14.01.2017, 17:20
Das Verlangen seinen Worten Taten folgen zu lassen ließ sich kaum kontrollieren. Enrique juckten förmlich die Finger. Dennoch wartete er Sir Lowells Reaktion ab.
Dieser erhob sich schwankend. Das Gesicht inzwischen kalkweiß, die Wangen gerötet, zeigte, dass er sich nur noch über Willenskraft auf den Füßen hielt, die Augen immer noch ungläubig und entsetzt aufgerissen stierte er wütend zwischen den Umstehenden hin und her.
Der Großteil der Besatzung schwankte zwischen Neutralität, Genugtuung, Amüsiertheit und offener Verachtung. Einige wanten sich bereits wieder ihrer Arbeit zu. Nur wenige schienen mit der Entscheidung ihres Offiziers unzufrieden zu sein oder es als ihre Pflicht zu erachten. Der Leutnant machte mit einer Handbewegung erneut klar, dass ihm nicht zu helfen war.
Fähnrich Peter Gaskel gehörte eindeutig zu ihnen. Das sah Enrique ihm an. Er war noch zu jung, ließ sich noch zu sehr von Titeln blenden und bemühte sich allen Höhergestellten zu gefallen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Enrique sich an Harpers Anweisungen gehalten und wahrscheinlich Lowell jeden Wunsch erfüllt. Genau das würde er dem Kapitän auch sagen.
Der würde Gaskel beipflichten und das seinem Offizier vorhalten. Immerhin ginge es hier lediglich um das Wohlbefinden eines Mörders.
Wenn interessierte es, dass Enrique das anders sah, dass damit Harpers Autorität untergraben worden wäre? Dass es Grenzen geben musste, die die Marine nicht zulassen durfte, dass sie übertreten wurden?
Der Kapitän würde vom kleineren Übel reden, von Unterstützung die wegfallen würde und und und. Außerdem würde er sich in Enriques Namen entschuldigen und Lowell zusichern, dass der Verurteilte seine gerechte Strafe erhalten würde. Dazu sah dieser alte Narr sich gezwungen.
Und die Strafe würde der Bärtige auch bekommen. Dafür würde Harper sorgen, ebenso wie dafür, dass auch Der Dunkelhäutige bestraft würde. Wie bliebe abzuwarten.
Der Leutnant betrachtete Gaskel mit verschlossener Miene. Wahrscheinlich würde er über das Anbiedern Einfluss gewinnen, mächtige Freunde würden ihm bei seiner Karriere helfen und letzten Endes würde damit eine Politische Marionette irgendwann in den höchsten Rängen der Marine sitzen. Enrique waren diese Machtspielchen zu wieder. Ebensoschnell, wie die Euphorie über ihn gekommen war, verließ sie ihn wieder. Er hatte gewonnen, aber was hatte es ihm gebracht?
Der Gefängnisvorsteher stolperte derweil zur Lücke in der Verschanzung, versuchte noch einmal den Bärtigen einzuschüchtern und machte sich ungeschickt daran hinabzusteigen. Hoffentlich würde er es ins Boot schaffen, falls nicht würden die Bootsleute ihn hoffentlich schnell aus dem Wasser ziehen oder er konnte schwimmen. Lust ihn retten zu lassen, was er andernfalls müsste, hatte der Leutnant jedenfalls nicht.
Samuels Worte fielen in die scheinbare Stille. 'Er entschuldigt sich?', fragte Enrique sich, wusste aber, dass er die Sätze gehört hatte, denn auch andere sahen überrascht zu dem Gefangenen herab. 'Was denkt er, was ich darauf antworten kann? Keine Ursache? Immerhin war es mir recht?' Jegliche Zustimmung musste als Verbrüderung gesehen werden, als Absegnung von Samuels Taten. 'Ihn beschimpfen und schlagen wie dieser Fettwanst? Dann hätte ich dem auch gleich freie Hand geben können.' Es ging ihm gegen den Strich, Dank und Entschuldigung nur weil es erwartet wurde abzuweisen. Nichts davon durchdrang die steinerne Miene, das Gesicht eben noch voller Emotionen wirkte maskenhaft, beinahe tot.
"Bringt den Mann unter Deck", befahl er hart, griff das Tintenfass und steuerte nach achtern. Bloß von Deck, bevor Lowell stürzte.
"Aye, Sir!", bellte der Unteroffizier und ließ den Verurteilten von zwei seiner Soldaten auf die Füße zerren. Hier behielt Samuel recht: Sie gaben ihm zwar nicht die Neunschwänzige zu spüren, dennoch ließen sie ihre Abscheu und Verachtung an ihm aus, bis er unsanft auf den Boden einer Zelle krachte.
