12.01.2017, 13:34
Der erste Schlüssel war es nicht. Auch der zweite weigerte sich, ins Schloss zu passen. Der dritte schließlich ließ sich drehen. Mit einem vernehmbaren Klick schoss der Bolzen zurück und der Riegel öffnete sich. Mit einem sanftes Schubser schwang die schwere Tür nach innen auf und gab den Blick auf ein repräsentativ eingerichtetes Büro frei. Mitten in der Mitte des Raums befand sich ein riesiger Schreibtisch, über und über mit Papieren, Büchern, Schriftrollen beladen. Die beiden säulenähnlichen Beine, auf denen er stand, verrieten bereits vom Standort der drei Piraten aus, dass auch sie Schubladen um Schubladen wertvoller Informationen enthielten.Ein Hauch von Unschuld ...
Die Wände waren gesäumt mit Kommoden, Regalen voller Bücher, Ordner, Papierstapel, Schreibfedern und Tintenfässchen, Waagen und Gewichte aus Messing oder Zinn, Rechengeräte, Wachstafeln, Kartenmaterialien, und und und. In einer Ecke des Raumes, direkt unter dem Fenster, stand ein riesiger Globus in einem Rahmen aus dunklem Holz.
Durch die Fensterwand ihnen direkt gegenüber fiel spärliches Mondlicht und an der Wand zu ihrer Rechten stand eine weitere Tür sperrangelweit offen. Was wohl auch erklärte, woher der Junge kam, der direkt neben dem Schreibtisch stand. Er mochte kaum zehn Jahre alt sein, dunkle Haut und noch dunklere, vor Angst geweitete Augen. Mit nicht mehr als einem Nachtgewand bekleidet, dass ihm bis zu den Knöcheln reichte, zitterte er am ganzen Leib. Doch nicht vor Kälte, sondern vielmehr vor Angst. Neben ihm, auf dem Schreibtisch, stand eine entzündete Laterne, die ihr flackerndes Licht auf die Pistole warf, die der Junge in der Hand hielt. Direkt auf die drei Piraten in der Tür gerichtet.
Angesichts des Höllenlärms, den sie veranstaltet hatten, um in das Büro einzudringen, war es ja kein Wunder, dass sie den Jungen aus dem Schlaf gerissen hatten. Sein Herr, der Hafenmeister, war ja nicht zugegen – hatte sich vielleicht irgendwo auf dem Hafengelände das Hirn weg gesoffen – und nun stand nur er hier, seit einer geschlagenen Ewigkeit, in der der Kampfeslärm vom Flur herein drang. Er stand hier und fürchtete um sein viel zu kurzes Leben.
Ein Schuss knallte durch den dunklen Raum. Ob nun in der festen Absicht, die drei zu vertreiben, oder einfach weil sein Zittern den Abzug betätigt hatte, die stets geladene Pistole seines Herrn ging los. Und während der Rückschlag den jungen Körper fast zu Boden riss, sauste das tödliche Projektil quer durch den Raum. Es traf den, der die Tür geöffnet und ihm damit am nächsten gestanden hatte. Den, der noch die Schlüssel in der Hand hielt: Liam.
Die Bleikugel zerriss den Stoff seines Hemdes auf Taillenhöhe, grub eine tiefe Furche in Haut und Fleisch und knallte Augenblicke später, von dem Streifschuss kaum in ihrer Flugbahn beeinträchtigt, auf der gegenüber liegenden Flurseite in die Gebäudewand. Putz bröckelte zu Boden.
Polternd fiel dem Jungen die Pistole aus der Hand. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, was er da getan hatte. In seinem Kopf bildete sich nur ein einziger Gedanke. Er war dem Tod geweiht. Vor Panik noch immer vollkommen stumm wich er zurück, stolperte dabei über seine eigenen Beine, verhedderte sich in seinem Leinengewand und landete mit einem leisen Rumps auf seinem Hintern.