? Und waren die Gerüchte über ihn überhaupt wahr oder verhielt es sich ähnlich wie bei ihm, waren es Übertreibungen oder gar dreiste Lügen? Von dem mutmaßlichen Attentäter zumindest würde darauf niemand so schnell eine Antwort erhalten, denn der hüllte sich weiter in Schweigen und schien den Trubel um seine Person gelassen und desinteressiert hinzunehmen.
Als der Junge auf der anderen Seite der Zelle schließlich wieder das Wort ergriff und seine Heimat erwähnte, meinte Samuel, eine leichte Gefühlsregung im Antlitz des Attentäters bemerkt zu haben, ein leichtes Zucken. Er hatte im Laufe seines Lebens zwar gelernt, die Mimik und Gestik anderer Menschen recht genau zu deuten, weil das in Verhandlungen von enormem Vorteil sein konnte, doch diese minimale Regung der Muskeln war zu wenig, um sie eindeutig einordnen zu können. Nichtsdestotrotz schien sie zu dem Interesse zu passen, das der Junge vor wenigen Minuten noch an ihm gezeigt hatte. Vielleicht stammten sie beide von Kelekuna, oder der Attentäter hatte dort bereits Aufträge erledigt? Letztendlich waren auch das Fragen, die Samuel sich nicht allein würde beantworten können, weshalb er sich wieder dem jungen Mann zuwendete, um nun doch auf seine bissige Frage zu reagieren.
"Du irrst dich. Geschichten sagen alles über einen Mann aus, denn sie definieren, wer und was er ist." Er warf Eddy und Steve einen abschätzigen Blick zu. "Nimm die beiden da drüben. Sie haben wahrscheinlich ihr ganzes Leben in der Gosse verbracht, sich mit kleineren Diebstählen über Wasser gehalten, irgendwann vielleicht sogar ein paar Raubüberfälle begangen. Keine Familie, keine Geld, keine Bildung... Man sieht ihnen ihre Geschichte förmlich an." Als nächstes streifte sein Blick den gleichgültigen Attentäter. "Er scheint eine deutlich spannendere Vergangenheit zu haben, die er jedoch leider nicht mit uns teilen will." Schließlich blieben seine Augen an dem jungen Mann hängen. Mit leicht hochgezogener Augenbraue musterte er ihn und beschloss dann, den Spieß umzudrehen. "Du kennst unsere Geschichten, aber wir nicht deine."
Er beließ es bei dieser Aussage. Explizit fragen würde er nicht, denn auch wenn er durchaus Interesse an der Vergangenheit des jungen Mannes hatte, war es sicherlich nicht ratsam, dies so unverhohlen zu zeigen.