***
Einige Stunden später hatte Enrique die Buchführung erledigt und so ziemlich jedes hässliche Szenario, das ihm hieraus erwachsen könnte im Kopf durchgespielt.
Hätte der Kapitän hinter ihm gestanden, so hätte er wenig zu befürchten gehabt. Immerhin hatte er Lowell nicht angegriffen auch wenn der das gänzlich anders darstellen würde. Mit Sicherheit würde er behaupten, er habe den Gefangenen absichtlich auf ihn losgehen lassen.
Immerhin konnte er bis Esmacil nur schwer auf den Leutnant verzichten, ab da stand seine Zukunft dann auf einen anderen Blatt.
Mühsam schüttelte er die Gedanken ab. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Etwas anderes ließ ihm ebenfalls keine Ruhe und wenn er dem nachgehen wollte, dann musste er das tun, bevor Harper zurück war.
Dieser Mörder verhielt sich seltsam. Er wirkte apathisch, fügte sich in Anweisungen und war alles andere als selbstgefällig oder gleichgültig anderen gegenüber. Er war nicht mal kaltblütig genug, eine Drohung in Richtung seiner Tochter einfach abblitzen zu lassen.
So jemand tötete nicht berechnend, zog Leuten die Haut ab und prahlte damit.
Er mochte vielleicht seine Frau erschlagen haben, aus einem Anflug von Zorn, er mochte sie vielleicht auch hassen, aber das was er damit zerstört hatte, war ihm immer noch wichtig: Seine Familie, Korrektur, seine Tochter.
Seinem Vater, der, wenn Enrique das richtig mitbekommen hatte, der oberste Richter Netaras war, stand er nicht wohlgesonnen gegenüber.
Und Lowell musste mit dem Richter in engem Kontakt stehen, daran gab es keinen Zweifel.
Dazu kam die gepflegte Ausdrucksweise und die Leichtigkeit, mit der er Lowells wunden Punkt traf. Der Leutnant hatte keine Ahnung, wie lange Samuel in Netara festgesessen hatte und letzteres mochte auch darauf basieren, dass sie sich länger kannten, doch diese Überlegungen stellte ihn nicht zufrieden. Dieser Mann war nicht dumm. Er hatte Bildung genossen und sozialen Umgang gelernt. Das passte nicht in das Bild, was die Geschichten über ihn inszenierten.
Gegen diese Überlegung sprach das Leuchten in den Augen des Gefangenen als er Sir Lowell drohte und bespuckte. Im Gegensatz zum Einschüchtern der Mannschaft schien das nicht nur Mittel zum Zweck gewesen zu sein. Lag dieser Hass einfach nur dicht unter der Oberfläche verborgen? Richtete er sich nur gegen Lowell oder auch gegen Andere? Hätte er weiter gemacht, hätten sie ihn gelassen? Warum sollte ein Familienvater das tun? Fragen über Fragen. Und die Antworten? Er hatte da so ein paar Theorien...
Der Bärtige saß alleine in einer Zelle, die anderen Gefangenen hatten sich in ihren soweit als möglich von ihm zurückgezogen, spätestens als einer der anderen von Netara, die vor Samuel verladen worden waren, ihnen erzählt hatte, wer da frisch unter ihnen gelandet war.
Es war eine geraume Weile vergangen und trotzdem hatte man ihm keine Bestrafung angedeihen lassen. Es gab nicht mal Anzeichen dafür, dass sein Handeln wirklich Folgen haben sollte. Abgesehen von der rauhen Behandlung und einigen leeren Drohungen war ihm nichts passiert. Die Sache, dass er später die Peitsche zu spüren bekommen sollte war noch am glaubhaftesten, aber warum ließen sie sich so viel Zeit?
Schritte knarzten die schmale Stiege zum Gefangenendeck herunter. Der wachhabende Marinesoldat schnellte auf die Füße, wechselte einige Worte mit dem Anderen und salutierte überrascht. Dann verschwand er nach oben und ließ Enrique allein zurück, der kurz darauf in das Licht der Bordlampe trat und die Zellen abzusuchen schien. Langsam schritt er den Gang hinunter bis er vor Samuel stehen blieb und ihn lange überlegend betrachtete.
"Eigentlich müsste ich mich bei ihnen bedanken", sprach er so leise, dass sogar Samuel sich anstrengen musste ihn zu verstehen.