04.01.2017, 18:08
Im Grunde stellte sich Lucien nach seinen Worten bereits darauf ein, den Rest der Reise wieder in Schweigen gehüllt hinter sich zu bringen. Warum auch nicht? Weder interessierte er sich sonderlich für seine Mitgefangenen, noch hatte die irgendetwas an ihm zu interessieren. Aber er hätte es bedauert. Zwar spürte er etliche Blicke auf sich und seinen Zellengenossen, doch die meisten wagten es nach der scharfen Maßregelung ihres bärtigen Freundes nicht, auch nur ein Wort der Einmischung von sich zu geben. Und so hätte er auch nichts mehr gehabt, auf das er seine Gedanken lenken konnte, wenn der Bärtige in diesem Moment nicht wieder das Wort ergriffen hätte. Nicht, wie zuvor, an die bibbernden Nachbarjungs gerichtet, sondern als Reaktion auf Luciens zugegeben genau darauf abzielenden Kommentare.
Das zynische Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück und einen Herzschlag später richteten sich die grünen Augen erneut auf seinen Zellengenossen. Der Mann sah ihn nicht direkt an, schien eher ganz versunken in die Betrachtung eines besonders interessanten Fleckchens Bodenplanken. Doch der Jüngere kam im Leben nicht auf den Gedanken, er weiche aus Unsicherheit oder gar Furcht dem direkten Blickkontakt aus. Er machte eher den Eindruck, als wollte er schlicht und ergreifend seine Ruhe haben. Warum dann das Risiko eingehen, seinen Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln?
Doch bevor er auch nur dazu ansetzte, ihm zu antworten, wagte es ein weiterer Gefangener, sich stotternd in ihre muntere Runde einzumischen und damit unwillkürlich seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Allerdings nur kurz, ehe Lucien dessen ausgestrecktem Finger mit den Augen folgte und wieder bei dem Neuankömmling landete. Scheinbar verlangte das Schicksal von ihm, sich nun doch ernsthaft mit dem Kerl auseinander zu setzen.
Ein Attentäter – nein, der Attentäter! Scheinbar kannten sich die beiden. Zumindest der eine den anderen. Ob das auf Gegenseitigkeit beruhte, ließ sich anhand des Blickes, den besagter Attentäter seinem Bewunderer zuwarf, kaum deuten. Nichts. Geradezu gelangweilt. Desinteressiert. Der Sprecher wich vor Angst ein paar Schritte zurück, was Lucien prompt ein leises Lachen entlockte. Feigling. Was hatte er zu verlieren? Was sollte passieren? Dass ihn sein Attentäter mit einem Bündel nassen Strohs bewarf? Aber das war sie wohl, die Wirkung von Geschichten. Hübsch ausstaffiert von tausend Mündern, die sie weiter erzählten, die Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Genau das war der Grund, weshalb er auf Geschichten nicht viel gab.
Die grünen Augen kehrten zu dem Bärtigen zurück und eine leise Herausforderung blitzte in ihnen auf.
„Geschichten. Ist das also alles, was hinter einem Mann wie dir steckt? Oder ihm?“ Er nickte in die Richtung des Attentäters, mit dem er sich gerade noch ein Blickduell geliefert hatte. Er schwieg einen Moment das trockene Lächeln umspielte wieder eine Lippen. „Geschichten sagen nichts über einen Mann aus... Aber gut, vielleicht hast du Recht. Und ich habe gerade nichts besseres zu tun, also... Deine Geschichte kenne ich schon. Seine noch nicht.“ Mit diesen Worten richtete er den Blick auf den Attentäter. „Will mir die nicht auch noch jemand erzählen? Du vielleicht?“
Eigentlich rechnete er nicht mit einer Antwort. Jedenfalls nicht von dem, den er angesprochen hatte. In der ganzen Zeit, die er nun schon hier saß, hatte ihr Neuzugang noch kein einziges Wort gesagt. Warum sollte er sein Schweigen jetzt plötzlich brechen? Und tatsächlich kam die Antwort von demjenigen, der ihn am Beginn seines Aufenthalts hier schon vor dem Bärtigen gewarnt und ihm dann zwangsweise all die Geschichten aufgetischt hatte, die ihn umrankten.
„Kennst du denn den Attentäter nicht, Bursche? Jeder kennt ihn!“
Er maß Lucien mit einem Blick, der eindeutig sein Beileid ausdrücken sollte. Wahrscheinlich, weil er das 'Pech' hatte, gerade mit diesen beiden Männern in einer Zelle zu landen. Der 21-Jährige unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen und ihn darauf hin zu weisen, dass er ja andernfalls nicht gefragt hätte. Statt dessen stieß er gleichgültig die Luft aus.
„Auf Kelekuna haben wir andere Sorgen, als irgendwelche Attentäter.“